Die Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien

Der Kreml strebt die Legitimierung seiner Marionette Kadyrow an

Für den 5. Oktober ist in Tschetschenien die Durchführung der Präsidentschaftswahlen anberaumt, die entsprechend dem Referendum vom 23. März stattfinden sollen. Am 20. August wurde die Aufstellung der Kandidaten beendet. Es wurden 15 Anträge zur Kandidatur eingereicht, von denen letztendlich nach der Prüfung der Unterschriftenlisten und Finanzdokumente durch die Wahlkommission nur elf für die Teilnahme an den Wahlen zugelassen wurden.

Um an den Präsidentenwahlen teilnehmen zu können, mussten die einzelnen Kandidaten entweder mindestens elftausend Unterschriften sammeln oder ein Pfand in Höhe von 4,5 Mio. Rubel (ca. 150.000 Euro) aufbringen. Einigen Bewerbern, die nicht zugelassen wurden, haben weniger als 100 Unterschriften gefehlt. Der ebenfalls kandidierende Achmat Kadyrow, das gegenwärtige Oberhaupt der tschetschenischen Regierung und Favorit der russischen Regierung, hat über siebzigtausend Unterschriften gesammelt und zur zusätzlichen Absicherung das Geldpfand hinterlegt, um seine angebliche Unterstützung in der Bevölkerung zu demonstrieren.

Der Krieg wird fortgesetzt

Die zahlreichen Erklärungen der gegenwärtigen tschetschenischen Führung und des Kremls, dass Tschetschenien Stück für Stück zur Normalität zurückfinde, sind nicht mehr als propagandistische Fiktion und werden von der realen Lage in jeder Hinsicht widerlegt. Auch die Durchführung von pseudodemokratischen Wahlen ändert daran nichts.

Willkür und Gewalt der russischen Armee in Tschetschenien werden alles andere als weniger. Informationen der Menschenrechtsorganisationen Memorial und Human Rights Watch zufolge werden die sogenannten "Säuberungen" der russischen Truppen nicht selten von Plünderungen, Vergewaltigungen und standrechtlichen Erschießungen begleitet. Geiselnahmen während dieser "Säuberungen" sind für die russischen Militärs eine wichtige Einkommensquelle. Sie fordern beispielsweise für die Auslösung des Leichnams eines Ermordeten bis zu fünftausend Dollar von den tschetschenischen Familien, während der Preis für die Entlassung eines ungesetzlich verhafteten und noch lebenden Verwandten bis zu zehntausend Dollar betragen kann.

Wie die Njesawissmaja Gasjeta am 20. August in einem Artikel unter der Überschrift "Die Tschetschenen verlieren die Hoffnung" zugibt, "sind die unaufhörlichen Entführungen und das Verschwinden von Menschen, die Explosionen und Terroranschläge und auch die Morde und das Sterben die Wesensmerkmale der sich verschlechternden Situation". Allein im vergangenen halben Jahr sind nach den Worten des stellvertretenden Vorsitzenden der Regierung Tschetscheniens, Mowsar Chamidow, auf den sich der Artikel beruft, 267 Menschen in der Teilrepublik spurlos verschwunden, wobei sich sowohl tschetschenische Kämpfer als auch Angehörige der russischen Armee an den Entführungen beteiligten. Diese Zahl ist mit derjenigen des vergangenen Jahres vergleichbar, als 564 Menschen spurlos verschwunden waren. "Das heißt, es kann von keiner Verbesserung der Lage die Rede sein."

Auch das Flüchtlingsproblem bleibt im wesentlichen ungelöst. Am 16. März, kurz vor dem Referendum, gab Russlands Präsident Wladimir Putin im tschetschenischen Fernsehen zu, dass "nach ungefähren Schätzungen etwa 280.000 Bürgern das Dach über dem Kopf genommen wurde". Die russischen Behörden hatten zuvor den größten Teil der in Zeltstädten in der Nachbarrepublik Inguschetien lebenden tschetschenischen Flüchtlinge gezwungen, ihre Notunterkünfte zu verlassen. Ausweichquartiere wurden ihnen nicht angeboten. Viele dieser Familien wissen bis jetzt nicht, wohin sie zurückkehren sollen. Ihre früheren Häuser sind zerstört.

Die Wirtschaft der Republik liegt nach wie vor ruiniert am Boden. Die Arbeitslosigkeit beläuft sich auf 60 Prozent. Jeder zehnte Bewohner der Region lebt sogar nach russischen Maßstäben unter Bedingungen äußerster Armut.

Selbst die dürftigen Mittel, die Moskau für die Wiederherstellung der im Verlauf des letzten Jahrzehnts zerstörten Infrastruktur bereitstellt, werden sowohl von den russischen Vertretern in der Region als auch von der tschetschenischen Regierung Kadyrows schonungslos unterschlagen.

Auch die Zahl der Terroranschläge verringert sich nicht. Hier eine Auflistung der wichtigsten Ereignisse dieser Art, die seit dem vorigen Herbst die meisten Opfer forderten:

· Am 26. Oktober 2002 haben tschetschenische Kämpfer in einem Moskau Musical-Theater 800 Geiseln genommen, von denen bei der Befreiung durch die russische Regierung mit einem neuartigen Nervengas 129 ihr Leben verloren.

· Am 27. Dezember wurden bei der Explosion von zwei Lastkraftwagen vor dem Regierungsgebäude in Grosny 80 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt.

· Am 12. Mai 2003 explodierte im Dorf Snamenskoje im Bezirk Nadteretchny vor den Gebäuden der Bezirksverwaltung und der lokalen Verwaltung des russischen Geheimdienstes FSB ein Lastkraftwagen. Über 50 Menschen wurden getötet und mehr als 200 verletzt.

· Zwei Tage später, am 14. Mai, sprengten sich zwei Frauen im Dorf Islichan-Jurt im Bezirk Gudermessky während eines religiösen Festes in die Luft und rissen 16 weitere Menschen mit sich in den Tod. Über 150 Menschen wurden verletzt.

· Am 5. Juli sprengten sich zwei Selbstmordattentäterinnen während eines Rock-Festivals im Moskauer Bezirk Tuschino in die Luft. 18 Menschen kamen ums Leben, Dutzende wurden verwundet.

· Am 1. August explodierte vor den Toren eines Militärlazaretts in Mosdok ein Lastkraftwagen. Das Gebäude des Lazaretts wurde vollständig zerstört, 50 Menschen kamen ums Leben und mindestens 200 wurden verwundet.

· Am frühen Morgen des 25. August explodierten an Bushaltestellen in der südrussischen Stadt Krasnodar drei Bomben. Drei Menschen starben, 17 wurden zum Teil schwer verletzt. Obwohl der Kreml bezweifelt, dass dies Anschläge tschetschenischer Terroristen sind, ist offensichtlich, dass diese Explosionen direkt mit den Entwicklungen im Nordkaukasus im Zusammenhang stehen.

Häufigkeit und Ausmaß der Terroranschläge in Tschetschenien und im Nordkaukasus haben sich seit dem am 23. März durchgeführten Referendum nicht verringert. Damals hatte sich die Mehrheit der Bewohner Tschetscheniens für den Beitritt zur Russischen Föderation unter Beachtung von Autonomierechten ausgesprochen. Es war übrigens bezeichnend, dass auf den Listen der 540.000 Abstimmungsberechtigten 80.000 russische Soldaten eingetragen waren, das heißt ein russischer Soldat kam auf sieben Tschetschenen. Fast die Hälfte dieser 80.000 Soldaten hat an der Abstimmung teilgenommen.

Die Lage hat sich auch nicht geändert, seit Ende Juli dieses Jahres das Kommando über alle Operationen der russischen Streitkräfte in Tschetschenien vom Geheimdienst an das Innenministerium übergeben wurde. Der Direktor des Geheimdienstes, Nikolai Patruschew, der über diese Entscheidung informierte, erklärte: "Ich kann uns beglückwünschen: Unsere Arbeit, den Terrorismus in Tschetschenien zu bekämpfen, ist erledigt." Von nun an, so Patruschew, gehe es um die "Sicherstellung der öffentlichen Ordnung".

Tatsächlich handelt es sich um ein propagandistisches Manöver. Die Welt bemerkte in ihrer Ausgabe am 31. Juli dazu treffend: "Der Kreml möchte im Vorfeld den Eindruck erwecken, die Befugnisse der Sicherheitsstrukturen würden auf die örtliche Miliz, in der vorwiegend Tschetschenen dienen, übergehen."

Insgesamt hat die russische Armee seit Wiederaufnahme des Krieges im Herbst 1999 offiziellen Angaben zufolge mehr als 4.000 tote und 15.000 verletzte Soldaten zu verzeichnen. Die Anzahl der Opfer unter den Kämpfern und der Zivilbevölkerung geht in die Tausende.

Zeugen will die russische Regierung für ihre Machenschaften in der Region nicht haben. Noch Anfang Januar diesen Jahres zwang der Kreml die OECD, ihre Mission in Tschetschenien aufzugeben. Als formaler Anlass für die Verweigerung der Mandatsverlängerung dienten die Ereignisses im Moskauer Musical-Theater. Der russische Außenminister Igor Iwanow hatte erklärt, dass die OECD die neuen Realitäten in der aufrührerischen Republik nicht richtig bewerten könne. Nur wenige Tage später erklärte er unverschämt, dass sich die Lage in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny normalisiert hätte. Doch nur kurz zuvor war in der tschetschenischen Hauptstadt das Regierungsgebäude in die Luft gesprengt worden - einer der größten Terroranschläge während des gesamten Krieges in Tschetschenien.

Der Favorit des Kremls - der Marionetten-Diktator Kadyrow

Die gegenwärtige Wahlkampagne findet unter Bedingungen eines beispiellosen Drucks seitens der russischen Zivil- und Militärbehörden statt. Die Kandidatenliste legt dazu beredtes Zeugnis ab. In ihr fehlen die Namen der oppositionellen Führer um den ehemaligen Präsidenten Aslan Maschadow (der seinerzeit von Moskau als rechtmäßig anerkannt worden war) und auch der Name des ehemaligen Sprechers des russischen Parlamentes Ruslan Chasbulatow, der eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in Tschetschenien ist. Chasbulatow hatte sich nicht gegen eine Beteiligung an den Präsidentenwahlen ausgesprochen, obwohl er die juristische Legitimität des Märzreferendums nicht anerkennt (Iswestija, 5. August 2003).

Die freiwillige oder erzwungene Entscheidung der Führer der tschetschenischen Opposition, sich an den Präsidentschaftswahlen nicht zu beteiligen, zeugt davon, dass die Spannungen in Tschetschenien nicht abgenommen haben. Dies bestätigen auch die Ergebnisse der in diesem Frühjahr in Tschetschenien verkündeten Amnestie. Von den vermuteten 1.500 bis 3.000 tschetschenischen Kämpfern haben laut Angaben des Staatsanwaltes von Tschetschenien, Wladimir Krawtschenko, bis zum 20. August nur 133 ihre Waffen abgegeben.

Der wichtigste Favorit des Kremls bei den Präsidentenwahlen in Tschetschenien ist das bisherige Regierungsoberhaupt Achmat Kadyrow. Kadyrow trägt als Mufti einen islamisch-geistlichen Titel und war während des ersten Tschetschenienkrieges von 1994 bis 1996 aktiver Kämpfer gegen den russischen Einmarsch gewesen. Ihm wurde vom Kreml eine zeitweilige Vollmacht für die Führung der Republik übertragen, die er in den vergangenen zwei bis drei Jahren gezielt dazu nutzte, seine persönliche Macht zu festigen. Die Durchführung des Referendums im März bildete für ihn eine wichtige Etappe beim Erreichen dieses Ziels - aus einem vorübergehenden und nicht verfassungskonform eingesetzten Herrscher zu einem ständigen und legitimen Diktator zu werden.

Dazu hat er sich einen eigenen militärischen Sicherheitsdienst aufgebaut, der nicht nur für seine persönliche Sicherheit sorgt, sondern auch seine Gegner in Politik und Wirtschaft terrorisiert.

Über diese Bildung einer militärischen Gruppierung ist man sowohl in Tschetschenien als auch im Kreml bestens unterrichtet. Doch der Kreml zieht es vor, die Augen davor zu verschließen und auch über Ausschreitungen von Kadyrows Sicherheitsleuten hinwegzusehen, die zahlreicher Entführungen, Folterungen und Morde verdächtigt werden. Der Großteil der Angehörigen von Kadyrows Sicherheitsdienst sind ehemalige Kämpfer, für die Mord zum Hauptberuf wurde. Auch ehemalige Kämpfer, die sich nach der Amnestieerklärung den föderalen Truppen ergeben hatten, strömten in die Reihen von Kadyrows Sicherheitsdienst. Oft geschieht die Rekrutierung gegen den Willen des Amnestierten unter der Androhung von Gewaltanwendung.

Die ungehemmten und offen diktatorischen Bestrebungen von Achmat Kadyrow treffen in der Republik auf wachsende Unzufriedenheit und Protest seitens breiter Schichten der Bevölkerung. Diese Tendenz droht die gesamte russische Politik im Kaukasus zunichte zu machen. Der Kreml findet sich jedoch damit ab, weil er Kadyrow als seine Hauptstütze in der Republik benötigt. Die Los Angeles Times vermerkte am 21. August unter Bezugnahme auf Quellen in Moskau: "Wenn Kadyrow dank der Einmischung des Kremls die Wahlen gewinnt, wird seine Präsidentschaft selbst nach Meinung einiger Kremlvertreter fast sicher die Fortsetzung von Gewalt und Instabilität bedeuten, da dieser ehemalige religiöse Führer in der Republik zu unpopulär ist."

Es ist klar, dass die Beziehungen zwischen der Marionette und seinen Herren im Kreml nicht vollkommen reibungslos sein werden. Solange aber Kadyrow in der Lage ist, einen bedeutenden Teil Tschetscheniens unter Kontrolle zu halten, wird ihn die Putin-Regierung unterstützen - was Spannungen und gegenseitiges Druckausüben nicht ausschließt. Sollte die Position Kadyrows jedoch ernsthaft ins Wanken geraten, ist zu bezweifeln, ob die russische Regierung um jeden Preis an ihm festhalten wird. Während der letzten zehn Jahre hat sich die Liste der Kremlfavoriten in Tschetschenien oft geändert. Viele von ihnen wurden schnell zu schlimmsten Feinden Russlands erklärt, was schon für sich genommen ein deutlicher Beweis für die extreme Prinzipienlosigkeit der russischen Politik im Kaukasus ist.

Eine "demokratische Wahl" vor Gewehrläufen

Die verhältnismäßig große Anzahl von Kandidaten für den Posten des tschetschenischen Präsidenten, zu denen einflussreiche Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik gehören, gibt Moskau einigen Spielraum für Manöver und Manipulationen, insbesondere um sich formal von Kadyrow distanzieren zu können. Im Sinne dieser Linie erklärt die russische Regierung heuchlerisch, dass sie bei den Wahlen vom 5. Oktober keinen Kandidaten unterstütze. Ergänzend dazu erklärte der Pressesprecher des Kremls, Sergej Jastrshembsky, in der vergangenen Woche, dass die Lebensfähigkeit Kadyrows zweifelhaft sei. "Wir brauchen einen starken Präsidenten, der das Vertrauen des tschetschenischen Volkes genießt. Wenn es ein schwacher Präsident ist, werden wir einen Großteil seiner Arbeit mit zu erledigen haben."

Die gesamten Vorbereitungen zu den bevorstehenden Wahlen machen zudem deutlich, dass dem tschetschenischen Volk nur die Rolle einer passiven "Wählerschaft" zukommen soll, die das von "oben" inszenierte Abstimmungsergebnis billigt, sich aber in die Bestimmung der Zukunft ihres Landes nicht einzumischen hat. Wie schon das Märzreferendum werden sie nichts anderes sein als eine Abstimmung vor Gewehrläufen. Die Wahl des tschetschenischen Präsidenten wird zu einer weiteren Farce, die nur die äußeren Attribute einer demokratischen Abstimmung hat: Kandidaten, Programme, Wahlkabinen und versiegelte Urnen.

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt bei den anstehenden Wahlen. Die Programme der Kandidaten für das Präsidentenamt - soweit man überhaupt von klar geäußerten Ansichten sprechen kann - ähneln sich wie ein Tropfen dem anderen. Gemein ist all diesen Programmen die Einschüchterung der Bevölkerung mit einer möglichen Neuauflage des Krieges und die Billigung der imperialistischen Ambitionen des Kremls zum Erhalt der existierenden Ordnung.

Insgesamt sind es die Programme der auf Moskau ausgerichteten Schicht der neuen tschetschenischen Elite, die in den 90er Jahren entstanden ist und auf die sich der Kreml über Kadyrow zu stützen versucht. Sie ist bereit, für Zugeständnisse in Machtfragen die nominelle Abhängigkeit von Moskau anzuerkennen.

Die einzige Antwort auf das Chaos und die Zerstörung in Tschetschenien kann nur die Perspektive des sozialistischen proletarischen Internationalismus sein. Dieser Weg sieht vor allem den bedingungslosen Abzug aller russischen Truppen vom tschetschenischen Territorium vor - als notwendige Vorbedingung, dass das tschetschenische Volk demokratisch über seine Zukunft entscheiden kann.

Die Forderung nach Abzug aller russischen Truppen bedeutet jedoch nicht die geringste Unterstützung für die Kräfte des islamischen Separatismus in Tschetschenien. Deren Ziele und Mittel sind ebenso reaktionär wie die Ziele und Mittel derjenigen, die gegenwärtig in Grosny unter dem Schutz der russischen Regierung das Sagen haben. Die einzige Kraft, die Tschetschenien aus der Sackgasse und Krise herauszuführen vermag, sind die Massen der einfachen tschetschenischen und russischen Werktätigen, die diesem Machtpoker ein Ende bereiten müssen.

Siehe auch:
Das Referendum in Tschetschenien: Eine Abstimmung vor Gewehrläufen
(4. April 2003)
Putins Gasangriff in Moskau - eine Folge des barbarischen Kriegs in Tschetschenien
( 29. Oktober 2002)
Geiselnahme in Moskauer Musicaltheater auf brutale Weise beendet
( 28. Oktober 2002)
Die politischen und historischen Fragen im Zusammenhang mit Russlands Angriff auf Tschetschenien
( 20. Januar 2000)
Loading