Die folgende Rede hielt David North auf einer Maiversammlung am 30. April in Berlin und am 1. Mai in London. North ist Chefredakteur der World Socialist Web Site und nationaler Sekretär der Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten.
Als die Welt vor sechzig Jahren dem Faschismus und totalen Krieg entrann, hofften Millionen von Arbeitern auf eine Zukunft, in der solche Schrecken nicht mehr möglich sein würden. Und doch bedroht die Möglichkeit einer weiteren derartigen Katastrophe die Menschheit. Wie konnte es dazu kommen? Was hinderte die Arbeiterklasse daran, ihre sozialistischen Bestrebungen am Ende des Zweiten Weltkrieges in revolutionäre Politik umzusetzen und dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten? Die Antwort liegt nicht daran, wie demoralisierte Skeptiker (die ihre eigene Mutlosigkeit rechtfertigen wollen) eifrig versichern, dass es der Arbeiterklasse an revolutionärer Entschlossenheit und Mut mangelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren diese Qualitäten im Überfluss vorhanden.
Man wird die Antwort vielmehr im Studium der Politik der Nachkriegsperiode finden. Der wichtigste Grund für das Überleben des Kapitalismus in Europa während der kritischen Zeit, die dem Zusammenbruch von Hitlers Drittem Reich folgte, war der Verrat der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien und Organisationen an der Arbeiterklasse. Sowohl die Kommunistischen Parteien (die als Agenten der Sowjetbürokratie der UdSSR operierten), als auch die sozialdemokratischen Parteien lehnten den Sturz des Kapitalismus in Westeuropa entschieden ab. Die machtvollen Widerstandsbewegungen in Frankreich und Italien wurden von den stalinistischen Führern entwaffnet, die sich gemeinsam mit bürgerlichen Führern und Parteien um die Wiederherstellung der Autorität der kapitalistischen Regierungen bemühten. Auf diese Weise verschafften Stalinisten und Sozialdemokraten der schwachen europäischen Bourgeoisie und ihren amerikanischen imperialistischen Schutzpatronen die nötige Zeit, um die vom Krieg zerrütteten Volkswirtschaften auf kapitalistischer Basis wieder aufzubauen.
Die Politik, die Stalin verfolgte, orientierte sich in keiner Weise an den Interessen der europäischen und internationalen Arbeiterklasse (denen er zutiefst feindlich gegenüberstand), sondern daran, was er für das nationale Interesse des Sowjetstaates hielt. Weil er befürchtete, eine europäische Revolution könnte eine Konfrontation zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten nach sich ziehen, tat Stalin alles in seiner Macht stehende, um einen Kampf der Arbeiterklasse um die Macht zu blockieren und vom Weg abzubringen. Wo sich herausstellte, dass der Einfluss der Sowjetbürokratie nicht ausreichte, um einen Bürgerkrieg zu verhindern, ging er zu offener Sabotage über. Nachdem er Winston Churchill versichert hatte, Griechenland gehöre seiner Auffassung nach zur britischen Einflusssphäre, verweigerte Stalin der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) jede Unterstützung, als nach dem Zusammenbruch der deutschen Besetzung in dem Land der Bürgerkrieg ausbrach. Ein Historiker des Griechischen Bürgerkrieges schreibt: "Die Verluste der KKE, besonders unter ihren Führern, waren beträchtlich. Ohne eine Spur von Gewissenbissen überließ Stalin sie ihrem Verderben." [1]
Ohne diese Atempause für die europäische Bourgeoisie und den amerikanischen Imperialismus wäre der Wiederaufbau Westeuropas nach dem Krieg - von dem das Überleben des amerikanischen Kapitalismus abhing - nicht möglich gewesen. Man darf nicht vergessen, dass erst 1947, zwei Jahre nach dem Krieg, der Marshallplan eingeführt wurde. Zu jener Zeit war die mit dem Kriegsende einhergehende revolutionäre Bewegung, durch die politische Führung der Arbeiterklasse verraten, auf dem Rückzug.
Die Politik der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien bot die politische Gelegenheit zur Restabilisierung des Kapitalismus. Die folgende Expansion der Weltwirtschaft bereitete die materielle Basis für die Stärkung von Illusionen über die Lebensfähigkeit des Nationalreformismus in der Arbeiterklasse. Wie in einem früheren "Goldenen Zeitalter" des Reformismus, den 1890er Jahren, stärkte der rasch wachsende Lebensstandard der Arbeiterklasse das Vertrauen in den Kapitalismus und die Möglichkeiten des Nationalstaates als Instrument des sozialen Fortschritts.
Welche besondere Form der wieder erstarkte Nationalismus jeweils annahm, hing von den politischen und wirtschaftlichen Besonderheiten der einzelnen Länder ab. In den fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten Nordamerikas, Europas und in Japan stärkte der Boom nach 1947 den Glauben, das stetige Wachstum der nationalen Volkswirtschaften würde eine beständige Steigerung des Lebensstandards garantieren und schließlich die sozialen Übel aus der Welt schaffen, die man traditionell mit dem Kapitalismus verbunden hatte. Das rasche Wachstum der sowjetischen Wirtschaft nach Stalins Tod 1953 schien der Perspektive der Bürokratie eine gewisse Berechtigung zu verleihen, es gebe einen nationalen Weg zum Sozialismus. Eine Variante derselben nationalistischen Perspektive fand sich in China, wo Mao den Sozialismus in völlig nationalistische Begriffe fasste. Eine weitere Spielart nationalistischer Perspektiven - das Wirtschaftsprogramm der "Import-Substitution" - wurde zur Leitlinie der Politik bürgerlicher Führer in Indien sowie einer Reihe anderer entkolonialisierter Länder in Afrika, dem Mittleren Osten und Asien.
Etwa zwei Jahrzehnte lang schien es vielen, als sei ein neues nationales Nirwana, eine Alternative zum revolutionären sozialistischen Internationalismus, entdeckt worden. Doch das Ende der Nachkriegsexpansion des Kapitalismus und die immer deutlicheren Krisenzeichen der Weltwirtschaft - seit den frühen siebziger Jahren - unterminierte jede Politik, die auf dem Glauben an die unbegrenzte Wachstumsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften basierte. Während des Booms hatte es den Anschein gehabt, als würden die grundlegenden Kräfte der Weltwirtschaft still und heimlich im Hintergrund wirken und die Entwicklung der nationalen Wirtschaften beständig unterstützen. Doch unter den Krisenbedingungen trat das wahre Verhältnis zwischen globalen und nationalen wirtschaftlichen Triebkräften deutlich zutage. Kein nationales Programm, wie immer es auch aussehen mochte, konnte die Interessen der Arbeiterklasse irgendeines Landes gegen die geballte Kraft des internationalen Kapitals verteidigen.
Der nationale, pseudosozialistische Utopismus der Sowjetbürokratie zerfiel in den 80er Jahren. Was China anbelangt, so sind die langjährigen Debatten über den Charakter des maoistischen Regimes zu einer definitiven Lösung gekommen. In den frühen 50er Jahren sahen Ernest Mandel, Michel Pablo und andere Theoretiker - nachdem sie sich eingeredet hatten, Trotzkis klassische marxistische Konzeptionen seien den neuen politischen Entwicklungen nicht mehr angemessen - in China den Beweis, dass der Sozialismus errichtet werden könne, ohne dass hierzu unabhängige politische Organisationen der Arbeiterklasse nötig seien oder die Massen neue revolutionär-demokratische Machtorgane schaffen müssten, auf die sich die Eroberung der Macht durch das Proletariat gründet. Sie erfanden eine neue politische Kategorie und nannten sie den "deformierten" Arbeiterstaat. Dabei handelte es sich um einen "Arbeiterstaat", dem jegliche echt demokratische Institution fehlte, durch welche die Arbeiterklasse die politische Macht ausüben konnte. Die Evolution dieses Staatstyps hat schließlich zur Verwandlung Chinas in die unverzichtbare Grundlage der weltweiten kapitalistischen Produktion geführt. Es ist heute klar, dass man den 1949 von Mao gegründeten Staat weit zutreffender als "deformierten bürgerlichen Staat" definiert hätte.
Wenn man aus den Erfahrungen der letzten sechs Jahrzehnte einen Schluss ziehen kann, dann den, dass der Kapitalismus nur auf internationalistischer Grundlage besiegt werden kann. Alle nationalistischen Alternativen sind diskreditiert. Die Feier des Ersten Mai muss wieder mit ihrem ursprünglichen Inhalt gefüllt werden: Als Tag, an dem die Arbeiterklasse ihren Internationalismus ausdrückt, und zwar nicht nur im Sinne allgemeiner Erklärungen länderübergreifender Solidarität, sondern als Grundlage ihres politischen Programms und ihrer Perspektive.
Erlaubt mir, diese Betrachtungen abzuschließen, indem ich zum anfänglichen Thema zurückkomme. Sechzig Jahre nach dem Krieg haben sich die Hoffnungen auf eine Welt frei von Armut, Ausbeutung und Unterdrückung nicht erfüllt. Stattdessen nimmt das politische und intellektuelle Klima zunehmend reaktionäre Züge an. Das Projekt der herrschenden Eliten, alle Überbleibsel der sozialen Reformen nach dem Zweiten Weltkrieg auszulöschen, wird unweigerlich von den rückschrittlichsten Ideologien begleitet - allen voran der Religion.
In den Vereinigten Staaten versucht die Bush-Administration, das entscheidende Fundament der demokratischen Rechte in der Verfassung zu zerstören - die Trennung von Kirche und Staat. Die Republikanische Partei ist bemüht, sich zum politischen Arm einer religiösen Gemeinschaft umzuwandeln. Sie versucht, eine Massenbasis für eine rechte Politik zu schaffen, indem sie christlich-fundamentalistische Kirchen und ihre Mitglieder mobilisiert. Im Versuch, unter demoralisierten, orientierungslosen und irrationalen Elementen der amerikanischen Bevölkerung Hysterie zu verbreiten, stellen die Republikaner ihre Gegner als Feinde Gottes dar, die hilflose Christen verfolgen.
Der faschistische Charakter dieser Propaganda wird immer offensichtlicher. Der bekannte amerikanische Historiker Fritz Stern, der als Kind aus Deutschland fliehen musste, lenkte kürzlich die Aufmerksamkeit auf die Ähnlichkeiten zwischen den Propagandamethoden der Nazis und denen der Republikanischen Partei. In der letzten Ausgabe des Magazins Foreign Affairs schreibt Stern: "Ich bin heute besorgt über die unmittelbare Zukunft der Vereinigten Staaten, des Landes, das in den 1930er Jahren deutschsprachigen Flüchtlingen einen sicheren Hafen bot."
Er erinnert daran, wie die Nazis, um Masseneinfluss zu gewinnen, sich religiöser Appelle bedienten: "Dass Gott in den Dienst der nationalen Politik gestellt wurde, war nicht neu, doch Hitlers erfolgreiche Verschmelzung der Rassenlehre mit dem germanischem Christentum war ein ungeheuer kraftvolles Element seiner Wahlkampagnen. Einige erkannten die moralischen Gefahren, die sich aus der Vermischung von Religion und Politik ergaben, doch weit mehr ließen sich davon verführen. Gerade die pseudoreligiöse Verklärung der Politik sicherte ihm in bedeutendem Maße seinen Erfolg, besonders in protestantischen Gebieten." [2]
Dass einer der angesehensten Historiker in den Vereinigten Staaten sich zu solch einer Warnung gezwungen sieht, zeigt, wie tief die amerikanische Demokratie in der Krise steckt. Sechzig Jahre nach dem Sieg über Nazideutschland flirtet die Regierung der Vereinigten Staaten mit einer faschistischen Ideologie und ermutigt die Entwicklung einer faschistoiden Bewegung.
Die ideologische Abhängigkeit der bürgerlichen Politik von religiöser Rückständigkeit und Mystik bezeugt den Bankrott und die Verzweiflung der herrschenden Eliten, und zwar nicht nur in den Vereinigten Staaten. Unmittelbar auf die Hysterie, die die letzten Wochen im Leben von Terri Schiavo in den USA begleitete, folgte die Orgie mittelalterlicher Leichenfledderei um den Tod von Johannes Paul II und zuletzt die Salbung des erzreaktionären Kardinal Ratzinger zu seinem Nachfolger. Die weltweite und allgegenwärtige Berichterstattung über Karol Wojtylas Tod und Ratzingers Wahl, die sich der modernsten technischen Mittel der Massenkommunikation bediente, erinnerte mich an Trotzkis Beschreibung seines Besuchs in Lourdes 1934. "Wie roh, gemein und ekelhaft ist das alles!" schrieb er. "Ein Trödelladen der Wunder, ein Handelskontor der Gnade... Doch das Beste von allem war der apostolische Segen, der in Lourdes vom Rundfunk übertragen wurde. O arme Wundertaten des Evangeliums neben dem drahtlosen Fernsprecher! Was kann aber auch absurder und abstoßender sein, als die Verbindung stolzerregender Errungenschaften der Technik mit der Zauberei des römischen Druidenprimas. Fürwahr - das Denken der Menschheit erstickt in seinen eigenen Exkrementen." [3]
Das entscheidende Element im geistigen Werdegang des neuen Papstes Benedikt war, wie man hört, sein Schreck über die Ereignisse von 1968, als seine Theologievorlesungen von aufrührerischen Studenten unterbrochen wurden. Dass die Proteste dieses Jahres in bedeutendem Maße dazu beigetragen haben, die Verbrechen des Dritten Reiches und ihren fortdauernden Einfluss auf das intellektuelle, politische und soziale Leben in Deutschland genauer zu beleuchten, war für Ratzinger nicht von Relevanz. Er sah in den Massendemonstrationen eine Bedrohung der "Ordnung" - sie überzeugten ihn von der Boshaftigkeit des rationalen Denkens und der Weltlichkeit. Die New York Times berichtete am 17. April, der neue Papst "würde es gerne sehen, wenn sich die Kirche deutlicher gegen den Trend ausspricht, den er für den gefährlichsten überhaupt hält: Dass die Globalisierung schließlich zur globalen Säkularisierung führen könnte."
Was bedeutet im Grunde diese "globale Säkularisierung", die Papst Benedikt als größte Gefahr für die Kirche identifiziert hat? Nichts anderes als die Stärkung derjenigen Tendenzen in der Gesellschaft - wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, kultureller und politischer Art - die den Grundstein für den Triumph des Sozialismus und Internationalismus legen. Und man muss zugeben: Die Befürchtungen des Papstes sind durchaus berechtigt. Die mächtigen objektiven Kräfte, die den größten Einfluss auf die historische Entwicklung ausüben, führen zum Triumph des Internationalismus über den Nationalismus, der wissenschaftlichen Vernunft über den Irrationalismus, einer allumfassenden menschlichen Identität über die exklusive Identität durch Volkszugehörigkeit, Nationalität oder Religion.
Trotz der Rückschläge und Tragödien, die er seit Ende des Zweiten Weltkrieges durchlaufen musste, wurzelt der Sozialismus in der objektiven historischen Logik der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft treibt die Arbeiterklasse als internationale Kraft zurück auf den Weg des Kampfes, und dieser Weg führt unweigerlich zum Sozialismus.
Anmerkungen:
[1] C.M. Wodhouse, The struggle for Greece 1941-49, Chicago, 2002, S. 289.
[2] Fritz Stern, "Lessons from German History", Foreign Affairs (Mai-Juni 2005), S. 17
[3] Leo Trotzki, Tagebuch im Exil, München 1962, S.92