Anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion zeigt das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst eine kleine, aber bedeutsame Open-Air-Ausstellung. „Dimensionen eines Verbrechens“, so der Titel, behandelt das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen im Zweiten Weltkrieg. Aufgrund des großen Besucherinteresses wird sie jetzt über den ursprünglichen Termin 3. Oktober hinaus bis zum 16. Januar 2022 verlängert.
Mindestens 27 Millionen Sowjetbürger haben in diesem Krieg ihr Leben verloren, nach neueren Untersuchungen in Russland sogar 37 Millionen. Dazu gehören 2,6 Millionen der im Holocaust ermordeten 6 Millionen Juden. Und dazu gehören auch über 3 Millionen von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen. Bis heute wird kaum an sie erinnert.
Lange wurde nach dem Zweiten Weltkrieg den Verbrechen von SS und Gestapo die „saubere Wehrmacht“ gegenübergestellt. Erst die Wehrmachtsausstellungen von 1995 und 2001 widerlegten dieses Märchen und zeigten, wie sich die Militärführung, viele Kommandeure und Truppenteile an Massenhinrichtungen und anderen Verbrechen beteiligt hatten. Dies löste damals einen Aufschrei in rechten und Militärkreisen aus.
In der kleinen Wanderausstellung am Ort der Kapitulation Nazi-Deutschlands wird nun ein besonders dunkles Kapitel der Wehrmacht beleuchtet. Sie zeigt, wie die Heeresleitung, in Absprache mit der NS-Führung, eine beispiellos barbarische Sonderbehandlung von sowjetischen Kriegsgefangenen geplant und durchgesetzt hat. Anders als Kriegsgefangene aus westlichen Ländern ließ sie Rotarmisten von Anfang an massenhaft erschießen, verhungern, elend an Seuchen zugrunde gehen.
Das Völkerrecht nach dem Genfer Abkommen von 1929, das humanitäre Regeln für Kriegsgefangene hinsichtlich Unterbringung, Verpflegung und medizinischer Versorgung festgelegt hatte und vom Deutschen Reich 1934 unterschrieben worden war, wurde durch das OKW (Oberkommando der Wehrmacht) für sowjetische Soldaten außer Kraft gesetzt.
Die Ausstellung fällt in eine Zeit, in der alle etablierten Parteien nach Aufrüstung und einem aggressiven Auftreten Deutschlands als unabhängige militärische Großmacht rufen. Die politische Brisanz, die ihr in dieser Situation zukommt, wird auch durch die Anwesenheit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnungsveranstaltung unterstrichen. Er hielt eine lange, pathetische Rede, in der er den Krieg gegen die Sowjetunion als „monströsen, verbrecherischen Angriffs- und Vernichtungskrieg“ bezeichnete und Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner im „Geist von Helsinki“ forderte.
Was er nicht sagte, ist die Tatsache, dass er selbst als ehemaliger Außenminister der Großen Koalition ab 2013 die außenpolitische Wende und die Wiederkehr des deutschen Militarismus und der Großmachtpolitik eingeleitet hat. Damit sind auch alle Gespenster der Vergangenheit zurückgekehrt, wie die rechtsradikalen Umtriebe in der Bundeswehr belegen.
Der kleine Garten vor dem „Kapitulationsmuseum“, wie das Deutsch-Russische Museum landläufig immer noch genannt wird, hat nur für wenige Tafeln Platz. Sie gewähren schockierende Einblicke in die Sammellager der Wehrmacht, in denen die Gefangenen oft auf freiem Feld, ohne hygienische Einrichtung und ohne Dach über dem Kopf hausen mussten. Der Alltag ist von Misshandlungen, Demütigungen, Folter und immer wieder Hinrichtungen geprägt.
„Kranke und Gesunde lagen durcheinander. Über unsere Körper krochen Läuse und Ratten, Es gab überhaupt keine ärztliche Hilfe“, schreibt der überlebende Nikolaj Nikolajewitsch Danilow über ein solches Lager, in dem im Herbst 1941 eine Typhus-Epidemie ausgebrochen war. Sein Brief befindet sich in einer speziellen Anlaufstelle des Museums, dem Verein KONTAKTE-KOHTAKTbl e.V. „Und wir wurden geschlagen, geschlagen, geschlagen“, so ein anderer, Andrej Iwanowitsch Kirijenko, im Mai 1942.
Ab Herbst 1941, als der Blitzkrieg ins Stocken geriet, senkte die Wehrmachtsleitung die Lebensmittelrationen noch weiter herab, und sie setzte ein Massensterben in Gang. In manchen Lagern starben Hunderte Gefangene jeden Tag. Der überlebende Boris Semjonowitsch Scheremet schrieb über den Hunger im Lager: „...wir kratzten mit einem Nagel die Rinde ab und ernährten uns so.“
Beeindruckend sind die großformatig aufgezogenen Porträts, meist Erfassungsfotos der Wehrmacht, die Gesichter von überwiegend jungen Gefangenen zeigen – Fabrik- und Landarbeiter, Studenten, Lehrer, junge Frauen aus den unterschiedlichsten Regionen der Sowjetunion. Eine große Europakarte mit unzähligen großen und kleinen Kreisen, den Lagerstandorten, vermittelt das schiere Ausmaß der Opferzahlen. Dazwischen ist der Blick frei auf sowjetische Panzer aus der Schlacht um Berlin 1945.
Anlässlich des 80. Jahrestag gab es eine ganze Reihe von Gedenkveranstaltungen, Filmberichten und Publikationen, die die Schrecken dieses Kriegs thematisieren. Die Ausstellung in Berlin-Karlshorst zeichnet sich allerdings durch zwei Dinge aus.
Erstens lässt sie keinen Zweifel daran, dass der Krieg gegen die Sowjetunion nicht nur ein Krieg um Gebiete, Rohstoffe und die deutsche Vormachtstellung in Europa und der Welt war, sondern ein ideologisch ausgerichteter Vernichtungskrieg. Sein Ziel war die Vernichtung des ersten Arbeiterstaats, der in der Oktoberrevolution 1917 errichtet worden war und sich auf die Beseitigung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse stützte.
Zweitens zeigt sie, vor allem im begleitenden Katalog, wie die Wehrmachtsführung die Gefangenen der Roten Armee nicht als Soldaten, sondern als Teil dieses verhassten Staats behandelte. Die rassistische Hetze gegen slawische und asiatische „Untermenschen“ und der vehemente Antisemitismus gingen Hand in Hand mit hysterischer Aggressivität gegen Kommunismus, Bolschewismus, Sozialismus. Den sowjetischen Juden galt der besondere Hass, weil viele in der revolutionären Bewegung aktiv waren. Als Kriegsgefangene wurden sie mit Judenstern gekennzeichnet und meist unmittelbar ermordet.
Arbeitseinsatz in Deutschland
Trotz Zerschlagung aller Arbeiterorganisationen ab 1933 sah sich das NS-Regime durch das Weiterbestehen der Sowjetunion in seiner inneren Stabilität bedroht. Selbst vor den ausgemergelten, halb verhungerten Kriegsgefangenen, die nach Deutschland transportiert wurden, hatte Hitler Angst.
Ein aufschlussreicher Bericht im Katalog von Rolf Keller von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten schildert eine Auseinandersetzung Hitlers mit den Wirtschaftsführern und dem Reichsarbeitsministerium über den Zwangsarbeitereinsatz sowjetischer Gefangener in Deutschland.
Das wollte Hitler zuerst unbedingt verhindern. Er befürchtete, dass ein Kontakt deutscher Arbeiter zu den sowjetischen Kriegsgefangenen die tief verankerte Solidarität der deutschen und sowjetischen sozialistischen Arbeiterbewegung wiederbeleben könnte.
Zuerst untersagte Hitler den Transport sowjetischer Kriegsgefangener ins Reichsgebiet, dann ließ er eine begrenzte Zahl zu, die aber in weit abgelegenen Baustellen und Steinbrüchen eingesetzt werden sollten und schließlich gab er dem Drängen der Industrie nach, auch einen Einsatz in der Rüstungsindustrie zuzulassen.
Insgesamt wurden rund 500.000 Zwangsarbeiter in Deutschland eingesetzt, von denen bis Frühjahr 1942 aufgrund der Hungerpolitik bereits die Hälfte gestorben war.
Hass auf „jüdischen Bolschewismus“
Womit Hitler nicht gerechnet hatte, war die enorme Entschlossenheit und Opferbereitschaft der sowjetischen Bevölkerung, trotz Stalins Terror die Errungenschaften der Oktoberrevolution zu verteidigen.
Wie die Kuratorin Babette Quinkert in ihrem Katalogbeitrag betont, hat die Wehrmachtsführung die „Möglichkeit einer ‚geistigen‘ Kriegführung als besonders wirksam“ eingeschätzt. Insbesondere hätten die Nazis gehofft, mit antibolschewistischer Demagogie die Bevölkerung der nichtrussischen Volksgruppen im Westen der Sowjetunion – Volksdeutsche, Ukrainer, Litauer, Letten, Esten, Belarussen – gegen die Roten Armee aufwiegeln und Truppenteile abspalten zu können.
Detailliert listet Quinkert die lange vor dem Angriff erlassenen Befehle auf, mit denen die Sonderbehandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen geplant wurde.
Eine Aktennotiz des Chefs des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes, Georg Thomas, über seinen Vortrag bei Hermann Göring, am 26. Februar 1941, ist der früheste schriftliche Hinweis auf den Mordplan der Wehrmacht. Göring, heißt es darin, sei „wie der Führer der Auffassung, dass bei dem Einmarsch deutscher Truppen in Russland der ganze bolschewistische Staat zusammenbrechen würde. ... Es käme darauf an, zunächst schnell die bolschewistischen Führer zu erledigen.“
Einen Monat später, am 30. März 1941, hielt Adolf Hitler vor Kommandeuren des künftigen Ostheeres eine Rede, die der Chef des Generalstabs des Heeres, Franz Halder, stichpunktartig notiert hat: „Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. Vernichtendes Urteil gegenüber Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum. Kommunismus ungeheure Gefahr für die Zukunft. Wir müssen vom Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf.“
Der sogenannte Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941 setzte das international geltende Kriegsrecht außer Kraft und ermächtigte jeden Offizier, Zivilisten und auch Kriegsgefangene ohne förmliches Gerichtsverfahren hinrichten zu lassen. Allen Wehrmachtsangehörigen wurde zugleich eine weitgehende Straffreiheit bei Verbrechen gegen die Bevölkerung zugesichert.
Am 19. Mai 1941 erließ das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) Richtlinien für alle am Ostfeldzug beteiligten Truppenteile, um sie auf einen rücksichtslosen, mörderischen Kampf einzuschwören. Hier heißt es: „Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes. Dieser zersetzenden Weltanschauung und ihren Trägern gilt Deutschlands Kampf.“
Schließlich wurde am 6. Juni 1941 der sogenannte Kommissarbefehl erlassen. Er legte fest, dass die deutschen Kommandeure die Kommissare der Roten Armee bei der Gefangennahme feindlicher Truppenteile „aussondern“ und „sofort mit der Waffe erledigen“ sollen.
Im Herbst 1941 wurde dies ergänzt und verlangt, dass weitere Gruppen unter den gefangenen Soldaten und den Zivilisten ausgesondert und ermordet werden sollen – „alle bedeutenden Funktionäre des Staates und der Partei, insbesondere Berufsrevolutionäre, die Funktionäre der Komintern, alle maßgebenden Parteifunktionäre der KPdSU und ihrer Nebenorganisationen in den Zentralkomitees, den Gau- und Gebietskomitees, alle Volkskommissare und ihre Stellvertreter, alle ehemaligen Polit-Kommissare in der Roten Armee, die leitenden Persönlichkeiten der Zentral- und Mittelinstanzen bei den staatlichen Behörden, die führenden Persönlichkeiten des Wirtschaftslebens, die sowjetrussischen Intelligenzler, alle Juden, alle Personen, die als Aufwiegler oder fanatische Kommunisten festgestellt werden“ (RSHA, Anlage 2 zum Einsatzbefehl Nr. 8 vom 17. Juli 1941).
Zusätzliche Merkblätter in den ersten Wochen des Kriegs warnten vor einem „nicht nur soldatisch, sondern auch politisch geschulte[n] Gegner“ und verlangten von den wachhabenden deutschen Soldaten, bei den geringsten Anzeichen von „Widersetzlichkeit und Ungehorsam“ rücksichtslos vorzugehen und zur Waffe zu greifen.
Die Vorstellung der Nazis, so Quinkert, die multiethnische Sowjetunion werde „nur durch die Gewalt der ‚jüdisch-bolschewistischen‘ Führungsschicht zusammengehalten“, sei eine Fehleinschätzung gewesen. Eher gab es eine gegenteilige Reaktion in der Bevölkerung auch im Westen der Sowjetunion. Die „Aussonderung“ und Ermordung aktiver Parteimitglieder verstärkten die Entschlossenheit, gemeinsam gegen die faschistischen Angreifer zu kämpfen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Einige der Porträts auf den Ausstellungstafeln vermitteln eine Ahnung von diesem Kampfgeist. Mit Stolz, Zuversicht und, wie im Fall des Landarbeiters Ilja Iwanowitsch Nowikow, mit einem Lachen auf dem Gesicht schauen sie in die Kamera des Wehrmachtsfotografen.
Hier einige der Biographien, die die Ausstellung skizziert: Ilja Iwanowitsch Nowikow (1921--1941), aus dem Gebiet Smolensk, am 7. Juli 1941 als Soldat einer Panzereinheit in Gefangenschaft geraten, im niedersächsischen Stalag (= Stammlager) 321 Oerbke als „untragbarer“ Gefangener ausgesondert, von der Gestapo ins KZ Sachsenhausen gebracht und in einer Genickschuss-Anlage getötet. Er ist 20 Jahre alt.
Diomid Tawadse (1921-1941)aus Georgien, Student, der in der Artillerie dient. Am 3. Juli 1941 bei Minsk in Gefangenschaft geraten, kommt er Mitte Oktober ins Stalag 321 Oerbke. Die Gefangenen leben dort in Erdhöhlen und improvisierten Unterständen und hungern. Fleckfieber breitet sich aus. Dionid Tawadse stirbt am 25. Dezember 1941 an „allgemeiner Körperschwäche“, wie es im Wehrmachtsbericht heißt, wenige Tage vor seinem 21. Geburtstag.
Michail Alexejewitsch Sawarsin (1917-1941)aus der sibirischen Region Altai, gelernter Schlosser. Nach seiner Gefangennahme am 5. Juli 1941 in Riga kommt er über das Stalag 321 Oerbke zum Arbeitseinsatz in der Nähe von Hannover. Dort wird der 24-Jährige bei einem Fluchtversuch erschossen.
Welch hochmotivierte Truppe der Wehrmacht gegenüber stand und welch unbeschreibliche Bedingungen sie als Kriegsgefangene erlebten, bezeugen auch Interviews mit Überlebenden, die in einer digitalen Ausstellung des Hauses der Wannseekonferenz abrufbar sind. „...an Unrecht erinnern“ ist ein Bildungsangebot zum Thema der sowjetischen Zwangsarbeiter, das sich vor allem an Jugendliche richtet.
Nachdem der Kommissarbefehl seine Wirkung verfehlt hatte, wurde er im Mai 1942 formell ausgesetzt. Statt gezielter Ermordung einzelner Parteikommissare entfesselten Wehrmacht, SS und Gestapo nun einen mörderischen Feldzug gegen die gesamte sowjetische Bevölkerung, brannten Dörfer nieder, organisierten Massaker an Alten, Frauen und Kindern. In den KZs begann die industrielle Vernichtung der Juden in Gaskammern, und auch die Kriegsgefangenen wurden massenhaft in den Tod getrieben. Im Auftrag der Wehrmacht durchkämmte die Gestapo die deutschen Gefangenenlager nach „unbrauchbaren Elementen“, brachte sie in KZs und ließ sie dort unmittelbar nach Ankunft erschießen. Allein diesen Aktionen fielen 33.000 Gefangene zum Opfer, davon 12.000 im KZ Sachsenhausen.
Rund 25.000 sowjetische Kriegsgefangene hatte die Wehrmacht bereits ab Herbst 1941 an die SS für den Einsatz in KZs übergeben. Sie sollten beim Bau der „Ostsiedlung“ im Rahmen des Generalplans Ost und in der SS-Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Die meisten fanden den Tod.
Einer, der überlebte, war Alexandr Aronowitsch Petscherski. Aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Krementschug, wird der Musik- und Theaterwissenschaftler am 22. Juni 1941 eingezogen und im Oktober gefangen genommen. Über Borissow kommt er in ein Lager in Minsk und später in ein Arbeitslager der SS, die ihn im September 1943 in das Vernichtungslager Sobibor verlegte. Dort organisierte der 34-jährige Leutnant zusammen mit anderen Häftlingen einen bewaffneten Aufstand. Am 14. Oktober 1943 wurden elf SS-Männer getötet, über 300 Häftlingen gelang die Flucht. Doch nur 60 Geflohene erlebten das Kriegsende, unter ihnen auch Petscherski
Diskriminierung nach 1945
Nach dem Krieg erhielten die überlebenden Kriegsgefangenen lange keine Anerkennung oder Entschädigung. Erst siebzig Jahre nach Kriegsende beschloss der Deutsche Bundestag nach kontroversen Debatten im Mai 2015 eine symbolische „Anerkennungszahlung“ an die letzten Überlebenden.
In der stalinistischen Sowjetunion wurden die Kriegsgefangenen zuerst als Deserteure, Verräter und „feige Elemente“ eingestuft. Bei Kriegsende wurden die Überlebenden überprüft und pauschal der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt. Die rund 1,5 Millionen Rückkehrer wurden jahrzehntelang misstrauisch behandelt und sozial benachteiligt. Erst nach der Auflösung der Sowjetunion stellte man sie durch einen Präsidialerlass von 1995 den anderen Kriegsveteranen gleich.
Der Moskauer Wissenschaftler Artem Latyschew nennt in seinem Katalogbeitrag viele interessante Details zum Umgang mit den Kriegsgefangenen unter Stalin und seinen Nachfolgern. Stalin hatte bereits am 16. August 1941 einen Befehl veranlasst, dass Soldaten der Roten Armee, die sich dem Feind ergeben, als „böswillige Deserteure“ sowie deren Familien als „Familien von Deserteuren, die den Eid gebrochen und ihr Vaterland verraten haben“, zu behandeln seien.
Allerdings leidet Latyschews Beitrag, wie auch andere Katalogbeiträge, daran, dass sie Lenin und die bolschewistische Führung für Stalins Verbrechen verantwortlich machen. So schreibt Latyschew, das Misstrauen gegenüber denjenigen, die Feindkontakt gehabt hatten, habe sich „offensichtlich aus dem Charakter der bolschewistischen Partei und des Staates sowie den persönlichen Eigenschaften Wladimir Iljitsch Lenins und Josef Stalins“ ergeben.
Interessant ist, dass die Ausstellung diesem antikommunistischen Standardargument widerspricht. Sie macht deutlich, dass der Sieg der Roten Armee über die Nazis vor allem deshalb möglich war, weil die sowjetischen Arbeiter die Errungenschaften der Oktoberrevolution trotz der stalinistischen Unterdrückung verteidigten. Die Ideen der Bolschewiki unter Führung Lenins und Trotzkis hatten noch immer große Anziehungskraft.
Umgekehrt war die ungeheure Zahl an Opfern die Verantwortung von Stalin, der in den Moskauer Prozessen nicht nur Trotzkis Anhänger und die meisten alten Bolschewiki hatte ermorden lassen, sondern auch die fähigsten Führer der Roten Armee. Sein Pakt mit Hitler 1939 setzte die sowjetische Bevölkerung völlig unvorbereitet und ungeschützt dem Blitzkrieg der Nazis aus. Wie die Zahlen in der Ausstellung zeigen, sind die meisten Rotarmisten in den ersten Monaten in die Gefangenschaft geraten, und der größte Teil starb bis zum Frühjahr 1942.
Diese stalinistischen Verbrechen, die sich nach dem Krieg noch fünf Jahrzehnte fortsetzten, führten letztlich dazu, die Arbeiterklasse politisch zu entwaffnen. Als die Nachfolger Stalins ihr letztes Verbrechen begingen und 1991 die Sowjetunion auflösten, um den Kapitalismus zu restaurieren, gab es keinen nennenswerten Widerstand mehr. Diese Wende war ein tragischer Rückschlag, leitete die Herrschaft reicher Oligarchen und die Verarmung der Bevölkerung ein und führt heute erneut zur drohenden Kriegsgefahr.
Die Wanderausstellung „Dimensionen eines Verbrechens“ wird nach dem 3. Oktober in Niedersachsen, in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg und später in Russland, Ukraine und Belarus gezeigt.