Die Auseinandersetzung in der SPD hat in den vergangenen Tagen erneut heftige Formen angenommen. Parteichef Kurt Beck sprach vor Journalisten von einem "Vernichtungsfeldzug", der gegen ihn geführt werde. Es sei "unanständig", wie mit ihm umgegangen werde. "Ich möchte wenigstens einen Hauch ernst genommen werden", zitiert ihn Der Spiegel.
Auf dem Berliner Landesparteitag bekräftigte der SPD-Vorsitzende anschließend seinen Führungsanspruch und sagte: "Ich stehe". Er wolle sich nicht "hinter einem Baum davon stehlen". Seine anonymen Kritiker nannte Beck "feige".
Am Dienstag forderte er die Loyalität der Bundestagsfraktion ein und betonte erneut: "Klar ist, ich werde kämpfen." Gleichzeitig sagte Beck aber auch: "Wenn ich Teil des Problems sein sollte - ich klebe an keinem Stuhl." Das wurde als verklausulierte Rücktrittsdrohung ausgelegt, was Beck umgehend zurückwies. Erneut sprach er von gezielten Fehlinterpretationen.
Worum geht es?
Der Streit in der SPD ist nicht neu, nimmt aber immer heftigere Formen an. Er ist verbunden mit einem rasanten Mitgliederschwund und immer schlechteren Umfragewerten.
Seit Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) im Bündnis mit den Grünen die Agenda 2010 durchgesetzt und mit Hartz IV ein Instrument geschaffen hat, um Billiglohnarbeit in großem Maßstab einzuführen, wächst der Widerstand in der Bevölkerung gegen diese "Reform-Agenda" und damit gegen die SPD.
Anfangs nahm das die Form von massiven Demonstrationen und Protestaktionen an. Als dann die SPD in einer Landtagswahl nach der anderen hohe Stimmenverluste hinnehmen musste, zog Schröder die Notbremse. Nach dem Motto: "Friss oder stirb!" setzte er vorzeitige Neuwahlen durch. Er war eher bereit, die Macht an die CDU/CSU zu übergeben, als dem Widerstand gegen die Agenda 2010 nachzugeben.
Angela Merkel glaubte, sie könne den verbreiteten Unmut über Rot-Grün für einen weiteren politischen Rechtsruck nutzen, und kündigte im Wahlkampf die Erhöhung der Mehrwertsteuer, eine Steuerreform zugunsten der Reichen und weitere Sozialkürzungen an. Das führte dazu, dass sie in den Wählerumfragen abstürzte und beinahe die Wahl verlor. Trotz einer Stimmenmehrheit von SPD, Grünen und Linkspartei wurde im Herbst 2005 eine Große Koalition gebildet, um durch eine Zusammenarbeit der beiden größten Parteien dem sozialen Widerstand besser entgegentreten zu können.
Unter der Leitung von Franz Müntefering verschärfte die SPD in der Großen Koalition den Agenda-Kurs. Unter anderem erhöhte sie das Rentenalter auf 67 Jahre. Der Niedergang der SPD nahm daraufhin dramatische Formen an. In diesem Frühjahr gab der Parteivorstand die Zahl der Mitglieder mit 532.800 an. Das sind fast 400.000 weniger als zur Zeit der Wiedervereinigung vor knapp zwanzig Jahren. Ganze Ortsgruppen mussten mangels Mitglieder aufgelöst werden. Die SPD-Jugendorganisation, die zu Zeiten Willy Brandts 330.000 Mitglieder zählte, verlor seitdem 85 Prozent der Mitgliedschaft.
Gleichzeitig wuchs der Einfluss der Linkspartei, die im vergangenen Jahr aus der PDS im Osten und der Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) im Westen gegründet wurde. Sie ist inzwischen im Bundestag und zehn von 16 Landesparlamenten vertreten und vor FDP und Grünen drittgrößte Partei der Bundesrepublik. Lafontaine und Gysi lenken den wachsenden Widerstand gegen die SPD auf ihr Konto, auch wenn sie überall dort, wo sie politisch Macht ausüben, wie in Berlin und zahlreichen Städten Ostdeutschlands, genau das Gegenteil von dem tun, was sie in Wahlkämpfen versprechen.
Während die Linkspartei in der Wählergunst zulegt, nimmt die Zustimmung für die SPD rapide ab. Jüngste Umfragen sehen die SPD bei 20 Prozent. Im Osten liegt die Linkspartei ohnehin vorne, und auch im Westen konnte sie bei allen jüngsten Wahlen auf Anhieb in die Länderparlamente einziehen.
Unter diesen Bedingungen forderte SPD-Chef Beck einige "Nachjustierungen" bei der Agenda 2010. Auf seinen Druck hin wurde beschlossen, dass ältere Arbeitnehmer künftig einige Monate länger Arbeitslosengeld bekommen, bevor sie auf Hartz IV gesetzt werden und damit ins soziale Abseits fallen. Als nächstes sollen die Bedingungen für die Anhebung des Rentenalters geringfügig gelockert werden. Beck betont, dass er diese "Nachbesserungen" nicht im Gegensatz zur Agenda-Politik sieht, sondern als notwendige Maßnahmen, um diese durchzusetzen. Ihre praktischen Auswirkungen sind gering. Sie lindern die Not der Betroffen kaum und werden durch immer neue Hiobsbotschaften über Preissteigerungen, Entlassungen und weiteren Sozialabbau überlagert
Beck versucht durch derartige, meist nur symbolische Maßnahmen den Druck der Linkspartei aufzufangen.. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Lafontaine und Gysi konnten triumphieren. "Wir sind die einflussreichste Partei. Alle anderen Parteien reagieren auf uns", erklären sie in jedem Interview.
Als die Linke Ende Januar in Hessen und Niedersachsen - zwei ehemaligen Hochburgen der SPD - in die Landesparlamente einzogen, vollzog Beck einen weiteren Schwenk. Gemeinsam mit der hessischen Landesvorsitzenden Andrea Ypsilanti hatte er vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei kategorisch ausgeschlossen. Weil aber nach der Wahl die rechte CDU-Regierung unter Roland Koch nur mit den Stimmen der Linkspartei hätte abgewählt werden können, änderte Beck seine Haltung. Er gab Ypsilante grünes Licht, sich mit Unterstützung der Linken zur Ministerpräsidentin in Wiesbaden wählen zu lassen.
Die SPD-Rechte reagiert darauf wie von der Tarantel gestochen. Der rechts-konservative "Seeheimer Kreis" mobilisierte eine bis dahin völlig unbekannte Landtagsabgeordnete, die Ypsilanti Wortbruch vorwarf und ihr die Unterstützung bei der Ministerpräsidentenwahl verweigerte. Seitdem haben sich die Angriffe auf Beck verstärkt.
Als im März die Linkspartei auch in die Hamburger Bürgerschaft einzog, beharrte der ehemalige Bürgermeister der Hansestadt Klaus von Dohnanyi (SPD), eine "wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit den Linken" komme unter keinen Umständen in Frage. SPD und Grüne boten sich der CDU in Hamburg als Mehrheitsbeschaffer an. Später unterstützten die Sozialdemokraten die Bildung der ersten schwarz-grünen Regierung auf Landesebene.
Die hysterischen Attacken der SPD-Rechten und die Forderung nach einer systematischen Ausgrenzung der Linkspartei hat nichts mit Berührungsängsten gegenüber alten SED-Kadern zu tun. Einige SPD-Rechte betonen oft, man hätte die mittleren und unteren SED-Kader, die jetzt das Rückgrat der Linkspartei im Osten bilden, gleich nach der Wende in die SPD aufnehmen sollen. Als Klaus von Dohnanyi vor vier Jahren im Auftrag der Regierung Schröder den Aufbau von Sonderwirtschaftszonen im Osten unterstützte, arbeitete er in Mecklenburg-Vorpommern eng mit dem damaligen Arbeitsminister Helmut Holter zusammen, einem Mitglied der damaligen PDS und heutigen Linken.
Die SPD-Rechten wissen, dass die Linkspartei überall dort, wo sie an einer Regierung beteiligt ist, genau das Gegenteil von dem tut, was sie in Wahlkämpfen verspricht. Doch die Tatsache, dass sie sich in ihrer Propaganda gegen die Agenda 2010 und für eine Rücknahme der Hartz-Gesetze ausspricht, genügt, sie als politischen Outlaw zu brandmarken. Jede Partei, die soziale Fragen anspricht und die wachsende soziale Ungleichheit zum Thema macht - und sei es noch so oberflächlich und unernsthaft -, soll für illegitim erklärt und politisch ausgegrenzt werden.
Mit anderen Worten: Geschlagen wird die Linke, doch gemeint sind die Wähler, beziehungsweise die arbeitenden Bevölkerung. Unter allen Umständen soll verhindert werden, dass der wachsende soziale Widerstand sich in irgendeiner Form im offiziellen Politikbetrieb äußert. Die Kritik an Beck lautet daher: Zu schwach, zu weich, zu nachgiebig, zu kompromissbereit.
Die SPD-Rechte betrachtet den Parteiapparat als Instrument, die Bevölkerung zu disziplinieren und für Ruhe und Ordnung im Sinne der herrschenden Elite zu sorgen. Auf den wachsenden Widerstand von unten reagiert sie nicht mit Kompromissen, sondern mit der Knute. Das hat lange Tradition in der SPD. Seit diese Partei vor fast hundert Jahren den Kriegskrediten des Kaisers zustimmte und die Arbeiterklasse auf die Schlachtbank des Ersten Weltkriegs führte, hat sie in allen großen Krisen eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die bürgerliche Ordnung und das kapitalistische System zu retten. Staatsräson ist für sie das wichtigste Parteiinteresse, auch wenn die Partei selbst dabei vor die Hunde geht.
Der Mann des Apparats
Hier kommt Frank-Walter Steinmeier ins Spiel. Während die Flügelkämpfe in der Partei immer heftiger werden, gewinnt dieser Mann des Parteiapparats an Einfluss. Der 52-jährige Außenminister, stellvertretende Kanzler und stellvertretende SPD-Vorsitzende hat sich in seiner ganzen politischen Karriere noch nie einer Bürgerwahl gestellt. Er ist durch und durch sozialdemokratischer Staatsbeamter.
Als enger Vertrauter von Gerhard Schröder leitete er Mitte der neunziger Jahre die niedersächsische Staatskanzlei, wurde dann Schröders Kanzleramtschef und Kontrolleur der Nachrichtendienste, schrieb die grundlegenden Strategiepapiere über die Renten- und Gesundheitsreform, war maßgeblich an der Ausarbeitung der Agenda 2010 beteiligt und gehörte dem Steuerungskreis zur Umsetzung der Hartz-Reformen an.
Steinmeiers Aufstieg in der SPD kennzeichnet die Verwandlung der Partei von einer politischen Organisation, die - wenn auch auf reformistischer Grundlage - einen gewissen sozialen Ausgleich und gesellschaftlichen Dialog anstrebte, in ein Staatsorgan zur Disziplinierung der Bevölkerung.
Doch die SPD-Rechten haben ein Problem: Noch finden Wahlen satt. Und an den Wahlurnen wird die unsoziale Politik der SPD regelmäßig abgestraft. Ein Teil der wachsenden Wut sammelt sich gegenwärtig bei der Linkspartei. Daher häufen sich die Stimmen, die warnen, die Ausgrenzungspolitik könne nicht aufrecht erhalten werden und sei letztendlich kontraproduktiv.
Die Entscheidung des SPD-Parteivorstands, Gesine Schwan für die im nächsten Frühjahr anstehende Wahl des Bundespräsidenten aufzustellen, leitet vor einigen Wochen ein neues Stadium der Auseinandersetzung ein. Da Schwan nur mit Unterstützung der Grünen und der Linken gewählt werden kann, könnte ihr Einzug ins Schloss Bellevue einer rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene den Weg ebnen. Schon früher spielten Präsidentschaftswahlen eine wichtige Rolle bei der Änderung politischer Konstellationen.
Wieder schwankte Kurt Beck. Lange hatte der Vorsitzende signalisiert, er würde auf einen eigenen SPD-Kandidaten verzichten und eine zweite Amtszeit Köhlers unterstützen. Doch dann ließ er sich umstimmen und unterstützte die Kandidatur von Schwan.
Dass die Einbeziehung der Linkspartei in die Bundesregierung ernsthaft erwogen wird, hängt mit der Verschärfung der sozialen Krise zusammen. Sinkende Löhne, steigende Preise und prekäre Arbeitsverhältnisse betreffen mittlerweile Millionen. Die Empörung darüber hat ein Ausmaß angenommen, das jederzeit in offene Auseinandersetzungen umschlagen kann. Die Linke - und die Gewerkschaftsfunktionäre, die ihr nahe stehen - könnte gebraucht werden, um den sozialen Widerstand zu unterdrücken. Das zeigt die Berliner Erfahrung. Bisher hat es keine andere Landesregierung geschafft, derart weitgehende Lohn- und Sozialkürzungen durchzusetzen, wie der rot-rote Berliner Senat.
Obwohl Beck schon in Hessen einer punktuellen Zusammenarbeit mit der Linkspartei das Wort redete, hat sich in jüngster Zeit der innerparteiliche Druck gegen ihn erhöht. Das scheint paradox, hat aber eine sehr einfache Ursache. Eine so genannte "Linksregierung" hätte - wie vor zehn Jahren die rot-grüne Regierung - die Aufgabe, die sozialen Angriffe und den Abbau demokratischer Rechte zu intensivieren. Ein Kanzler Beck wäre dafür zu schwach. Deshalb sind mit der Entscheidung für die Kandidatur von Gesine Schwan für das Präsidentenamt auch die Würfel gefallen für Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat. In welcher Form Kurt Beck das bekannt geben wird - und ob er Parteichef bleiben wird - ist dabei zweitrangig.
Die Feigheit der Linken
Währen die SPD-Rechten bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung arrogant und aggressiv auftreten und das Wählervotum mit Verachtung strafen, verhalten sich die angeblichen Linken um Andrea Nahles und Andrea Ypsilanti unterwürfig und feige.
Nicht ein einziger dieser sogenannten Linken im Parteikader trat der Partei-Rechten ernsthaft entgegen. Als Wolfgang Clement im hessischen Wahlkampf offen gegen die Wahl Ypsilantis auftrat, fand sich niemand in der Partei, der den Parteiausschluss dieses rechten Provokateurs durchgesetzt hätte. Stattdessen werden in Hinterzimmern politische Deals und Manöver vereinbart, die immer dazu führen, dass die Rechten die Oberhand behalten und die Auseinandersetzung über die Medien manipulieren können.
Unter keinen Umständen will sich einer der selbst ernannten Linken zum Sprecher der wachsenden Opposition in der Bevölkerung machen. Das war schon vor zehn Jahren mit Oskar Lafontaine so. Als Kanzler Schröder damals erklärte, mit ihm werde es keine Politik gegen die Wirtschaftsverbände geben, packte Lafontaine seine Sachen und überließ Schröder das Kanzleramt und die Partei.
Vieles was er heute vollmundig anprangert, hätte Lafontaine vor zehn Jahren verhindern können, wenn er sich an die Bevölkerung gewandt und gegen Schröders Rechtskurs gekämpft hätte. Stattdessen zog er sich jahrelang ins Private zurück. Er wurde auf der politischen Bühne erst wieder aktiv, als der Widerstand gegen die Agenda-Politik außer Kontrolle zu geraten drohte. Im Bündnis mit der PDS versucht er nun, eine Radikalisierung der Bevölkerung in den ausgetretenen Bahnen sozialreformistischer Illusionen zu halten.
Mit ihrer grenzenlosen politischen Feigheit gegenüber den SPD-Rechten haben die angeblichen Linken deutlich gemacht, dass die SPD seit geraumer Zeit auch die letzten Verbindungen zur arbeitenden Bevölkerung gekappt hat. So ist denn auch der gegenwärtige Streit in der SPD Teil des Verwesungsprozesses einer Partei, die vom Standpunkt des gesellschaftlichen Fortschritts längst das Zeitliche gesegnet hat.