Am Samstag, den 3. April, veranstaltet die WSWS ein internationales Online-Meeting zum 150. Jahrestag der Pariser Kommune. Hier kann man sich registrieren. Im Vorfeld der Veranstaltung veröffentlichen wir eine Reihe klassischer Werke großer Marxisten des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Bedeutung und Lehren der Kommune analysieren.
Dieser Aufsatz von Wladimir Lenin wurde im April 1911, zum 40. Jahrestag der Pariser Kommune, in der russischsprachigen Zeitung "Rabotschaja Gaseta" veröffentlicht.
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Vierzig Jahre sind seit der Proklamierung der Pariser Kommune vergangen. In traditioneller Weise hat das französische Proletariat durch Kundgebungen und Demonstrationen das Andenken an die Männer der Revolution des 18. März 1871 geehrt; Ende Mai wird es wieder Kränze zu den Gräbern der erschossenen Kommunarden, der Opfer der grauenvollen „Maiwoche“, tragen und an ihren Gräbern erneut den Schwur leisten, ohne Ruh und Rast zu kämpfen bis zum vollkommenen Triumph ihrer Ideen, bis zur vollständigen Erfüllung ihres Vermächtnisses.
Warum ehrt eigentlich das Proletariat, nicht nur das französische, sondern das der ganzen Welt, in den Männern der Pariser Kommune seine Vorläufer? Und worin besteht das Vermächtnis der Kommune?
Die Kommune entstand spontan; niemand hatte sie bewusst und planmäßig vorbereitet. Die Niederlage im Krieg gegen Deutschland; die Leiden während der Belagerung; die Arbeitslosigkeit unter dem Proletariat und der Ruin des Kleinbürgertums; die Empörung der Massen über die oberen Klassen und über die Behörden, die ihre völlige Unfähigkeit erwiesen hatten; das dumpfe Gären in den Reihen der Arbeiterklasse, die mit ihrer Lage unzufrieden war und eine andere soziale Ordnung anstrebte; die reaktionäre Zusammensetzung der Nationalversammlung, die für das Schicksal der Republik fürchten ließ – all das und noch vieles andere traf zusammen, um die Pariser Bevölkerung zur Revolution des 18. März anzuspornen, die die Macht unerwartet in die Hände der Nationalgarde legte, in die Hände der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums, das sich der Arbeiterklasse angeschlossen hatte.
Das war ein in der Geschichte noch nie dagewesenes Ereignis. Bis dahin hatte die Macht gewöhnlich in den Händen der Gutsbesitzer und Kapitalisten gelegen, d. h. in den Händen ihrer Vertrauensleute, die die sogenannte Regierung bildeten. Nach der Revolution des 18. März aber, als die Regierung des Herrn Thiers mit ihren Truppen, ihrer Polizei und ihren Beamten aus Paris geflüchtet war, blieb das Volk Herr der Lage, und die Macht ging an das Proletariat über. Aber in der modernen Gesellschaft kann das vom Kapital ökonomisch unterjochte Proletariat nicht politisch herrschen, ohne die Ketten zerbrochen zu haben, die es an das Kapital schmieden. Darum eben musste die Bewegung der Kommune unweigerlich sozialistische Färbung annehmen, das heißt, sie musste beginnen, danach zu streben, die Herrschaft der Bourgeoisie, die Herrschaft des Kapitals zu stürzen, die Grundlagen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung zu vernichten.
Zunächst war diese Bewegung überaus buntscheckig und unbestimmt. Ihr schlossen sich auch Patrioten an in der Hoffnung, dass die Kommune den Krieg gegen die Deutschen wiederaufnehmen und zu einem glücklichen Ende führen werde. Sie fand die Unterstützung der Kleinhändler, denen der Ruin drohte, falls die Einlösung der Wechsel und die Bezahlung der Wohnungsmiete nicht gestundet werden (diese Stundung wollte ihnen die Regierung nicht gewähren, die Kommune dagegen gewährte sie). Schließlich sympathisierten mit ihr in der ersten Zeit zum Teil auch die bürgerlichen Republikaner, die befürchteten, dass die reaktionäre Nationalversammlung (die „Krautjunker“, die ungehobelten Gutsbesitzer) die Monarchie wiederherstellen würde. Doch die Hauptrolle spielten in dieser Bewegung natürlich die Arbeiter (insbesondere die Pariser Handwerker), unter denen in den letzten Jahren des Zweiten Kaiserreichs eine wirksame sozialistische Propaganda betrieben worden war und von denen viele sogar der Internationale angehörten.
Nur die Arbeiter blieben der Kommune bis zum Ende treu. Die bürgerlichen Republikaner und die Kleinbürger fielen bald von ihr ab: Die einen wurden abgeschreckt durch den revolutionär-sozialistischen, proletarischen Charakter der Bewegung; die anderen zogen sich zurück, als sie sahen, dass die Bewegung zu einer unabwendbaren Niederlage verurteilt war. Nur die französischen Proletarier unterstützten furchtlos und unermüdlich ihre Regierung, nur sie kämpften und starben für sie, das heißt für die Befreiung der Arbeiterklasse, für eine bessere Zukunft aller Werktätigen.
Die Kommune, von ihren gestrigen Verbündeten im Stich gelassen und von niemand unterstützt, musste unvermeidlich eine Niederlage erleiden. Die gesamte Bourgeoisie Frankreichs, alle Gutsbesitzer, Börsenjobber, Fabrikanten, alle großen und kleinen Diebe, alle Ausbeuter hatten sich gegen sie verbündet. Dieser bürgerlichen Koalition, die von Bismarck unterstützt wurde (der zur Niederwerfung des revolutionären Paris 100.000 französische Soldaten aus deutscher Gefangenschaft entließ), gelang es, die unaufgeklärten Bauern und Kleinbürger der Provinz gegen das Pariser Proletariat aufzuputschen und die eine Hälfte von Paris mit einem eisernen Ring zu umklammern (die andere Hälfte war von der deutschen Armee belagert). In einigen Großstädten Frankreichs (Marseille, Lyon, St. Etienne, Dijon und anderen) unternahmen die Arbeiter gleichfalls Versuche, die Macht zu ergreifen, die Kommune zu proklamieren und Paris zu Hilfe zu eilen, aber diese Versuche scheiterten rasch. So blieb Paris, das zuerst das Banner des proletarischen Aufstands erhoben hatte, sich selbst überlassen und war dem sicheren Untergang geweiht.
Zur siegreichen sozialen Revolution bedarf es mindestens zweier Vorbedingungen: Die Entwicklung der Produktivkräfte muss eine hohe Stufe erreicht haben, und das Proletariat muss vorbereitet sein. 1871 fehlten jedoch diese beiden Vorbedingungen. Der französische Kapitalismus war noch wenig entwickelt, und Frankreich war damals ein überwiegend kleinbürgerliches Land (ein Land der Handwerker, Bauern, Kleinhändler u. a. m.). Anderseits war keine Arbeiterpartei vorhanden, es fehlte die Vorbereitung und lange Schulung der Arbeiterklasse, die in ihrer Masse noch nicht einmal eine völlig klare Vorstellung von ihren Aufgaben und den Methoden zu ihrer Lösung hatte. Es gab weder eine ernsthafte politische Organisation des Proletariats noch umfassende Gewerkschaften und Genossenschaften ...
Was aber der Kommune vor allem fehlte, war die Zeit, sich ungehindert auf sich selbst zu besinnen und an die Verwirklichung ihres Programms zu gehen. Kaum hatte sich die Kommune ans Werk gemacht, als die in Versailles sitzende Regierung, von der gesamten Bourgeoisie unterstützt, die militärischen Operationen gegen Paris eröffnete. Und die Kommune musste in erster Linie an die Selbstverteidigung denken. Bis zu ihrem Ende, am 21.–28. Mai, hatte sie nicht die Zeit, ernstlich an etwas anderes zu denken.
Übrigens vermochte die Kommune, trotz der so ungünstigen Umstände, trotz der Kürze ihres Bestehens, einige Maßnahmen zu treffen, die ihren wahren Sinn und ihre Ziele zur Genüge charakterisieren. Die Kommune ersetzte das stehende Heer, dieses blind wirkende Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen, durch die allgemeine Bewaffnung des Volkes; sie proklamierte die Trennung von Kirche und Staat; sie strich den Etat für Kultuszwecke (d. h. die staatlichen Gehälter der Pfaffen); sie verlieh der Volksbildung einen rein weltlichen Charakter und versetzte dadurch den Gendarmen im Priesterrock einen empfindlichen Schlag. Auf rein sozialem Gebiet konnte die Kommune aus Zeitmangel nur wenig tun, aber auch dieses wenige offenbart mit genügender Klarheit ihren Charakter als Volks-, als Arbeiterregierung: Die Nachtarbeit in den Bäckereien wurde verboten; das System der Geldstrafen, diese legalisierte Ausplünderung der Arbeiterschaft, wurde aufgehoben; schließlich wurde das berühmte Dekret erlassen, nach dem alle Fabriken, Betriebe und Werkstätten, die von ihren Besitzern verlassen oder stillgelegt worden waren, an Arbeitergenossenschaften zur Wiederaufnahme der Produktion übergeben wurden. Und gleichsam um ihren Charakter als wahrhaft demokratische, proletarische Regierung zu betonen, setzte die Kommune fest, dass die Gehälter aller Verwaltungs- und Regierungsbeamten den normalen Arbeiterlohn nicht überschreiten und unter keinen Umständen höher als 6000 Francs im Jahr (weniger als 200 Rubel im Monat) sein dürfen.
Alle diese Maßnahmen zeugten deutlich genug davon, dass die Kommune eine tödliche Bedrohung für die alte, auf Knechtung und Ausbeutung beruhende Welt war. Darum konnte die bürgerliche Gesellschaft nicht ruhig schlafen, solange auf dem Pariser Rathaus die rote Fahne des Proletariats wehte. Und als es endlich der organisierten Regierungsgewalt gelungen war, über die schlecht organisierte Macht der Revolution die Oberhand zu gewinnen, da veranstalteten die von den Deutschen geschlagenen bonapartistischen Generale, die nur gegen ihre besiegten Landsleute mutig waren, diese französischen Rennenkampffs und Möller-Sakomelskis, ein Gemetzel, wie es Paris noch nie gesehen hatte. Etwa 30.000 Pariser wurden von der vertierten Soldateska ermordet, rund 45.000 wurden verhaftet und viele von ihnen in der Folge hingerichtet, Tausende wurden zu Zuchthaus und Verbannung verurteilt. Paris verlor insgesamt etwa 100.000 seiner Söhne, darunter die besten Arbeiter aus allen Berufen.
Die Bourgeoisie war zufrieden. „Jetzt ist es mit dem Sozialismus für lange Zeit aus!“ erklärte ihr Führer, der blutgierige Zwerg Thiers, nach dem Blutbad, das er mit seinen Generalen dem Pariser Proletariat bereitet hatte. Doch diese bürgerlichen Unkenrufe waren vergebens. Kaum sechs Jahre nach Niederschlagung der Kommune, als noch viele ihrer Kämpfer im Zuchthaus und in der Verbannung schmachteten, setzte in Frankreich schon eine neue Arbeiterbewegung ein. Eine neue sozialistische Generation, bereichert durch die Erfahrungen ihrer Vorgänger, doch keineswegs entmutigt durch deren Niederlage, ergriff das Banner, das den Händen der Kommunekämpfer entglitten war, und trug es zuversichtlich und mutig voran unter den Rufen: „Es lebe die soziale Revolution! Es lebe die Kommune!“ Und wieder ein paar Jahre später zwang die neue Arbeiterpartei und die von ihr im Lande entfachte Agitation die herrschenden Klassen, die noch in den Händen der Regierung verbliebenen gefangenen Kommunarden auf freien Fuß zu setzen.
Das Andenken an die Kommunekämpfer wird nicht nur von den französischen Arbeitern, sondern auch vom Proletariat der ganzen Welt in Ehren gehalten. Denn die Kommune kämpfte nicht für irgendeine lokale oder eng nationale Aufgabe, sondern für die Befreiung der gesamten werktätigen Menschheit; aller Erniedrigten und Verachteten. Als Vorkämpfer der sozialen Revolution gewann die Kommune Sympathien überall dort, wo das Proletariat leidet und kämpft. Das Bild ihres Lebens und Sterbens, der Anblick einer Arbeiterregierung, die von einer Metropole der Welt Besitz ergriffen und sie länger als zwei Monate in Händen gehalten hatte, das Schauspiel des heldenmütigen Kampfes des Proletariats und seiner Leiden nach der Niederlage – das alles hob den Mut von Millionen Arbeitern, erweckte ihre Hoffnungen und wandte ihre Sympathien dem Sozialismus zu. Der Donner der Pariser Kanonen hat die rückständigsten Schichten des Proletariats aus ihrem tiefen Schlaf geweckt und überall den Anstoß für eine Intensivierung der revolutionär-sozialistischen Propaganda gegeben. Darum eben ist die Sache der Kommune nicht tot; sie lebt bis auf den heutigen Tag in jedem von uns.
Die Sache der Kommune – das ist die Sache der sozialen Revolution, die Sache der völligen politischen und wirtschaftlichen Befreiung der Werktätigen, die Sache des Weltproletariats. Und in diesem Sinne ist sie unsterblich.
Zuerst veröffentlicht in: Rabotschaja Gaseta,Nr. 4/5, Paris, 15. April 1911; in deutscher Sprache in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 17, Berlin 1978, S. 122–126.