Leo Trotzki und das Schicksal der Sowjetunion

Die folgende Rede hielt Wladimir Wolkow am 23. September in Berlin anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 60. Todestag von Leo Trotzki. Wolkow ist Mitglied der Redaktion des World Socialist Web Site in Russland.

Trotzki sagte einmal, dass Ideen stärker sind als selbst die mächtigsten Generalsekretäre. Das tragische Datum, anlässlich dessen wir uns heute hier zusammengefunden haben, könnte als Widerlegung dieses Ausspruches gelten. Doch wenn wir uns in die Bedeutung der Ereignisse hineinversetzen, die seit der Ermordung Trotzkis vor sechzig Jahren stattgefunden haben, dann sehen wir, dass sich diese Aussage vollauf bestätigt hat.

Die Supermacht Sowjetunion, dieses riesige Land, das als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist und den ersten Menschen ins All geschickt hat, zerfiel Ende der 80-er, Anfang der 90-er Jahre ohne besonderen Anstoß von Innen oder Außen plötzlich in Stücke. Von der früheren Großmacht sind im Verlauf der darauffolgenden zehn Jahre kaum noch Spuren übriggeblieben. Innerhalb kürzester Zeit ist es zu einem enormen wirtschaftlichen und sozialen Absturz gekommen, während sich gleichzeitig eine umfassende Umverteilung von früherem staatlichen Eigentum vollzogen hat. Im Ergebnis ist eine dünne Schicht krimineller Neureicher entstanden, während die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in Armut versinkt, was angesichts der technischen Errungenschaften der modernen Zivilisation als widersinnig erscheint.

Das gesamte Territorium der ehemaligen Sowjetunion ist in endlosen ethnischen und religiösen Konflikten versunken. Technische Katastrophen, wie wir sie im August mit dem Untergang des Atom-U-Boots "Kursk" in der Barentssee und dem Brand des Moskauer Fernsehturms "Ostankino" erlebt haben, sind nicht nur Ausdruck der tiefen Krankheit der gesamten postsowjetischen Gesellschaft, sondern auch Zeichen des fortschreitenden Zusammenbruchs aller sozialer, wirtschaftlicher und technischer Strukturen des Landes.

Wie wurde das möglich? Welches böse Schicksal hat die Sowjetunion zerstört?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir zur Auseinandersetzung zurückkehren, die Mitte der zwanziger Jahre in der Sowjetunion stattfand und in der sich zwei Entwicklungsperspektiven für die UdSSR gegenüberstanden: die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land und die Theorie der Permanenten Revolution. Wenn wir diese Auseinandersetzung und ihre Folgen aus heutiger Sicht bewerten, wird deutlich, dass sie den Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Probleme liefert.

Vor zehn Jahren war auf der ganzen Welt die Meinung populär, dass mit dem Zusammenbruch der UdSSR auch der Sozialismus endgültig bankrott gegangen sei. In Wirklichkeit war nicht der Sozialismus gescheitert, sondern sein Antipode - der Stalinismus. Gescheitert war der Versuch, eine isolierte, autarke nationale Wirtschaft aufzubauen.

In der Sowjetunion ist unter der Führung Stalins und seiner politischen Erben ein kolossales historisches Experiment durchgeführt worden. Obwohl dabei bedeutende Errungenschaften erzielt wurden, deren Bedeutung herabzumindern nicht den geringsten Sinn macht, obwohl diese Errungenschaften in nicht geringem Maße das Ergebnis eines aufrichtigen Enthusiasmus der einfachen Werktätigen waren und obwohl dabei große Opfer erbracht wurden, hat dieses Experiment im Endeffekt eine zerstörerische Niederlage erlitten.

Bedeutet das, dass auch die Revolution von 1917 sinnlos war, dass sie zum Scheitern verurteilt war?

Überhaupt nicht. Die internationalen Perspektiven, aus denen die Revolution von 1917 hervorging, hatten nichts mit der Politik nationaler Autarkie gemein, die in der Sowjetunion seit Mitte der 20er Jahre sanktioniert wurde. Die Möglichkeit einer nationalistischen Entartung der Revolution wurde sogar lange vorhergesehen, bevor sie zur Tatsache wurde.

All das führt uns zu einer Einschätzung des intellektuellen und politischen Beitrages von Leo Trotzki, einem der Führer der Revolution von 1917 und einem der führenden Kämpfer gegen den Stalinismus in der internationalen Arbeiterbewegung. Im Lichte der Erfahrung des Aufstiegs und Falls der Sowjetunion können wir von drei Prognosen Trotzkis sprechen, die den Test der Geschichte bestanden haben:

Die erste Prognose betrifft die Frage nach den künftigen Aufgaben und Triebkräften der russischen Revolution. Trotzki untersuchte die sozialen und ökonomischen Widersprüche des zaristischen Imperiums und seinen Platz in der Weltwirtschaft und kam ungefähr 1907 zu dem Schluss, dass die Lösung der demokratischen Aufgaben in Russland - die Auflösung der Monarchie und die Durchführung der Agrarreformen - nur möglich ist, wenn das Proletariat gestützt auf die Bauernschaft und geführt von der revolutionären Partei die Macht ergreift. Genau das ist im Oktober 1917 passiert.

Die Rückständigkeit Russlands erlaubte es jedoch nicht, ohne Unterstützung des europäischen Proletariates selbständig den Sozialismus aufzubauen. Sollte diese Unterstützung zu spät eintreffen, sagte Trotzki in jenen Jahren voraus, wird die isolierte Revolution unvermeidlich entarten. Aus diesem Grund verstanden er und seine Anhänger die Gefahren sehr gut, die sich in der fortschreitenden Bürokratisierung der bolschewistischen Partei und des Sowjetstaates zeigten, als in den 20-er Jahren die revolutionäre Welle in Europa zurückebbte und Sowjetrussland in seiner Rückständigkeit isoliert blieb.

Und schließlich die dritte Prognose: Trotzki analysierte die einzelnen Stadien und die Bedeutung der bürokratischen Entartung, die in den 30-er Jahren zur Rückkehr vieler Erscheinungen aus der Zarenzeit und danach zur physischen Vernichtung einer ganzen Generation von Bolschewiki führte. Er warnte, dass die Bürokratie früher oder später die UdSSR zerstören und sich in eine neue Klasse von Privateigentümern verwandeln werde, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelinge, sie durch eine politische Revolution zu stürzen.

In allen Etappen dieser Analyse stützte sich Trotzki auf ein internationales Verständnis der Epoche und der Stellung, die Russland im System der Weltwirtschaft einnimmt. Im Vorwort zu Die permanente Revolution formulierte er dieses Verständnis folgendermaßen:

"Der Marxismus geht von der Weltwirtschaft aus nicht als einer Summe nationaler Teile, sondern als einer gewaltigen, selbständigen Realität, die durch die internationale Arbeitsteilung und den Weltmarkt geschaffen wurde und in der gegenwärtigen Epoche über die nationalen Märkte herrscht. Die Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft sind längst über die nationalen Grenzen hinausgewachsen. Der imperialistische Krieg war eine der Äußerungen dieser Tatsache. Die sozialistische Gesellschaft muss in produktionstechnischer Hinsicht im Vergleich zu der kapitalistischen Gesellschaft ein höheres Stadium darstellen. Sich das Ziel zu stecken, eine national isolierte sozialistische Gesellschaft aufzubauen, bedeutet, trotz aller vorübergehenden Erfolge, die Produktivkräfte, sogar im Vergleich zum Kapitalismus, zurückzerren zu wollen. Der Versuch, unabhängig von den geographischen, kulturellen und historischen Bedingungen der Entwicklung des Landes, das einen Teil der Weltgesamtheit darstellt, eine in sich selbst abgeschlossene Proportionalität aller Wirtschaftszweige in nationalem Rahmen zu verwirklichen, bedeutet, einer reaktionären Utopie nachzujagen." ( Die permanente Revolution, Essen, 1993, S. 39).

Es ist wie gesagt unmöglich, die wirtschaftlichen und kulturellen Erfolge zu leugnen, die in der UdSSR erzielt wurden. Dennoch muss man festhalten, dass diese Erfolge nicht das Ergebnis eines nationalen Aufschwungs als solchem, sondern ein Nebenprodukt der Oktoberrevolution waren, die einen zutiefst internationalen Charakter hatte. Selbst als sie nationalistisch entartete, ermöglichte sie noch derartige Wunder. Diese verblassen allerdings vor den Errungenschaften, die hätten erreicht werden können, wenn die Revolution ihr volles Potential entwickelt hätte.

Das Gesetz von der Abhängigkeit der nationalen Wirtschaft von der Weltwirtschaft übte auf die Sowjetunion trotz ihres staatlichen Außenhandelsmonopols im Lauf ihrer gesamten Geschichte starken Einfluss aus. Je weiter sich die Sowjetwirtschaft entwickelte, desto stärker war sie von der Weltwirtschaft abhängig. Die Unmöglichkeit, sich durch eine Wand von der Weltwirtschaft abzuschotten, wurde letztendlich zu einem der wichtigsten Gründe für den Zusammenbruch der Sowjetunion.

Mit dem Beginn der Perestroika Gorbatschows verwirklichte sich die Jahrzehnte zuvor entwickelte Prognose Trotzkis mit erstaunlicher Genauigkeit. Einige Seiten seiner Werke lesen sich wie fertige Illustrationen zu den Entwicklungen, die nun einsetzten. In seinem hervorragenden Buch Verratene Revolution hat er beispielsweise den Niedergang der UdSSR folgendermaßen erwogen:

"Ein Zusammenbruch des Sowjetregimes würde unweigerlich einen Zusammenbruch der Planwirtschaft und damit die Abschaffung des staatlichen Eigentums nach sich ziehen. Die Zwangsbindung der Trusts untereinander und zwischen den Fabriken eines Trusts würde sich lockern. Die erfolgreichsten Unternehmen würden sich beeilen, selbständige Wege zu gehen. Sie könnten sich in Aktiengesellschaften umwandeln oder eine andere Übergangsform des Eigentums finden, etwa mit Gewinnbeteiligung der Arbeiter. Gleichzeitig und noch leichter würden die Kolchosen zerfallen. Der Sturz der heutigen bürokratischen Diktatur wäre also, wenn keine neue sozialistische Macht sie ersetzt, gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen bei katastrophalem Rückgang von Wirtschaft und Kultur." (Verratene Revolution, Essen 1990, S. 253f)

An anderer Stelle erklärt er, dass das neue bürgerliche Regime "unter den heutigen Bürokraten, Administratoren, Technikern, Direktoren, Parteisekretären und überhaupt unter den privilegierten Schichten nicht wenig willige Diener" fände. "Die Hauptaufgabe der neuen Staatsmacht wäre jedoch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln wiederherzustellen. Vor allen Dingen käme es darauf an, die Vorbedingungen zur Absonderung von Großbauern aus den schwachen Kolchosen und zur Umwandlung der starken Kolchosen in Produktionsgenossenschaften bürgerlichen Typus, in landwirtschaftliche Aktiengesellschaften, zu schaffen. Auf dem Gebiete der Industrie würde die Entnationalisierung bei den Betrieben der Leicht- und Nahrungsmittelindustrie beginnen. Das Planprinzip würde während der Übergangszeit auf eine Reihe von Kompromissen zwischen der Staatsmacht und den einzelnen ‚Genossenschaften‘, d.h. den potentiellen Besitzern, zusammengesetzt aus Sowjetindustriekapitänen, ehemaligen emigrierten Besitzern und den ausländischen Kapitalisten, hinauslaufen." (a.a.O. S. 255f)

Jetzt ist dieser Prozess viel weiter fortgeschritten, und man könnte daraus ableiten, dass Trotzkis Vorhersage nicht weiter in die Zukunft reicht. Er konnte nicht wissen, auf welche Weise sich der Prozess der kapitalistischen Restauration fortsetzen würde. Doch die Besonderheit allen wirklich wissenschaftlichen Wissens ist, dass es erlaubt, neue Ereignisse auf der Grundlage fundamentaler Konzeptionen zu analysieren, die historisch überprüft worden sind und das subjektive Konzentrat der objektiven Erfahrung der Menschheit darstellen.

Die zentrale Frage, die Trotzki im Zusammenhang mit dem Schicksal der UdSSR beschäftigte, war die Wechselbeziehung zwischen nationaler und Weltwirtschaft. Diese Problemstellung war in jeder Hinsicht auf die Zukunft gerichtet. Es ist unmöglich, den Sozialismus in einem Land aufzubauen. Es ist aber genauso unmöglich, dass der Kapitalismus, der schon am Anfang des 20. Jahrhunderts unfähig war, die Aufgaben der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands zu lösen, in der heutigen Epoche dazu in der Lage ist, in der sich das Profitsystem im Zustand eines noch größeren Niedergangs befindet.

Die Sowjetunion befand sich in den Jahren der Perestroika im Dilemma, dass weder die Fortsetzung des alten autarken Entwicklungsweges noch die Integration der Sowjetwirtschaft in die Strukturen des kapitalistischen Weltmarktes einen Ausweg aus der Krise wiesen, in der sie sich befand. Der einzige fortschrittliche Ausweg aus diesem Dilemma wäre eine Absage an die Autarkie gewesen, aber nicht auf dem Wege des Kapitalismus, der sich historisch gesehen im Weltmaßstab überlebt hat, sondern durch eine grundlegende Umgestaltung der gesamten Weltwirtschaft auf der Basis ihrer planmäßigen und demokratischen Leitung im Interesse aller Gesellschaftsmitglieder. Darin bestand das Programm der Oktoberrevolution, für das Trotzki sein ganzes Leben als Revolutionär und Marxist gekämpft hat.

Die Versuche - zuerst von Gorbatschow, dann von Jelzin und jetzt von Putin - Russland in den Schoß der bürgerlichen Zivilisation zurückzubringen, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil sie keine lebensfähigen Alternative darstellten. Dem fürchterlichen Niedergang, den die Republiken der ehemaligen Sowjetunion in den vergangenen zehn Jahren erlebt haben, liegt eine objektive Logik zugrunde. Man kann diese Logik verstehen, wenn man die Wahrheit und die Bedeutung der Analyse Trotzkis anerkennt.

Die Ursache für die heutigen Probleme Russlands ist die gleiche, wie während der Existenz der Sowjetunion - die Beziehung zur Weltwirtschaft. Der Kapitalismus hat seit langem seine Fähigkeit eingebüßt, zurückgebliebene Regionen der Erde zu entwickeln. Eine Zeit lang schien es, dass die "asiatischen Tiger" dies widerlegten. Doch seit der Finanzkrise von 1997 wiederholen nur noch Wenige diese vorher populäre, aber oberflächliche Argumentation.

Die heutigen Tendenzen der Globalisierung führen zu einer weiteren Konzentration von Kapital in den Händen der großen transnationalen Konzerne. Diese liefern sich in buchstäblich jedem Winkel des Planeten einen fieberhaften Konkurrenzkampf um Rohstoffe, Arbeitskräfte und Absatzmärkte. Die Dominanz der Weltwirtschaft über die einzelnen nationalen Wirtschaften hat ein Ausmaß erreicht, dass es selbst den am weitesten entwickelten kapitalistischen Staaten nicht mehr erlaubt, die Methoden der nationalen Regulierung und die Sozialsysteme der Nachkriegsperiode aufrecht zu erhalten. Der Abbau dieser Systeme auf der ganzen Welt geht mit dem Anwachsen von Armut und sozialer Ungleichheit einher. Unter diesen Bedingungen können Länder mit veralteten und durch enorme strukturelle Disproportionen überlasteten Wirtschaften, wie Russland, nicht auf ein Aufblühen hoffen.

Die sich weltweit vertiefende Krise macht die Wiedergeburt jener Ideen und Perspektiven notwendig und zur entscheidenden Frage, die Leo Trotzki entwickelt hat. Das erfordert seine politische und intellektuelle Rehabilitation in den Augen von Millionen einfachen Menschen auf der ganzen Welt, seine Rehabilitation nicht nur als herausragenden Revolutionär und Vertreter marxistischen Denkens, sondern auch als einen der aktuellsten Denker unserer Zeit.

Siehe auch:
Die Aktualität von Leo Trotzki
(6. Oktober 2000)
Erfolgreiche Veranstaltungen in Berlin und London
( 28. September 2000)
Trotzkis "Europa und Amerika" neu erschienen
( 5. Oktober 2000)
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