Magdeburg - Der Begriff "Sommerpause" gilt normalerweise nicht nur für Schulen, Universitäten und Kulturveranstaltungen, sondern auch für das politische Leben. Die Politiker befinden sich im Urlaub, Partei-, Gewerkschafts- und Verbandsfunktionäre ebenfalls. Die Presse füllt ihre Spalten mit "Sommerloch"-Themen, die kurzfristig aufgebauscht und dann wieder vergessen werden. Debatten, Veranstaltungen und Proteste werden auf den Herbst verschoben. Wenn daher in der Abendhitze eines brütend heißen Augusttages Zehntausende durch die Straßen Magdeburgs, Leipzigs und vieler kleinerer Städte ziehen, die noch nie eine große Demonstration erlebt haben, so ist dies ein untrügliches Zeichen, dass in der Tiefe der Gesellschaft etwas in Bewegung geraten ist.
Rund 40.000 Menschen beteiligten sich am Montag an Protesten gegen die Hartz-IV-Gesetze, das Kernstück der Agenda 2010 der Bundesregierung. Der Schwerpunkt lag in den neuen Bundesländern. Die größte Demonstration mit 15.000 Teilnehmern fand in Magdeburg statt, wo die Bewegung vor drei Wochen ihren Ausgangspunkt genommen hatte. Aber auch in kleineren Städten Sachsen-Anhalts, das mit einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent einen Spitzenplatz unter den Bundesländern einnimmt, gingen Tausende auf die Straße: jeweils 3.000 in Halle und Dessau, 2.000 in Aschersleben und jeweils an die 1.000 in Halberstadt, Osterburg, Haldensleben und Quedlinburg. In Leipzig schlossen sich 10.000 einer Demonstration an. In Rostock waren es 4.500. Auch in westdeutschen Städten kam es zu Kundgebungen mit jeweils einigen Hundert Teilnehmern - so in Dortmund, in Gelsenkirchen und in Hamburg.
Ich habe schon unzählige Demonstrationen im In- und Ausland beobachtet, darunter viele, die wesentlich größer waren als jene, die am Montag Abend in einem großen Bogen durch die Magdeburger Innenstadt zog. Dennoch fällt es mir schwer, eine zu finden, die ihr ähnlich sah.
Es fehlten die Transparente der Parteien, Gewerkschaften und Verbände, die sonst das Bild vieler Demonstrationen prägen. Es gab lediglich wenige, vereinzelte Spruchbänder und Plakate, meist handgemalt und in holprigen Versen gereimt: "Nieder mit Hartz IV, das Volk sind wir", "Die Taschen sind leer, Herr Schröder will mehr", "Arbeit-los, Wohnung-los, mittellos, hoffnungslos" und "Mein Sparbuch bekommt Ihr nicht!"
Auch vom Lärm, der sonst viele Proteste auszeichnet, war wenig zu hören. Sieht man von einigen Trillerpfeifen, vereinzelten skandierten Parolen und einem Megafon an der Spitze des Zuges ab, herrschte eher eine Atmosphäre der angeregten Unterhaltung und Diskussion.
Hier demonstrierte tatsächlich das Volk, auch wenn dieser Begriff aufgrund des vielfachen Missbrauchs etwas abgedroschen wirkt: durchschnittliche Menschen aller Altersgruppen und Berufe, die sich sonst nur selten aktiv in die Politik einmischen.
Zur ersten Demonstration in Magdeburg hatte vor drei Wochen der 42-jährige arbeitslose Bahnfacharbeiter Andreas Ehrholdt aufgerufen, indem er selbstgefertigte Handzettel klebte. Er rechnete mit 200 Teilnehmern, 600 kamen. Eine Woche später waren es bereits 6.000, jetzt 15.000. Die Organisation liegt immer noch in den Händen Erholdts. Die Bewegung breitete sich wie ein Lauffeuer aus und griff schon nach einer Woche auch auf andere Städte über. Auch dort ergriffen in der Regel Einzelpersonen die Initiative. Nur vereinzelt versuchten auch Gewerkschaften und PDS, die Organisation der Demonstrationen zu übernehmen.
Einige Kommentatoren behaupten, Verzweiflung und Zukunftsangst trieben die Leute auf die Straße. Doch das stimmt nur bedingt. Zwar steht den meisten Teilnehmern das Wasser bis zum Hals. Sie wissen nicht mehr ein und aus. Man konnte hören, wie Familienväter oder alleinstehende Mütter Reportern vorrechneten, was ein Zoobesuch mit Kindern oder neue Kleider kosten, und wie viel danach vom monatlichen Arbeitslosengeld II von 331 Euro noch übrig bleibt. Die regierungsamtliche Rechtfertigung für Hartz IV, durch die Senkung des Arbeitslosengeldes werde der Anreiz erhöht, eine Arbeit aufzunehmen, erscheint Menschen, die sich seit Jahren vergeblich um einen Arbeitsplatz bemühen, als blanker Hohn.
Dennoch dominierten Verzweiflung und Zukunftsangst nicht die Stimmung auf der Demonstration. Es gab ein weiteres, optimistisches Element - einen tief verwurzelten Glauben an soziale Gerechtigkeit. Die Wut auf die Regierenden paarte sich mit der Überzeugung, dass sich etwas verändern lässt, wenn der Druck von der Straße nur ausdauernd genug durchgehalten wird. Wie das genau vor sich gehen soll, wusste allerdings niemand.
Auffallend war, dass viele, die jetzt gegen Hartz IV demonstrieren, vor 15 Jahren an den Demonstrationen teilgenommen hatten, die schließlich zum Fall des SED-Regimes führten. Der Initiator der Magdeburger Demonstration, Andreas Erholdt, war 1989 sogar über Ungarn in die Bundesrepublik geflüchtet. Die vielfach gezogene Parallele zu den damaligen Montagsdemonstrationen ist also weder oberflächlich noch zufällig.
Vor allem ehemalige Bürgerrechtler, die mittlerweile politisch (und materiell) aufgestiegen sind, haben sich empört gegen diesen Vergleich gewandt. Joachim Gauck, der frühere Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, nannte ihn "töricht und geschichtsvergessen". Damals sei es um Freiheit und Demokratie gegangen, jetzt gehe es "nur" um Wohlstand. Doch für diejenigen, die jetzt wieder auf die Straße gehen, lassen sich diese beiden Dinge nicht voneinander trennen. Sie hatten sich 1989 ein besseres und erfüllteres Leben erhofft - und wurden bitter enttäuscht, wollen aber angesichts der jetzigen katastrophalen Lage nicht einfach resignieren.
Einer der Organisatoren der 89er Montagsdemonstrationen, der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche Christian Führer, hielt Gauck entgegen: "Es kann nicht nach dem Motto gehen: Wir begrüßen, dass Ihr gegen die Kommunisten auf die Straße gegangen seid, aber jetzt habt Ihr die Klappe zu halten'. So geht das echt nicht."
Viele von uns befragte Demonstrationsteilnehmer erklärten, sie hätten früher die SPD gewählt. In die Union setzen sie keine Hoffnung - aber auch nicht in die PDS. Umfragen gehen zwar davon aus, dass die PDS bei den anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen deutlich hinzugewinnen wird, aber diese Unterstützung reicht nicht sehr tief. Und dies nicht nur, weil die PDS in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, wo sie mit in der Regierung sitzt, den Sozialabbau voll mitträgt, sondern auch, weil die alten SED-Seilschaften nach wie vor bekannt und verhasst sind.
Viele Demonstrationsteilnehmer meinten, man könne keiner politischen Partei trauen. Wodurch diese zu ersetzen sind, wussten sie allerdings nicht. Die meisten hofften, sie würden unter dem Druck der Straße schließlich nachgeben. Andreas Erholdt zeigte sich gegenüber den Medien überzeugt, dass die Regierung Hartz IV schließlich zurückziehen werde. Den Sturz der Regierung Schröder, beteuerte er, wolle er nicht. Man wisse schließlich, was danach komme.
Reaktionen von Politik und Medien
Das rasche und spontane Anwachsen der Bewegung hat Politiker und Medien in Panik versetzt. Sie haben Angst, die Bewegung könnte sich verselbständigen und ihrer Kontrolle entgleiten.
Ein Kommentar der Magdeburger Tageszeitung Volksstimme hat diese Befürchtungen deutlich formuliert. "Politiker, Gewerkschaftsfunktionäre und Kirchenführer wirken verunsichert. In den ungeführten, richtungslosen Stimmungsdemonstrationen (1989 spielten anders als heute die Kirchen eine leitende Rolle) liegt eine große Gefahr", schreibt die Volksstimme. "Eine Verselbständigung könnte erstes Symptom einer Staatskrise sein." Die Politik müsse "die schrillen Warnsignale hören".
Die offiziellen Reaktionen auf die Proteste lassen sich in zwei Gruppen unterteilen. Die erste greift die Demonstrationen hysterisch an. Sie ruft den bekannten Ausspruch Bertolt Brechts in Erinnerung, der nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 schrieb, es wäre am einfachsten, "die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes".
Besonders hervorgetan hat sich in dieser Hinsicht Wolfgang Clement (SPD), der als Arbeits- und Wirtschaftsminister für Hartz IV die Verantwortung trägt. Er warf den Kritikern vor, sie schürten unerträgliche Hysterie und spielten mit den Feuer. Der rechte Seeheimer Kreis innerhalb der SPD veröffentlichte sogar eine Erklärung, es sei besser, die kommenden Landtagswahlen zu verlieren, als bei Hartz IV irgendwelche Zugeständnisse zu machen.
Die Süddeutsche Zeitung warnte in einem geifernden Kommentar vor dem Irrglauben, "der Staat sei eine Versicherungsanstalt gegen alle Lebensrisiken", und wärmte die alten Vorurteile, Sozialhilfeempfänger seien Sozialschmarotzer, neu auf. Sie höhnt: "Mit der Wirklichkeit im Lande und dessen Problemen hat der ressentimentgeladene Protest wenig zu tun. Hier mischen sich nostalgische Träumereien, Verzagtheit und Ängste vor Verlust zu einer gesamtdeutschen Feier des Staatssozialismus".
Auch der Spiegel schlägt in dieselbe Kerbe. In einem mehrseitigen Leitartikel unter der Überschrift "Die große Hartz-Hysterie" versucht er nachzuweisen, dass der erbitterte Widerstand "mit den tatsächlich verabschiedeten Kürzungen kaum zu erklären" sei.
Die zweite Gruppe biedert sich an die Kritik an Hatz IV an, um die Bewegung unter Kontrolle zu halten. Sie reicht vom ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine über SPD-Politiker, die (wie der brandenburgische Ministerpräsident Mathias Platzeck) gerade im Wahlkampf stehen, und die PDS bis zu führenden FDP- und CDU-Politikern, wie dem sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt. Milbradt hat angekündigt, er werde sich vielleicht an den Demonstrationen beteiligen - obwohl die CDU Hartz IV im Bundesrat zugestimmt hat und für einige der schärfsten Regelungen verantwortlich ist.
Die Taktik dieser Gruppe besteht darin, einzelne Korrekturen zu fordern, um Hartz IV als Ganzes zu retten. Aber diese Taktik wird kaum verfangen. Die Politiker, die für einige kosmetische Korrekturen eintreten, verstehen nicht, dass es den Demonstranten um mehr geht, als um einige Euros mehr oder weniger - die so oder so zum Leben nicht ausreichen. Sie wollen Arbeit, soziale Sicherheit und ein würdiges Leben.
Diese Ziele lassen sich im Rahmen der gegenwärtigen Politik nicht erreichen. Sie sind unvereinbar mit einem Wirtschaftssystem, in dem die Profitmaximierung die oberste Richtschnur bildet. Ihre Verwirklichung erfordert eine grundlegende Umgestaltung des internationalen Wirtschaftslebens auf sozialistischer Grundlage.
Darüber, und wie diese Ziele zu verwirklichen sind, gibt es in der gegenwärtigen Bewegung kaum Vorstellungen. Es besteht die Gefahr, dass es ihr ebenso ergeht wie der Bewegung von 1989. Sie trat für Freiheit und Demokratie ein und wurde vor den Karren jener gespannt, die kapitalistische Verhältnisse wollten, um sich persönlich zu bereichern. Die Bewegung gegen Hartz IV darf daher nicht darauf beschränkt bleiben, Woche für Woche mehr Demonstranten zu mobilisieren. Die wichtigste Aufgabe besteht jetzt darin, Klarheit über ihre politischen Ziele und Perspektiven zu schaffen.