Wenn am heutigen Freitag in der Ukraine die Fahnen geschwenkt und Festreden über die nationale Identität gehalten werden, kann dies nicht über die soziale Katastrophe hinwegtäuschen, die sich in den zehn Jahren seit der "Unabhängigkeit" entwickelt hat.
Mit Prunk und Gloria wollen Staatspräsident Leonid Kutschma, der russische Staatspräsident Wladimir Putin, der neue russische Botschafter in Kiew und ehemaliger Gazprom-Vorsitzende Wiktor Tschernomyrdin sowie der polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski und andere Staatsgäste den zehnten Jahrestag der Unabhängigkeit feiern.
Als am 24. August 1991 die unabhängige Ukraine ausgerufen wurde und am ersten Dezember desselben Jahres neunzig Prozent der Bevölkerung dies in einer Abstimmung bestätigten, erhofften sich davon nicht wenige eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und mehr Demokratie. Wenige Tage später besiegelten dann der erste ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk, der russische Präsident Boris Jelzin und das weißrussische Staatsoberhaupt Stanislaw Schuschkjewitsch mit der Auflösung der Sowjetunion und der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) endgültig die Eigenstaatlichkeit der Ukraine.
Seiher bemüht man sich krampfhaft, Schulkindern ein Nationalbewusstsein anzuerziehen. Der 24. August steht dabei im Zentrum der "Aufklärung". In einem Geschichtsbuch für 12-Jährige werden die Kinder aufgefordert, die Unabhängigkeitserklärung vom 24. August 1991 zu "ehren", den entstandenen Nationalstaat zu "lieben, zu hegen und seine Macht zu stärken" und das "Wahre" gegen das "Falsche, das Sowjetische" zu verteidigen.
Mangels einer eigenen nationalstaatlichen Tradition - das heutige Staatsgebiet der Ukraine war Jahrhunderte lang zwischen Litauen, Polen und Russland umkämpft und gehörte ab dem 19. Jahrhundert fast vollständig zum zaristischen Russland - wird auf vorchristliche Zeiten zurück gegriffen, um den Nationalismus zu begründen. "Bei der Formierung der ethnischen Zusammensetzung des ukrainischen Wesens", fährt das Schulbuch fort, habe "zweifellos die Tryella-Kultur" aus dem Jahre 4000 bis 2000 vor Christi eine außerordentliche Bedeutung gehabt. Das mache den "ukrainischen Menschen" dem "Weißrussen und Russen" überlegen, der Ukrainer verstehe mehr vom "Demokratismus" und habe schon "damals", in der vorchristlichen Welt, große internationale Autorität besessen.
Diese nationalistische Getöse kann allerdings nicht die Tatsache verdecken, dass die Abeiterklasse einen schrecklichen Preis für die Unabhängigkeit bezahlt hat. Ebenso wie in allen anderen, aus der Sowjetunion hervorgegangenen Staaten und Russland selbst hat sich auch in der Ukraine gezeigt, dass staatliche Unabhängigkeit und kapitalistische Restauration keine Alternative zur wirtschaftlichen Stagnation darstellen, die das Endstadium der Sowjetunion kennzeichnete. Im Gegenteil, die herrschende Bürokratenschicht hat damit das Zerstörungswerk vollendet, dass sie in den zwanziger Jahren mit ihrem Aufstieg unter Stalin begonnen hatte.
Die Initiative zur Unabhängigkeit ging von den Spitzen der herrschenden Bürokratie selbst aus. Angesichts einer tiefen gesellschaftlichen Krise schufen sie sich mit der Einführung kapitalistischer Eigentumsformen eine neue gesellschaftliche Grundlage. Teile der alten stalinistischen Führungsschicht mauserten sich, unterstützt von den Bankern und Politikern der westlichen Welt, durch Betrug und Diebstahl zur neuen Elite. Dabei zerschlugen sie nicht nur die staatlichen Strukturen der Sowjetunion, sondern auch alle ihre sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften, die letztlich ein Erbe der Oktoberrevolution waren, und erzeugten eine unbeschreibliches Maß an sozialer Ungleichheit.
Die Ukraine hat als größter Flächenstaat Europas fast 50 Millionen Einwohner. Von diesen besitzen 2 Prozent mehr als 94 Prozent des nationalen Reichtums. Diesen wenigen Neureichen steht die Masse von Besitzlosen gegenüber.
Wachsende Armut
46 Prozent der Bevölkerung verdienen heute weniger als 2 Dollar am Tag. Dem stehen westeuropäischen Preise für die meisten Lebensmittel und Textilien gegenüber. Die Löhne für Arbeiter haben sich seit 1990 um 70 Prozent verringert. Doch während der durchschnittliche Monatslohn 1999 noch 47 Dollar betrug, lag der Durchschnittslohn im ersten Quartal 2000 bei nur noch 39 Dollar. Die Rente lag 1999 noch bei 16 Dollar im Monat. Die Mindestrente wird nunmehr mit 15 Dollar beziffert, ein Viertel des Existenzminimums, das offiziell mit 54 Dollar angegeben wird. Die landwirtschaftliche Produktion hat sich gegenüber 1990 halbiert. Die meisten Bewohner von Großstädten versuchen bei Verwandten oder in ihren Vorstadtgärten selbst Gemüse anzupflanzen, um zu überleben.
Laut offiziellen Quellen liegt die Arbeitslosigkeit bei über zwei Million oder 11,4 Prozent. Die Dunkelziffer ist laut Experten aber weitaus höher. Trotz eines Anstiegs des Bruttosozialprodukts von 9,4 Prozent in diesem Jahr beträgt das Bruttoinlandsprodukt heute 60 Prozent weniger als zu Sowjetzeiten. Die Industrieproduktion, die in diesem Jahr um 18,8 Prozent stieg, liegt immer noch 70 Prozent unter dem Niveau von 1991.
In der Ukraine leben heute über 1,5 Millionen Kinder auf der Straße. Die Sterberate junger Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren ist rasch angestiegen. Das früher hohe Niveau der Schulbildung ist enorm gesunken.
Von den geschätzten zwei Millionen Frauen, die international im Frauenhandel geschmuggelt und zur Prostitution gezwungen werden, kommen 40% aus Osteuropa, über 100.000 davon aus der Ukraine. 70-80 Prozent davon sind Mädchen unter 18 Jahren. Die meisten der nur 37 Ermittlungsfälle wegen Frauenhandel, die in der Ukraine in den letzten drei Jahren angestrengt wurden, endeten mit Freisprüchen.
In der Ukraine sterben Menschen bei dem Versuch, Hochspannungsleitungen zu stehlen, um das darin enthaltene Kupfer zu verkaufen. Die Lebenserwartung für Männer ist von 67 Jahren auf 58 Jahre gesunken. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. Seit den Anfangsjahren der Sowjetunion besiegte Krankheiten wie Tuberkulose, schwarze Pocken, Gelbsucht, Typhus und Cholera treten immer häufiger wieder in Erscheinung.
So veröffentlichte am Dienstag der Fernsehsender Ukraina Novyy Kanal in der Ostukraine eine Erklärung der Millionenstadt Dnipropetrowsk, wonach sich in der Stadt eine Tuberkulose-Epidemie ausbreite. Bisher erkrankten 17.000, darunter 9.000 Kinder, wobei die Dunkelziffer weitaus höher vermutetet wird. Der stellvertretende Bürgermeister Vasyl Povkow erklärte im Fernsehen, das "bereits 170 Menschen in diesem Jahr der Tuberkulose erlegen sind". Das sind doppelt so viele wie im Vorjahr.
Im Grenzfluss zwischen Moldawien und der Ukraine, dem Dnestr, wurde vergangene Woche das Cholera-Gen "El Tor Vibrio" entdeckt, das bei einer etwas höheren sommerlichen Wassertemperatur zum Auslöser einer Cholera-Epidemie werden kann. Das Dnestr-Gebiet ist ein Kur- und Erholungsgebiet mit internationalem Ruf. Seit 1996 ist dies der fünfte derartige Fall.
"Ein zweites Tschernobyl"
Der Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids in Osteuropa und den GUS-Staaten erhöhte sich innerhalb des Jahres 2000 von 420.000 auf über 700.000 Fälle. Dramatisch angestiegen ist die Zahl in der Ukraine und Russland, wo sie sich mehr als verdoppelt hat. Ende 2000 waren es etwa 300.000 Fälle, im Jahr zuvor noch 130.000.
In der Ukraine haben sich laut einem Bericht der Vereinten Nationen (Unaids) im vergangenen Jahr mehr als 240.000 angesteckt. Mitte Juni gab die UNO in Kiew bekannt, dass dort inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen infiziert sind.
Der Vorsitzende des ukrainischen Komitees zur Bekämpfung der Rauschgiftsucht und zur Vorbeugung gegen Aids, Waleri Iwasjuk, hatte schon 1997 vor einem "zweiten Tschernobyl" gewarnt. Die erste deutliche Zunahme war zwischen 1995 und 1996 zu beobachten, als sich die Infektionen innerhalb eines Jahres verzehnfachten. Das HIV-Virus breitet sich seitdem in Osteuropa schneller als anderswo auf der Welt aus, wie die polnische Wochenzeitung Polityka unter Berufung auf internationale Statistiken schreibt. Besonders viele Fälle werden aus den Zentren der Schwerindustrie in Donesz, Charkow und Dnipropetrowsk sowie von der Krim gemeldet.
Laut der Unaids werden im Jahre 2010 sechs Prozent der ukrainischen Bevölkerung mit AIDS infiziert sein. Als Gründe dafür nennt der Bericht: "Keine öffentliche Aufklärung, Armut und Arbeitslosigkeit sowie der Zugang zu billigen Drogen haben diese dramatische Entwicklung hervorgebracht".
Katastrophen in der Industrie
Das jüngste Beispiel des wirtschaftlichen Niedergangs seit der Unabhängigkeit ist eine ganze Serie von Methangasexplosionen in ukrainischen Bergwerken.
Am vergangenen Sonntag verbrannten 37 Bergarbeiter aus dem Doneszgebiet in der südostukrainischen Stadt Zasiadko bei einem Feuer im größten Bergwerk der Ukraine. Dutzende von Arbeitern wurden mit schweren Verbrennungen in die Krankenhäuser eingeliefert. Viele schweben noch in Lebensgefahr. Zehn der Bergleute werden noch immer vermisst. Für sie besteht keine Hoffnung mehr, da das Feuer in 1200 Meter Tiefe mit dem vorhandenen technischen Gerät der Feuerwehr nicht gelöscht werden kann. Auch kann die Feuerwehr das Feuer nicht mit Wasser löschen, da die Grube sonst geflutet würde.
Im gleichen Bergwerk waren schon im Mai 1999 41 Bergleute bei einer Explosion zu Tode gekommen. Die ukrainischen Bergwerke gelten nach den chinesischen als die unsichersten der Welt. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine kürzte jede Regierung die Subventionen im Bereich der Sicherheit und der Beschaffung von neuer Ausrüstung, was zur ständig steigenden Anzahl von Unfällen führte. Laut offiziellen Zahlen starben im letzten Jahr 318 Bergarbeiter und in diesem Jahr sind es schon 121.
Die Bergarbeiter von Zasiadko stehen unter starkem Druck seitens der Geschäftsleitung und der Regierung Kutschma, da das Jahresziel von 4 Millionen Tonnen Kohle erreicht werden soll. Mit dem Erreichen dieses Abbauziels steigen auch die Chancen für eine erfolgreiche Privatisierung, ließ die Geschäftsleitung die Arbeiter wissen.
In anderen Bereichen der Wirtschaft sieht es genauso aus. An jedem Tag des letzten Jahres verletzten sich 95 Arbeiter, 30 davon so schwer, dass sie auf Dauer körperlich behindert bleiben. Diese offizielle Statistik veröffentlichte das Arbeitsministerium in Kiew. Insgesamt verloren 1325 Arbeiter im letzten Jahr ihr Leben am Arbeitsplatz. 800.000 Mechaniker haben keine ausreichenden Sicherheitsbedingungen am Arbeitsplatz. Rund 9000 Fabriken sind in einem gefährlichen Zustand. Eine kurze Überprüfung ergab, das 37.000 Arbeiter gesundheitlich gefährdet sind.
Pressezensur und demokratische Rechte
Ein Sozialwissenschaftler aus Moskau meinte kürzlich, die stark behinderte Presse Russlands blühe "in vollster Demokratie", wenn man sie mit der Pressefreiheit der Ukraine vergleiche. Dort werden unliebsame Zeitungen, TV- und Radiostationen mit hohen Steuern belegt oder mit fingierten und falschen Unterlagen versorgt, um sie auszuschalten.
Wenn dies nicht funktioniert, werden Journalisten ermordet oder verschleppt. Der bekannteste Fall war der Mord an Georgij Gongadse vor einem Jahr, der sich bis April dieses Jahres zu einer Staatskrise ausweitete. Gongadse, ein ehemaliger Mitarbeiter Kutschmas, hatte Dokumente veröffentlicht, die diesen kompromittierten.
Wie die Journalistengewerkschaft mitteilte, sind in den zehn Jahren seit der Unabhängigkeit bisher 41 Journalisten durch Gewalt ums Leben gekommen. Teils fielen sie mysteriösen Unfällen zum Opfer, teils wurden sie auf offener Strasse erschossen. Weder die Täter noch die Auftraggeber wurden je ermittelt.
Der jüngste Fall ist der brutale Mord an dem TV-Journalisten Igor Alexandrow aus der ostukrainischen Stadt Slowyansk nahe der Großstadt Donesz. Er wurde am 4. Juli von mehreren Schlägern mit Baseballschlägern in seinem Büro totgeschlagen. Alexandrow hatte in seiner Sendung Tor über die Korruption und Verschwörungen zwischen Polizei, Industriekapitänen, Politikern und einem Oligarchen aus Donesz berichtet.
Politische Verhältnisse
Seit der Unabhängigkeit der Ukraine prägen Intrigen und ständige Machtkämpfe zwischen verschiedenen Flügeln der ehemaligen stalinistischen Elite das "demokratische" Bild des Parlaments.
Die Karriere des Präsidenten Leonid Kutschma ist exemplarisch für den Aufstieg vom alten engstirnigen Bürokraten zum selbstsüchtigen Vertretern des Kapitals. Kutschma, als Geheimdienstmann jahrelang Direktor der größten und damals wichtigsten Raketenfabrik in Dnipropetrowsk, stützte sich seit Beginn seiner Machtübernahme 1994 auf verschiedene Gruppen aus allen politischen Lagern - von Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberalen, Konservativen über Grüne bis hin zu rechten Ultranationalisten.
Seit April bilden Kommunisten und russlandnahe Oligarchen seine wichtigste parlamentarische Basis. Die Gongadse-Krise überlebte er nur dank dieser Gruppierungen. Sie organisierten im April eine Mehrheit im Parlament und setzten mit einem Misstrauensvotum den eher westlich orientierten ehemaligen Banker Juschtschenko als Ministerpräsident ab.
Keine der politischen Fraktionen und Gruppen im 445 Sitze starken Parlament (Rada), weder in Kutschmas Bündnis noch im neuen Siebenparteienbündnis der Oppositionsführer Julia Timoschenko (Mutterlandspartei) und Alexander Moros (Sozialistische Partei der Ukraine (SPU)), vertritt die Interessen der breiten Bevölkerung.
Julia Timoschenko, auch "schöne Julia" oder "Gasprinzessin" genannt, ist Millionärin und stammt ebenfalls aus dem Clan von Dnipropetrowsk. Dieser Clan übernahm Mitte der 90er Jahre die politische Macht in der Ukraine, spaltete sich jedoch später in verschiedene Teile. Timoschenko war Direktorin eines der größten Energieunternehmen, bevor sie unter Kutschma als Energieministerin die Gaswirtschaft reorganisierte. Im Januar dieses Jahres wurde sie abgesetzt und lief zur Opposition über. Seither besitzt sie die Sympathien westlicher Banken und Politiker und wird als ernst zu nehmende Kandidatin für die Wahlen im März nächsten Jahres angesehen.
Die derzeit größte Partei ist die alte Kommunistische Partei der Ukraine (KPU). Sie erreicht als einzige einen Wähleranteil von bis zu 25 Prozent und belegt zur Zeit 112 Sitze im Parlament. Ihren Einfluss nutzte sie schon mehrmals zur Aufrechterhaltung der politischen Stabilität in Krisenzeiten. Immer wenn die soziale Lage sich zuspitzt - wie während der Bergarbeiterproteste 1998 oder der Gongadse-Krise - verteidigt die KPU den Status Quo.