Vor fünf Jahren, am 1. Januar 2005, trat die Hartz-IV-Reform in Kraft. Das vierte Gesetz zur Arbeitsmarktreform, die von der Hartz-Kommission im Auftrage der rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder entwickelt worden war, sah weitreichende Änderungen bei der Arbeitslosenversicherung vor, darunter die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Seit 2005 bekommen Arbeitslose nur noch ein Jahr lang Arbeitslosengeld I (ALG I), das sich an der Höhe des letzten Lohnes bemisst. Danach erhalten sie Arbeitslosengeld II (ALG II). Dessen Höhe ist - ähnlich wie bislang die Sozialhilfe - unabhängig vom bisherigen Einkommen und beträgt derzeit 359 Euro monatlich. Selbst wer jahrzehntelang gearbeitet und in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hat, ist nach einem Jahr Arbeitslosigkeit zum Leben in Armut verdammt.
Hinzu kommt, dass Vermögensbestandteile bis auf einen geringen Freibetrag angerechnet und einbezogen werden. Wer also etwas fürs Alter beiseitegelegt hat, muss es aufbrauchen, bevor er ALG-II-Leistungen bekommt. Außerdem sind ALG II-Bezieher verpflichtet, sich "aktiv um ihre Integration in den Arbeitsmarkt" zu bemühen. Die so genannten "Zumutbarkeitsregeln" wurden abgeschafft, so dass sie extrem niedrig bezahlte Jobs, die ihrer Qualifikation nicht entsprechen, und weit entfernte Arbeitsplätze in Kauf nehmen müssen. Weigern sie sich, droht ihnen die Kürzung oder der Entzug der Leistung.
Die Verantwortlichen hatten die Hartz-IV-Reform damit begründet, dass sie die Zahl der Arbeitslosen drastisch reduzieren werde. Das ist nicht eingetroffen, wie statistische Untersuchungen beweisen.
Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA), das die Reform regelmäßig untersucht, zieht zwar nach fünf Jahren eine "verhalten positive Hartz-IV-Bilanz". In der "Tendenz" würden die angestrebten Ziele der Arbeitsmarktreform erreicht. Doch auch IAB-Direktor Joachim Möller muss große Probleme etwa bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen einräumen. Nur verhältnismäßig wenige kehrten nach jahrelangem ALG-II-Bezug in ein normales Berufsleben zurück.
"Der Ausstieg aus Hartz IV gelingt immer noch relativ selten", schreiben die Autoren der Studie. Zudem gelangen sie zum Schluss, dass die von den Vermittlern ausgewählten Förderinstrumente häufig zur Lösung der Probleme von Erwerbslosen ungeeignet seien.
Vertreter von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden haben die Hartz-IV-Reform deshalb für "gescheitert" erkklärt. In einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen Zeitung sagte Wohlfahrts-Verbandschef Ulrich Schneider: "Fünf Jahre nach der Hartz-IV-Reform ist es nicht gelungen, die Zahl der Betroffenen merklich abzubauen." So sei die Anzahl der erwerbsfähigen ALG-II-Bezieher seit der Einführung im Jahre 2005 konstant geblieben. "Es ist auch nicht gelungen, Langzeitarbeitslose häufiger in Arbeit zu vermitteln."
Nach Auswertungen des Wohlfahrts-Verbandes lag die Anzahl der erwerbsfähigen Hartz IV-Bezieher und Bezieherinnen im April 2009 bei ca. 4,93 Millionen. Im September 2005 hatte die Anzahl der erwerbsfähigen Arbeitslosen bei rund 5,15 Millionen Menschen gelegen. Konstante Zahlen liegen dem Verband auch für Kinder vor, die auf Hartz-IV-Leistungen (Sozialgeld) angewiesen sind. Im September 2005 waren 1,78 Millionen Kinder unter 14 Jahren von Hartz IV abhängig, im April 2009 und danach waren es rund 1,74 Millionen.
Rund die Hälfte der ALG-II-Bezieher erhält Sozialleistungen länger als drei Jahre. "Wer in Hartz IV ist, der ist in der Perspektivlosigkeit. Das ist das Fazit, das man ziehen muss", so Ulrich Schneider.
"Gescheitert" kann man die Hartz-IV-Reform allerdings nur nennen, wenn man unterstellt, sie habe sich tatsächlich gegen die Arbeitslosigkeit gerichtet. In Wirklichkeit verfolgte sie - wie auch die übrigen Bestandteile der Agenda 2010 - ein anderes Ziel. Indem sie den Druck auf die Arbeitslosen erhöhte, diente sie der rot-grünen Bundesregierung als Hebel, um das gesamte Tarifgefüge und die bis dahin relativ hohen deutschen Löhne aufzubrechen und einen riesigen Niedriglohnsektor zu schaffen. In dieser Hinsicht war Hartz IV höchst erfolgreich.
Weil Langzeitarbeitslose als Folge von Hartz IV gezwungen sind, jeden Arbeitsplatz anzunehmen, sind die Löhne immer weiter gesunken. Inzwischen befinden sich die Reallöhne wieder auf dem Stand, den sie vor 25 Jahren, Mitte der 1980er Jahre hatten. Millionen arbeiten in Jobs, mit denen sie weder sich selbst, geschweige denn eine Familie ernähren können.
Rund neun Millionen Menschen arbeiten in Teilzeitjobs, sieben Millionen in so genannten Minijobs mit einem maximalen Monatseinkommen von 400 Euro. Durchschnittlich über 300.000 Menschen befinden sich, meist gezwungen durch die Behörden, in Ein-Euro-Jobs. Hier verdienen sie zusätzlich zum ALG-II-Satz pro Arbeitsstunde einen Euro.
Auch die Zeitarbeit ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Bis zu einer Million Menschen leisteten zeitweise diese moderne Form von Sklavenarbeit. Sie wurden allerdings aufgrund der Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise als erste entlassen, so dass sich ihre Anzahl derzeit nur noch auf die Hälfte beläuft.
Inzwischen sind Niedriglöhne in Deutschland weit verbreitet, wie eine Anfang Juli veröffentlichte Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen belegt. 6,5 Millionen Menschen - mehr als jeder fünfte Beschäftigte - arbeiten in Westdeutschland für Stundenlöhne unter 9,62 Euro und in Ostdeutschland unter 7,18 Euro. Das ist die von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) festgelegte und wissenschaftlich anerkannte Niedriglohngrenze.
Jeder dritte im Niedriglohnbereich Beschäftigte arbeitet für weniger als sechs Euro, 1,2 Millionen für weniger als fünf Euro brutto in der Stunde. Auch Vollzeit-Beschäftigte sind nicht vor niedrigen Stundenlöhnen geschützt. Fast ein Viertel der Beschäftigten im Niedriglohnbereich verdient trotz voller Arbeitszeit weniger als 800 Euro brutto im Monat. 1,3 Millionen Menschen beziehen zusätzlich Hartz-IV-Gelder, um das Existenzminimum zu erreichen.
Die Einführung von Hartz-IV und die Ausbreitung des Niedriglohnbereichs haben auch direkte Auswirkungen auf Branchen, in denen zuvor verhältnismäßig hohe Löhne gezahlt wurden. Die Beschäftigten des Autobauers Opel können davon ein Lied singen. Ihre Löhne, die noch vor zehn Jahren rund 30 Prozent über dem allgemeinen Tarif der Metall- und Elektroindustrie lagen, liegen inzwischen darunter.
Die von den Gewerkschaften in vielen Tarifverträgen vereinbarten Öffnungsklauseln ermöglichen den Unternehmen außerdem betriebliche Abweichungen. Millionen Arbeiter erhalten weniger als im Lohntarif vereinbart. Gleichzeitig sind immer weniger Unternehmen überhaupt noch tarifgebunden. Sie müssen sich deshalb nicht an den minimalen Vereinbarungen orientieren, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände getroffen haben. Das trifft inzwischen schon auf mehr als jeden dritten Betrieb zu. Besonders stark ist die Tarifflucht im Osten: Hier ist nur noch jedes vierte Unternehmen tarifgebunden. So sanken die Reallöhne auch in diesem Jahr, trotz Tariferhöhungen, allein im Frühjahrsquartal 2009 um 1,2 Prozent.
Die Kritik des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) an der Hartz-IV-Reform ist daher heuchlerisch und zynisch. So verlangte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach (Grüne) die Entschärfung der Zumutbarkeitsregeln und der Sanktionen für Arbeitslose sowie die Einführung flächendeckender Mindestlöhne von zunächst 7,50 Euro pro Stunde. Durch die Hartz-Reformen würden Lohndumping und Niedrigstlöhnen Tür und Tor geöffnet, sagte sie. "Arbeitslose müssen ja praktisch jeden noch so schlecht bezahlten Job annehmen."
Dies erinnert an den Ruf "Haltet den Dieb". Gewerkschaftsvertreter saßen gemeinsam mit Vertretern der Wirtschaft und der Bundesregierung in der Kommission, die unter Leitung von Peter Hartz die nach ihm benannten Reformen ausarbeitete. Als Vorsitzende des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit ist Buntenbach zudem für die Umsetzung der Hartz-Reform verantwortlich.
Die Zielrichtung der vierten Hartz-Reform war nie ein Geheimnis gewesen. Schon im Sommer 2004 hatten Zehntausende über mehrere Monate hinweg dagegen demonstriert. Die Gewerkschaften hatten sich damals bewusst nicht an diesen Protesten beteiligt. Und die Grünen saßen in der Bundesregierung und stärkten Kanzler Schröder den Rücken, der erklärte, er werde sich nicht "der Straße" beugen.
Auch heute unterstützen alle Bundestags-Parteien Hartz IV, wobei einige versuchen, mit kosmetischen Kurskorrekturen von ihrer Verantwortung abzulenken.
So hat der stellvertretende Vorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA, Gerald Weiß, rechtzeitig zu Weihnachten ein Weihnachtsgeld für Hartz-IV-Empfänger angeregt. "Mit einem kleinen Weihnachtszuschuss könnten Hartz-IV-Empfänger Heiligabend gelassener entgegensehen", sagte er der Bild -Zeitung. Bis zum nächsten Weihnachtsfest dürfte dieser Vorschlag wieder vergessen sein.
SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte kurz vor Weihnachten, langjährig Versicherten eine höhere Unterstützung zu zahlen. Das würde nicht nur die betroffenen Arbeitslosen, sondern auch die Unternehmen begünstigen. "Die murren schon lange darüber, dass sie ihre betagteren Mitarbeiter nicht mehr so leicht freisetzen können wie früher", schreibt Spiegel online in einem Kommentar zum Jahresende. Setze sich Gabriel durch, würde die "verfehlte Frühverrentungspolitik der achtziger und neunziger Jahre wiederbelebt".
Die derzeitige schwarz-gelbe Bundesregierung will Langzeitarbeitslosen etwas mehr von ihrem Vermögen belassen. Doch diese Maßnahme betrifft gerade 11.000 Haushalte oder 0,2 Prozent der Betroffenen - sowie die Versicherungsgesellschaften. Diese können nun ihre Altersvorsorgeprodukte "endlich mit dem Siegel,hartzsicher’ verkaufen". (Spiegel online).
Die Proteste gegen Hartz IV haben wesentlich zur Entstehung der Linkspartei beigetragen. Oskar Lafontaine und andere altgediente SPD- und PDS-Politiker erachteten es als Warnsignal, dass sich eine Bewegung außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften und der SPD entwickelte. Sie setzten sich an die Spitze der Proteste, um sie ins Leere laufen zu lassen. Inzwischen fordert die Linkspartei nicht einmal mehr die Abschaffung der Hartz-Gesetze, sondern nur noch eine Anhebung der Regelsätze.
Wie es weitergehen könnte, zeigt der Vorschlag des so genannten Wirtschaftsweisen Wolfgang Franz. Er hat angeregt, das Arbeitslosengeld II von 359 Euro auf gut 250 Euro im Monat zu kürzen. Er stützt sich dabei auf ein Modell zur Weiterentwicklung von Hartz IV, das der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, dem Franz vorsteht, der Bundesregierung vorgelegt hat. Das Kernstück der Reform sei "eine Absenkung des Regelsatzes um 30 Prozent".
Franz hatte sich schon vor zwei Jahren in Spiegel online für Stundenlöhne unter drei Euro ausgesprochen. Das sei das beste Mittel, um Jobs zu schaffen.