Eine Würdigung Wadim Rogowins

Auf einer Versammlung in Moskau gedachten am 15. Mai mehr als 75 Personen des 65. Geburtstags des russischen marxistischen Historikers und Soziologen Wadim Z. Rogowin. Unter ihnen waren überlebende Kinder russischer Mitglieder der Linken Opposition, die vom stalinistischen Regime ermordet worden waren, Wissenschaftler, die mit Rogowin am Moskauer Institut für Soziologie gearbeitet hatten, Vertreter mehrerer sozialistischer Tendenzen in Russland und viele Freunde. An dieser Stelle veröffentlichen wir den Redebeitrag von Wadims Frau Galina Rogowina-Waluschenitsch, die die Versammlung organisiert hat.

Ich begrüße alle, die hergekommen sind, um den großen Menschen und Wissenschaftler Wadim Sacharowitsch Rogowin zu ehren.

Ich darf heute mit vollem Recht Wadims Worte zitieren: "Ich habe meine Pflicht gegenüber der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft erfüllt", denn ich habe meinerseits meine Pflicht gegenüber Wadim erfüllt. Der heutige Tag ist einer der schönsten meines Lebens, da die Aufgabe, der mein Mann sein Leben gewidmet hat, heute abgeschlossen worden ist. Der letzte, abschließende Band seiner historischen Reihe "Gab es eine Alternative?" (1) ist erschienen.

Michael Illiarionowitsch Wojekow, der vor mir sprach, hat bemerkt, dass Wadim das Interesse an diesem Thema bereits in seiner Jugend entwickelte. Das stimmt. Nach Wadims eigenen Erinnerungen ging das Interesse sogar bis in die Kindheit zurück. Zum ersten Mal interessierte er sich in seinem dreizehnten Lebensjahr für diese Problematik. Es war der Feiertag anlässlich Stalins 70. Geburtstag. Während alle vor Begeisterung jubelten, wandte er sich mit der Frage an seinen Vater: "Papa, warum sind alle Bolschewiki, die die Revolution gemacht haben, umgekommen und leben heute nicht mehr?" Die Antwort des Vaters hat ihn nicht befriedigt. Und er hat sich später erinnert, dass ihm damals mit dreizehn Jahren der Gedanke kam: "Ist Stalin nicht vielleicht ein Verbrecher?"

Dieser Gedanke wurde zum Anstoß für sein schöpferisches Leben. Er hat seine Jugendjahre vorwiegend in Bibliotheken zugebracht, wie er später erzählte, und hat alte Zeitungen, Journale studiert, um sich Stück für Stück Material über die Linke Opposition zusammenzusuchen, über die Revolutionäre, die sich gegen Stalin und das Stalinsche Regime gewandt hatten.

Sein gesamtes Leben widmete er dem Studium der Linken Opposition. Selbst als Soziologe übertrug er ihre Vorstellungen auf das Studium der sozialen Beziehungen in der Sowjetgesellschaft - auf die Probleme der sozialen Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit und von Nichtarbeitseinkommen.

Als ab 1985 seine Artikel in Zeitungen veröffentlicht wurden, hatten sie einen enormen Erfolg. Seine Schriften erschienen in hohen Auflagen. Er war begeistert über die kolossale Menge an Briefen, die zu seinen Artikeln eingingen. Er war stolz darauf, dass seine wissenschaftlichen Stellungnahmen Anerkennung in der Bevölkerung fanden und seine Ideen, für die er glühte und lebte, einen öffentlichen Widerhall fanden.

Ich glaube, dass ihm dieser Anstoß die Hoffnung gab, die wichtigste Aufgabe seines Lebens verwirklichen zu können. Bis dahin war er mit seinem Interesse für Trotzki und die Linke Opposition allein. Er konnte mit niemandem über das Thema sprechen. Er hatte die tragische Vernichtung der bolschewistischen Partei durch Stalin in sich aufgenommen, in seinem Inneren durchlebt und trug sie in seinem Herzen, seiner Seele und seinem Geist.

Bei uns zu Hause sind nur sehr wenige faktische Aufzeichnungen verblieben, die ihm als Grundlage für seine Ausarbeitungen dienten. Es ist erstaunlich, was für eine Seele und was für ein Herz er gehabt haben muss, um all das in sich zu tragen, ohne jede Möglichkeit sich über das auszutauschen, was ihn so leidenschaftlich bewegte. Er hatte keine Freunde und Gleichgesinnte. Das war die Tragödie, mit der er lebte.

Wadim erzählte mir erstmals im Jahre 1986 von seiner Absicht, eine große historische Arbeit zu schreiben. Damals gab es noch keine Möglichkeit, einen solchen Plan unmittelbar in die Tat umzusetzen. Aber er spürte, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen ändern würden. Er verstand, dass seine Bücher jetzt notwendig waren, wo sich das Land im emotionalen Umbruch befand und die Vorstellung der sozialen Gleichheit der Bevölkerung und ihren Hoffnungen so nahe stand.

Wadim begann mit der Arbeit am ersten Band "Trotzkismus: Gab es eine Alternative?" im Jahre 1990. Er schrieb den Band innerhalb eines Jahres und brachte ihn zum Verlag Panorama, wo er mit Begeisterung aufgenommen wurde. Es sollte noch 1991 gedruckt werden. Es gab auch positive Rezensionen. Doch dann fand der Putsch statt und Panorama geriet unter die Kontrolle des Poltoraninschen Medienministeriums. (2) Man entsandte eine Revision, und Wadim erhielt einen Brief vom Verlag.

Dieser Brief enthielt Formulierungen, die ihn in Wut versetzten und empörten: "Im Zusammenhang mit Veränderungen der öffentlichen Meinung hinsichtlich dieser Frage hält die Redaktion die Herausgabe Ihrer Bücher für unmöglich". Er sagte: "Wie ist das möglich, das sind doch Stalinsche Formulierungen." Im Klartext bedeutete das, dass er sich als Wissenschaftler der öffentlichen Meinung unterordnen sollte, anstatt sie zu formen. Der Brief enthielt noch weitere Perlen. So bezeichnete er Wadims Ideen als "ideologisch schädlich", "unangebracht" und "unzeitgemäß".

Wadim hat sich das natürlich sehr zu Herzen genommen. Bald darauf haben wir aber eine Möglichkeit gefunden, das Buch in dem damals neu entstandenen kommerziellen Verlag Terra herauszugeben. Das Buch erschien, und Wadim machte sich sofort an die Arbeit am zweiten Band, den er ebenfalls innerhalb eines Jahres fertig stellte.

Doch die Stimme des Autors blieb ungehört, weil eine Welle der antibolschewistischen Propaganda heranrollte. Die sowjetische Vergangenheit wurde mit allen Mitteln der Masseninformation verunglimpft, der Bolschewismus in den Schmutz gezogen und mit dem Stalinismus gleichgesetzt. Die Werte, mit denen wir und die gesamte Gesellschaft aufgewachsen waren, wurden mit Füßen getreten. Wadims Bücher fanden keine Resonanz mehr und es erschien nicht eine einzige Rezension. Er fühlte sich vollständig isoliert und ich fürchtete, er werde in Depressionen verfallen. Es war sehr schwierig, damit psychologisch fertig zu werden.

1993 änderte sich alles, als das Schicksal Wadim und mich mit David North und den Vertretern der amerikanischen Socialist Equality Party zusammenführte. Wadim fand in ihnen Gleichgesinnte, die seine Ansichten teilten und seinen inneren Überzeugungen und moralischen Werten nahe standen. Er sagte, es handle sich um Menschen eines besonderen Schlages, worin ich ihm zustimmte. Niemals hatte ich Wadim so gehoben und beseelt erlebt, wie beim Gespräch mit diesen Menschen.

Sie halfen ihm in vieler Hinsicht, moralisch und auch materiell. Sie organisierten eine Rundreise mit Vorlesungen in Ländern rund um die Erde. Die Vorlesungen hatten einen unglaublichen Erfolg. Ich sage das nicht ohne Beleg - jede Vorlesung wurde auf Video aufgezeichnet. Ich will über eine Episode berichten, die das sehr gut illustriert.

Wir fuhren in die größte Universität von Sydney, deren Dekanin Fürstin Golitzyna war (von den ehemaligen Golitzyns, die 1917 über die Mandschurei nach Australien gingen). Sie bot uns einen Hörsaal mit 40 Plätzen an. Das Thema lautete "Der Trotzkismus in der heutigen Welt". Ihrer Meinung nach würde sich dieses Thema keiner größeren Popularität erfreuen. "Kurz vor Ihrer Ankunft waren Affanassiew und Gaidar bei uns. (3) Sie sprachen vor einem vollbesetzten Saal - mit 40 Personen", erklärte uns die Fürstin.

Doch unsere Freunde - die Organisatoren dieser Veranstaltung - bestanden darauf, dass der größte verfügbare Saal der Universität bereitgestellt wurde. Als der Vortrag begann, war er mit 2000 Teilnehmern brechend voll. Die Leute saßen auf dem Boden, auf den Treppen und um das Podium, von dem Wadim sprach. Als Fürstin Golitzyna den überfüllten Saal betrat, traute sie ihren Augen nicht. Sie konnte nicht verstehen, warum dieses Thema im wohlbehaltenen, abseitigen Australien so viel Interesse fand. Der Erfolg war grandios.

Wer Wadims Vorlesungen miterlebt hat, wird sie niemals vergessen. Er war ein großartiger Redner, der seine Zuhörer nicht nur durch sein enormes Wissen gefangen nahm, sondern auch durch die Leidenschaft seiner Worte. Diese Leidenschaft rührte daher, dass er sich mit den Anhängern der Linken Opposition identifizierte, über die er die Wahrheit ins historische Gedächtnis unseres Volkes zurückbrachte. Er stand ihnen geistig und moralisch nahe.

Gerade während dieses Aufschwungs der moralischen und emotionalen Kräfte und des schöpferischen Enthusiasmus passierte das Unglück. Bei Wadim wurde Krebs im vierten Stadium mit Metastasen in der Leber festgestellt. Im Kremlkrankenhaus, wo er behandelt wurde, prognostizierten die Ärzte, dass er nur noch einen, maximal drei Monate zu leben habe, wofür sie sich noch nicht einmal verbürgen wollten. Ich musste Wadim dieses grausame Urteil mitteilen.

Ich will kurz vom Thema abschweifen und über eine Episode berichten. Wir gingen durch den Garten des Krankenhauses und ich fragte Wadim: "Vertraust Du mir, glaubst Du, dass ich Dich liebe, dass ich Dich retten kann?" Er ging mit gesenktem Kopf weiter, erhob ihn, schaute mich an und sagte einfach: "Das glaube ich." Und weil es noch keine subjektiv wahrnehmbaren Symptome dieser Krankheit gab, verabredeten wir uns wie folgt. Wir verabredeten, dass die Krankheit meine Sache ist und seine Aufgabe darin besteht, sich mit der wichtigsten Sache seines Lebens zu befassen.

So hielten wir es in den folgenden fünf Jahren. Ich tat alles, um die Krankheit zu bekämpfen, und er wurde nicht abgelenkt. Es gab keinerlei Gespräche über die Krankheit. Alle, die ihn kannten, werden sich erinnern, dass von seiner Seite niemals eine Klage zu hören war, kein Stöhnen. Selbst als er sich von Zeit zu Zeit für die Ergebnisse der Blutuntersuchungen interessierte, antwortete ich ihm: "Wadim, warum willst Du Dir darüber den Kopf zerbrechen. Du hast doch wichtigere Dinge - das Buch. Geh ins Arbeitszimmer und arbeite." Er ging und arbeitete ruhig weiter.

Nach dem fürchterlichen Urteil lebte Wadim noch fünf Jahre. Das war phantastisch. In allen Ländern der Welt, in denen wir waren, gingen wir zu Onkologen, zu sehr bekannten Spezialisten. Alle sagten, dass das unmöglich sei, dass ein Mensch mit einer solchen Diagnose noch leben könne. Ich glaube, dass ihm sein schöpferischer Enthusiasmus und die Gespräche mit seinen Freunden (er hatte sehr viele im Ausland gefunden) halfen und die beste Therapie waren.

Wadim wusste, dass sein Schicksal besiegelt war, und arbeitete fieberhaft, um uns und durch uns der gesamten Menschheit sein Wissen zu hinterlassen. Er saß ständig an seinen Schreibtisch und arbeitete mit einer Rücksichtslosigkeit, Wut und Leidenschaft, wie sie keiner von uns aufbringen könnte. "So können nur Genies arbeiten", waren die Worte James P. Cannons über Trotzki. Aber glaubt mir, dass auch ich keine treffenderen Worte finden kann, um die Arbeit Wadims in den letzten Jahren und Tagen seines Lebens zu charakterisieren.

Ich habe ihn nie ruhen sehen. Er arbeitete bis zu seiner letzten Stunde, nach den schwersten Operationen, gleich nach dem Nachlassen der Narkose, noch bevor er vom Bett aufstehen konnte. Er arbeitete während der Chemotherapien: wir lebten in getrennten Krankenhauszimmern, und jeden Morgen setzte er sich mit einer Zigarette in der einen und einem Stift in der anderen Hand an seinen Tisch. Er arbeitete noch an seinem letzten Tag.

Als seine Hände schwächer wurden und ihm der Stift manchmal aus der Hand fiel, habe ich ihn wieder hineingesteckt... In diesem Buch, dem siebten Band, gibt es ein Faksimile der letzten von ihm verfassten Blätter, auf die eine Zigarette gefallen ist und mehrere Seiten versengt hat.

Über die Bedeutung seines Beitrages für die Wissenschaft werden andere sicherlich besser sprechen können. Ich will lediglich sagen, dass Wadim ein außergewöhnlicher Mensch war. Alle, die ihn kannten, werden das bestätigen. Er war anders als die meisten von uns. Deshalb verstanden ihn viele nicht, und deshalb hatte er so wenig Freunde und Gleichgesinnte in seinem Land. Doch ohne ihn wäre die Welt ärmer. Ich sage das aber nicht nur, weil ich ihn grenzenlos liebe und bewundere. Ich weiß das, weil ich das Glück hatte, seine Frau zu sein und diesen Menschen in seiner ganzen Größe, in all seinen Erscheinungen kennen zu lernen: im Alltag und auf dem Höhepunkt seines Erfolges. Ich weiß, dass er ein reiner und makelloser Mensch war, der der Bewunderung würdig ist. Ich bitte Sie alle, zu einer Gedenkminute aufzustehen.

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Anmerkungen

1) "Gab es eine Alternative" ist eine siebenbändige Geschichte der linken, trotzkistischen Opposition gegen den Stalinismus in der Sowjetunion. Deutsch sind davon bisher drei Bände im Arbeiterpresse Verlag erschienen.

2) Im August 1991 unternahmen stalinistische Bürokraten einen Putschversuch gegen Gorbatschow, der scheiterte. Danach begann der Aufstieg Jelzins und der russischen "Demokraten", zu denen Poltoranin zählt.

3) Affanassiew und Gaidar sind bekannte russische Politiker, die für eine neoliberale Wirtschaftpolitik eintreten.

Siehe auch:
Eine Würdigung Wadim Rogowins von David North
(28. Mai 2002)
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