Perspektive

Von den USA erzwungene Wiedereröffnung führt zu Todeswelle in Lateinamerika

Am Montag erreichte die offizielle Zahl der Corona-Toten in Lateinamerika einen düsteren Meilenstein und übertraf die Gesamtzahl der Toten in Nordamerika. Mehr als 145.000 sind gestorben, und über 3,5 Millionen wurden positiv getestet. Nach Jahrhunderten kolonialer und imperialistischer Ausbeutung herrschen Massenarmut und Ungleichheit in ganz Lateinamerika und machen die Länder besonders anfällig für die Übertragung des Virus.

Vier der sieben Länder mit den weltweit höchsten positiven Fällen befinden sich jetzt in Lateinamerika, wo die unterfinanzierten öffentlichen Gesundheitssysteme unter der Last zusammenbrechen.

Brasilien liegt mit über 1,9 Millionen Corona-Fällen an zweiter Stelle hinter den USA. Peru, Chile und Mexiko liegen mit jeweils über 300.000 positiven Fällen an fünfter, sechster und siebter Stelle. Diese Zahlen unterschätzen die Ausbreitung des Virus drastisch, weil viel zu wenig getestet wird. Während Italien und die USA derzeit mehr als 100 Tests pro 1.000 Personen durchführen, gibt es in Mexiko nur fünf, in Brasilien sieben und in Peru neun Tests pro 1.000 Personen.

Soldaten patrouillieren in Ciudad Bolivar, einem Stadtviertel mit vielen Corona-Fällen in Bogota, Kolumbien, 13. Juli 2020. (AP Photo/Fernando Vergara)

Während Krankenhäuser überfüllt sind und Leichen ausgegraben werden müssen, um auf Friedhöfen Platz für Corona-Tote zu schaffen, bemühen sich alle Regierungen und Parteien in Lateinamerika um die Wiedereröffnung ihrer Wirtschaft. Sie sind bereit, unzählige Menschenleben für den Profit der Unternehmen zu opfern.

In Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro auf die Zahl der Todesopfer mit dem Ausruf „Na und?“ reagierte, haben Konzerne landesweit mit der Wiedereröffnung begonnen. Millionen Beschäftigte werden zur Rückkehr an die Arbeit gezwungen. „Gouverneure und Bürgermeister schicken die Bevölkerung auf die Schlachtbank, weil sie den Anspruch auf einen Wirtschaftsaufschwung für sich reklamieren“, erklärte ein brasilianischer Gesundheitsexperte gegenüber CNN.

In Mexiko haben die Autowerke und ausbeuterischen Maquiladora-Zulieferer, die vor allem für den Export in die USA produzieren, ihren Betrieb wieder aufgenommen. Präsident Andrés Manuel López Obrador rief seine Bevölkerung auf, zur Arbeit zu gehen, „sich frei zu fühlen“ und „den Himmel, die Sonne und die frische Luft zu genießen“. Der angeblich linke López Obrador folgt der Politik von Bolsonaro und hat angekündigt, diese Woche weitere Beschränkungen aufzuheben. Er hat den Mexikanern sogar erklärt, dass sie das Virus durch den Verzehr von Mais – den er „diese gesegnete Pflanze“ nennt – abwehren könnten.

In Nicaragua hat die von dem Sandinisten Daniel Ortega geführte Regierung die Existenz des Virus im Wesentlichen geleugnet. In Honduras versucht der von den USA unterstützte Präsident Juan Orlando Hernandez, der selbst positiv getestet wurde, genau wie Bolsonaro seine eigene Krankheit zu nutzen, um das Virus herunterzuspielen. Er zwang Maquiladora-Betriebe, offen zu bleiben. Hier sterben Hunderte honduranische Arbeiter, um Kleidung und Schuhe für den Export in die USA herzustellen.

Ligia Ramos, eine Direktorin der Medizinischen Hochschule von Honduras, twitterte:

„Wenn wir die Maquiladoras nicht schließen, werden wir die Krankenhäuser schließen müssen. Es macht keinen Sinn, jede Woche um einen Freund, einen Mitarbeiter zu weinen. Schließen Sie die verdammten Maquiladoras, um Himmels Willen. Wenn sie mit den Maquiladoras weitermachen, wenn sie weiterhin Geld mit dem Leid der Menschen verdienen, werden wir die Krankheit nicht aufhalten können.“

In den Nachbarländern Guatemala und El Salvador hat sich das Virus auch über Menschen verbreitet, die aus den USA deportiert wurden und von denen US-Beamte wussten, dass sie Covid-19 positiv waren.

Von Tijuana bis Kap Hoorn wütet das Coronavirus besonders in verarmten Gegenden – von indigenen Stämmen im Amazonas-Regenwald bis hin zu dicht besiedelten Megastädten wie Mexiko-Stadt, Lima und Rio de Janeiro.

Doch während sich die Pandemie ausbreitet, zwingen die herrschenden Klassen Lateinamerikas Millionen Menschen, wieder für den US-Imperialismus zu schuften. Die herrschende Elite in den USA fordert, dass die lateinamerikanischen Lieferketten wieder anlaufen, damit sie ihre eigene „Back-to-Work“-Kampagne vorantreiben kann.

Der Großteil Lateinamerikas war erst im März von einer verstärkten Corona-Ausbreitung in der Bevölkerung betroffen. Mexiko und Honduras meldeten ihre ersten Corona-Todesfälle sogar erst am 26. März, Brasilien am 19. März und Chile am 21. März. Der erste gemeldete Todesfall in Peru wurde am 1. April registriert. Die Produktion, die größtenteils für den Export in die USA bestimmt ist, wurde zu dieser Zeit in der gesamten Region fortgesetzt.

Im April jedoch, als die Zahl der Todesopfer zu steigen begann, breiteten sich Arbeiterstreiks und -proteste in Lateinamerika aus, vor allem in Mexiko und Brasilien. Mitte April, als Arbeiter unsichere Bedingungen in den Maquiladoras im Norden Mexikos anprangerten, kündigte Trump an: „Ich habe gestern mit dem Präsidenten von Mexiko gesprochen. ... Wenn eine Lieferkette mit Basis in Mexiko oder Kanada unsere Herstellung eines großen oder wichtigen Produkts oder sogar eines militärischen Produkts unterbricht, werden wir uns nicht freuen, das kann ich Ihnen sagen.“

In der Folge stieg in ganz Amerika die Zahl der Todesopfer, doch die Produktion ging weiter. Die Märkte erholten sich dank der Wiederaufnahme der Produktion, der milliardenschweren Unternehmensrettung im Rahmen des CARES-Gesetzes und der endlosen Finanzspritzen, die die US-Notenbank Federal Reserve zusichert.

Jetzt ist die Back-to-Work-Kampagne in den USA in vollem Gange. Covid-19-Ausbrüche haben zahllose Betriebe in Nordamerika in Todesfallen verwandelt, darunter Autofabriken, Fleischindustrie, Landwirtschaftsbetriebe und Lagerhäuser. Während die US-Arbeiter zurück in die Betriebe gezwungen werden, verlangt die Wall Street, dass Lateinamerika die Produktion beschleunigt.

Das war der Grund hinter Trumps Treffen mit dem mexikanischen Präsidenten López Obrador in der vergangenen Woche in Washington. Unternehmensführer beider Länder drängten auf ein Ende aller noch bestehenden Arbeitseinschränkungen. Christopher Landau, US-Botschafter in Mexiko, erklärte nach dem Abendessen vor dem Thinktank Atlantic Council, er habe „mit einem führenden Vertreter der Ford Motor Company“ über eine weitere Beschleunigung der Produktion in Mexiko gesprochen. „Sie sagten, dass sie ab nächster Woche damit beginnen müssen, ihre Betriebe in den Vereinigten Staaten zu schließen, wenn nicht wieder alles in Gang gebracht wird.“

In den internationalen Lieferketten von Unternehmen wie Ford, GM und Fiat-Chrysler sind die bolivianischen und chilenischen Bergwerke, die zentralamerikanischen und mexikanischen Zulieferer und die Montagewerke in den USA, Argentinien, Brasilien und Kanada miteinander verbunden. Diese Konzerne haben von der Kampagne zurück an den Arbeitsplatz in den einzelnen Ländern immens profitiert.

Während der Kampagne stieg die Ford-Aktie von 4,01 Dollar pro Aktie am 23. März auf 6,30 Dollar am Dienstag, ein Anstieg von 57 Prozent. Der GM-Kurs kletterte von 16,80 Dollar am 18. März auf 25,32 Dollar, ein Anstieg von 51 Prozent. Die Aktien von Fiat Chrysler wurden am 20. März für 6,35 Dollar verkauft und stiegen auf 10,23 Dollar, was einer Zunahme von 61 Prozent entspricht.

Unterdessen berichten die Vereinten Nationen, dass sich die Zahl der Menschen in Lateinamerika, die Soforthilfe bei der Lebensmittelversorgung benötigen, in nur vier Monaten verdreifacht hat. Laut Weltbank sind in Lateinamerika in diesem Jahr 50 Millionen Menschen direkt von Armut bedroht, womit sich die Gesamtzahl auf 230 Millionen erhöht.

Die Zahl der Menschen, die von extremer Armut betroffen sind, wird sich infolge des Virus von 4,5 Prozent auf 15,5 Prozent oder insgesamt 96 Millionen verdreifachen. Millionen von ihnen haben kein sauberes Wasser zum Händewaschen.

In den dicht besiedelten Arbeitervierteln der peruanischen Hauptstadt Lima, wo sich das Virus rasant ausbreitet, ist die durchschnittliche Arbeitszeit um 80 Prozent gesunken, was Massen von Arbeitern in die Armut treibt. In diesem Jahr wird es in der gesamten Region 44 Millionen Arbeitslose geben. Immer mehr Medien berichten von einer Zunahme der Prostitution.

Aber auch in den Vereinigten Staaten gibt es frohe Botschaften für das korporative Amerika und die geostrategischen Interessen des US-Imperialismus.

Massenarbeitslosigkeit und hohe Krankenstände werden die Löhne massiv nach unten drücken. Das Finanzunternehmen S&P Global berichtete diesen Monat: „Wenn überhaupt, dann könnte eine Wirtschaftskrise in Lateinamerika in Verbindung mit der Abwertung der Währungen und reduzierten relativen Lohnkosten dazu führen, dass die Hersteller eher in Lateinamerika expandieren als nach Asien zu gehen.“ Das wird nicht nur den Saldo der amerikanischen Unternehmen verbessern, sondern auch dem US-Imperialismus helfen, seinen geostrategischen Rivalen China ins Abseits zu stellen.

Arbeiter in ganz Amerika müssen gemeinsam handeln und sich im Kampf für sichere Arbeitsbedingungen und gegen die von den USA erzwungene Rückkehr zur Arbeit vereinen. Es geht um Leben und Tod von Millionen Menschen.

Überall sehnt sich die Bevölkerung nach einer radikalen Umgestaltung der Weltwirtschaft – das haben die Massenproteste gezeigt, die 2019 ganz Amerika erfassten. Aber notwendig ist eine sozialistische Perspektive. Wir rufen unsere Leser in ganz Lateinamerika auf, sich noch heute mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale in Verbindung zu setzen.

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