Pulverfass Kaukasus

Russische Regierung droht mit internationalen Militäreinsätzen

Die Reaktion der russischen Regierung auf das Geiseldrama von Beslan erinnert mehr und mehr an die Reaktion der amerikanischen Regierung auf die Anschläge vom 11. September 2001. Das grauenhafte Ereignis, das Millionen Menschen auf der ganzen Welt empört und erschüttert hat, dient ihr als Vorwand für eine innenpolitische Offensive gegen elementare demokratische Rechte und für die Verwirklichung eines außenpolitischen Programms, das unweigerlich zu neuen Kriegen führen wird.

Während die Hintergründe der Ereignisse von Beslan aufgrund der offiziellen Geheimhaltung nach wie vor im Dunkeln liegen und Präsident Wladimir Putin eine unabhängige Untersuchung ablehnt, hat er bereits weitgehende Schlussfolgerungen aus dem Geiseldrama gezogen: Die regionalen Gouverneure sollen in Zukunft nicht mehr vom Volk gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt, das Wahlrecht so geändert werden, dass kleinere, oppositionelle Parteien kaum mehr eine Chance haben.

Die Macht des Präsidenten, die unter Putin zunehmend autoritäre Züge angenommen hat, wird dadurch weiter gestärkt. Vom "starken Staat mit der eisernen Faust" ist die Rede und es werden Parallelen zur Stalinzeit gezogen. Mit Medien, die vom Kreml gegängelt werden, und einem Parlament, das dem Präsidenten hörig ist, bleiben kaum mehr Möglichkeiten zur demokratischen Kontrolle. Die Bevölkerung kann lediglich noch alle paar Jahre in einem Referendum, das als Wahl ausgegeben wird, einen Präsidenten bestätigen, dessen wirkliche Machtbasis der Geheimdienst- und Militärapparat ist.

Die außenpolitischen Schlussfolgerungen aus dem Geiseldrama von Beslan hat der Generalstabschef der russischen Streitkräfte verkündet. Russland werde "alle Maßnahmen ergreifen, um die Basen der Terroristen in jeder beliebigen Region der Welt zu liquidieren", drohte Juri Balujewski. Viele Kommentare sahen darin eine Übersetzung der Bush’schen Präventivkriegsdoktrin aus dem Amerikanischen ins Russische. Russland nimmt sich das Recht heraus, andere Länder ohne Deckung des Völkerrechts militärisch anzugreifen. Vor allem die südlichen Anrainerstaaten, die erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion selbständig wurden, empfinden dies als Drohung - allen voran Georgien, das von Moskau wiederholt der Beherbergung tschetschenischer Terroristen bezichtigt wurde.

Bei allen Parallelen zwischen Bushs Vereinigten Staaten und Putins Russland hat der Vergleich zwischen den beiden aber seine Grenzen. Die Bedrohung der Welt, die von den USA ausgeht, ist ungleich größer. Die Vereinigten Staaten sind eine ökonomische und militärische Großmacht und streben unverhohlen die Welthegemonie an. Russland ist ein ökonomischer Zwerg, mit einer Wirtschaftsleistung von der Größenordnung Hollands. Seine Armee ist marode und könnte, selbst wenn sie es wollte, nicht weit entfernt liegende Länder angreifen, wie dies die USA mit Serbien, Afghanistan und dem Irak getan haben. Russland verfügt allerdings über ein aus Sowjetzeiten ererbtes Atomarsenal, dessen Einsatz Balujewski aber (zumindest vorläufig) ausdrücklich ausschloss.

Trotz alledem sollte die Bedrohung für den Weltfrieden, die von Balujewskis Ankündigung ausgeht, nicht unterschätzt werden. Zum einen setzt er damit völkerrechtliche Normen außer Kraft, die früher zumindest eine gewisse Hemmschwelle für direkte militärische Aktionen darstellten. "Was die Amerikaner vorgemacht haben, ist nun für Russland normbildend. Die Chinesen und Inder werden auf diesem Weg folgen", kommentierte ein Sprecher der Carnegie-Stiftung in Moskau. Bedeutsamer ist, dass hier eine globale Entwicklung sichtbar wird, die immer deutlicher auf eine militärische Konfrontation zwischen imperialistischen Mächten oder Machtblöcken und damit auf einen Dritten Weltkrieg zusteuert. Zentralasien und die ihm vorgelagerte Kaukasusregion spielen in dieser Hinsicht eine ähnliche Rolle wie der Balkan am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Zusammen mit dem benachbarten Mittleren Osten bilden sie die so genannte "strategische Ellipse", die die umfassendsten Energieressourcen der Welt beherbergt.

Balkan und Kaukasus

Die Ermordung des habsburgischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo hatte den Ersten Weltkrieg bekanntlich ausgelöst. Die Ursachen des Kriegs kann das Attentat von Sarajewo - ein historisch eher zweitrangiges Ereignis - allerdings nicht erklären. Sie waren in den explosiven Gegensätzen zwischen den imperialistischen Mächten zu suchen, die sich über Jahrzehnte hinweg angestaut hatten. Letztlich ergab sich der Krieg aus der Unhaltbarkeit des Nationalstaats im Zeitalter der Weltwirtschaft. Vor allem die herrschende Elite Deutschlands war zum Schluss gekommen, dass dieser Widerspruch nur durch die gewaltsame Neuorganisation Europas unter ihrer Vorherrschaft gelöst werden könne. Sie wollte den Krieg.

Trotzdem war es kein Zufall, dass der Funke, der das Pulverfass schließlich zur Explosion brachte, gerade auf dem Balkan gezündet wurde. Hier stießen die Interessengegensätze der imperialistischen Mächte und Machtblöcke am direktesten aufeinander, hier nahmen sie ihre greifbarste und unmittelbarste Form an, hier war das empfindliche internationale Gleichgewicht am labilsten. Die Loslösung Bosniens von der österreichischen Bevormundung hätte den Zerfall des habsburgischen Vielvölkerstaats nach sich gezogen und die Stellung Serbiens und seiner russischen Schutzmacht auf dem Balkan gestärkt. Dies wiederum hätte Deutschland gegenüber seinen Rivalen England und Frankreich empfindlich geschwächt, die mit Russland verbündet waren. So konnte die Tat eines bosnisch-serbischen Nationalisten die Kette von Ereignissen in Gang setzen, die ganz Europa in ein vierjähriges Blutbad stürzen und sich zu einem Weltbrand ausweiten sollten.

Die Parallelen zwischen dem Balkan von damals und dem heutigen Zentralasien sind frappierend. Im Kaukasus und Zentralasien prallen nicht nur die Interessen Russlands und der USA direkt aufeinander, auch für Europa - und vor allem für Deutschland - ist die Zukunft der Region von fundamentaler Bedeutung. Dasselbe gilt für die aufstrebenden Mächte China und Indien. Hinzu kommen mit dem Iran und der Türkei zwei Regionalmächte, die bei der Neuauflage des Great Game um Zentralasien mit am Tisch sitzen möchten. Es geht bei diesem "Spiel" vor allem um zwei Dinge: um geostrategische Macht und um den Zugang zu Erdöl und Gas, die angesichts ihrer absehbaren Verknappung für das 21. Jahrhundert von zentraler Bedeutung sind.

Noch ist die Lage nicht so weit wie 1914, zum Zeitpunkt des Attentats von Sarajewo. Anders als damals sind die Gegensätze, die heute im Kaukasus aufeinanderprallen, erst in Ansätzen sichtbar. Vieles befindet sich noch in Bewegung. Es wird taktiert und manövriert. Internationale Achsen und Blöcke haben sich noch nicht endgültig herausgebildet. Aber die Entwicklung läuft in dieselbe Richtung.

Ein Anzeichen für die wachsenden Spannungen sind die unterschiedlichen Reaktionen Washingtons und Berlins auf das Geiseldrama von Beslan und seine Folgen. Während Washington Putins Schlussfolgerungen deutlich kritisierte, übte sich Berlin in demonstrativem Schweigen. Ausgerechnet Präsident Bush mahnte Putin öffentlich, im Anti-Terror-Kampf die "Prinzipien der Demokratie" zu wahren. Eine Kritik, die der russische Außenminister Sergej Lawrow umgehend mit einer Standardformulierung aus der Zeit des Kalten Kriegs zurückwies. Es handle sich um eine "innere Angelegenheit Russlands", sagte er und fügte süffisant hinzu: "Wir wissen, dass auch die USA nach dem 11. September ziemlich harte Maßnahmen ergriffen haben."

Die deutsche Regierung schloss sich der Kritik aus Washington ausdrücklich nicht an. Bundeskanzler Gerhard Schröder pflege einen "sehr vertrauensvollen und intensiven Dialog" mit Putin, begründete dies Regierungssprecher Béla Anda. Bereits vor Beslan hatte Schröder die von Moskau manipulierten tschetschenischen Präsidentenwahlen gutgeheißen, während in Washington Kritik daran laut geworden war.

Um das wahre Ausmaß der Gegensätze zu verstehen, die im Kaukasus aufeinanderprallen, darf man sich allerdings nicht bei den diplomatischen Sticheleien aufhalten. Man muss die Strategien und Interessen der wichtigsten Akteure in einem größeren historischen und internationalen Zusammenhang untersuchen. Dazu wollen wir hier einen summarischen Überblick geben.

Der Konflikt zwischen den USA und Russland

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die USA systematisch und zielstrebig in deren früheres Einfluss- und Staatsgebiet vorgedrungen. Der Krieg gegen Jugoslawien diente ebenso diesem Zweck wie die Osterweiterung der Nato und die Besetzung Afghanistans. Die drei baltischen Staaten, einst Teil der Sowjetunion, sind mittlerweile Mitglieder der Nato, ebenso die meisten ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. In Zentralasien unterhalten die USA in mehreren früheren Sowjetrepubliken Militärbasen und unterstützen US-freundliche Regimes.

In Georgien wurde mit aktiver politischer und finanzieller Hilfe aus den USA ein Regime installiert, das Moskau spinnefeind ist und den Anschluss an die Nato anstrebt. Georgien ist nicht nur aufgrund seiner unmittelbaren Nachbarschaft zum kaukasischen Krisenherd von strategischer Brisanz, es kontrolliert auch den Durchgang vom Kaspischen Becken zum Schwarzen Meer und damit den wichtigsten westlichen Exportkorridor für das zentralasiatische Öl und Erdgas. Außerdem bildet es die Brücke zwischen dem südlichen Russland und Kleinasien.

Präsident Putin hat sich bisher mit öffentlicher Kritik an Washington zurückgehalten und eine enge persönliche und politische Beziehung zu seinem amerikanischen Amtskollegen gepflegt. Dies geschah zum Teil aufgrund einer realistischen Einschätzung der geringen Chancen, die Moskau in einem offenen Kräftemessen mit Washington hätte, zum andern, weil er sich davon freie Hand für das Vorgehen gegen die separatistischen Bewegungen versprach, die den südlichen Rand des russischen Staates gefährden. Putin war stets bemüht, die tschetschenischen Separatisten als Abteilung des "internationalen Terrorismus" darzustellen, um die internationale Kritik am brutalen Vorgehen der russischen Streitkräfte zu entkräften.

Es ist aber offensichtlich, dass sich Moskau durch die Umklammerung der USA zunehmend unter Druck gesetzt fühlt. In seiner ersten öffentlichen Fernsehansprache nach dem Massaker von Beslan sprach Putin von einer "direkten Intervention des internationalen Terrorismus gegen Russland" und deutete an, dass dahinter ausländische Mächte steckten - ohne allerdings Namen zu nennen. Er sagte, Russland werde von Terroristen angegriffen, "weil es als eine der weltgrößten Nuklearmächte für jemanden eine Bedrohung darstellt, und daher muss diese Bedrohung beseitigt werden".

Am folgenden Tag traf er sich auf seinem Landsitz Nowo Ogarjewo zu einem außerordentlich langen und offenen Gespräch mit ausgewählten westlichen Journalisten und Russlandexperten, in dem er noch deutlicher wurde. "Ich habe nicht behauptet, westliche Länder würden den Terrorismus anfachen und dies sei eine gezielte Politik", sagte er. "Aber wir haben Vorfälle beobachtet. Da wird die Mentalität des Kalten Krieges wieder hochgespielt. Es gibt gewisse Leute, die wollen, dass wir mit internen Problemen beschäftigt sind. Sie ziehen hier die Fäden, damit wir international nicht den Kopf heben."

Erneut nannte Putin keine Namen und lobte ausdrücklich US-Präsident Bush, den er als "berechenbaren und verlässlichen Partner" bezeichnete. Er deutete sogar an, dass er im November gern einen Wahlsieg Bushs über dessen demokratischen Herausforderer Kerry sähe. Offene Kritik übte Putin dagegen an Großbritannien, dem engsten europäischen Verbündeten der USA. Er warf London vor, dass es Achmed Sakajew, dem Europavertreter des tschetschenischen Separatistenführers Aslan Maschadow, politisches Asyl gewähre. Das russische Außenministerium hat inzwischen offiziell Sarkajews Auslieferung verlangt.

Putin gab seinen westlichen Zuhörern zu verstehen, dass er die Auflösung der Sowjetunion inzwischen bedaure. Er äußerte wiederholt die Befürchtung, im Falle einer Abspaltung Tschetscheniens werde auch Russland auseinanderbrechen, und sprach in diesem Zusammenhang von einem "Dominoeffekt".

Diese Befürchtung ist nicht unbegründet. Ein weiteres Ausfransen des russischen Staatsgebiets am südlichen Rand könnte in der Tat dessen völligen Zerfall auslösen, entsprechende zentrifugale Kräfte gibt genug. An einer solchen Entwicklung wäre nichts Fortschrittliches. Sie würde eine Welle von Vertreibungen, ethnischen Säuberungen und regionalen Konflikten nach sich ziehen. Neu entstehende Staaten wären weder selbstbestimmt noch demokratisch, sondern von den Intrigen der Großmächte abhängig und rivalisierenden, halbkriminellen Herrschercliquen ausgeliefert. Kurz, die Ereignisse, die in den neunziger Jahren Jugoslawien verwüstet haben, würden sich im großen Maßstab wiederholen.

Auch der Verdacht, eine solche Entwicklung werde von westlichen Kreisen gezielt geschürt, ist nicht aus der Luft gegriffen. Während sich das offizielle Washington in der Tschetschenienfrage zurückhält, um Putins Unterstützung für die Besetzung es Irak nicht zu gefährden, werben die so genannten Neokonservativen, die im außenpolitischen Establishment der USA eine maßgebliche Rolle spielen, offen für die tschetschenische Sache. Dieselben Leute, die bei der propagandistischen Vorbereitung des Irakkriegs eine führende Rolle spielten, finden sich an prominenter Stelle im Amerikanischen Komitee für Frieden in Tschetschenien (ACPC) wieder, einer pro-tschetschenischen Lobby-Gruppe.

John Laughland, Mitglied des britischen Helsinki-Komitees, nennt in einem Beitrag für den britischen Guardian folgende Namen: "Zu ihnen gehören Richard Perle, der berüchtigte Pentagon-Berater; Elliott Abrams, bekannt durch den Iran-Contra-Skandal; Kenneth Adelman, der frühere amerikanische UN-Botschafter, der die Irakinvasion anstachelte, indem er sie als ‚Spaziergang‘ bezeichnete; Midge Decter, Biograf Donald Rumsfelds und Direktor der rechten Heritage Foundation; Frank Gaffney vom militaristischen Centre for Security Policy; Bruce Jackson, früherer US-Geheimdienstoffizier, einstiger Vizepräsident von Lockheed Martin und jetziger Präsident des US Committee on Nato; Michael Ledeen vom American Enterprise Institute, ein ehemaliger Bewunderer des italienischen Faschismus und heutiger Wortführer für einen Regimewechsel im Iran; und R. James Woolsey, der Ex-CIA-Direktor, der begeistert Bushs Pläne unterstützt, die moslemische Welt nach US-Plänen umzuformen." (Guardian 8. 9. 2004)

Laughland gelangt zum Schluss: "Die APAC-Mitglieder stammen aus beiden Parteien und stellen das Rückgrat des außenpolitischen Establishments der USA dar. Ihre Ansichten sind in Wirklichkeit die der US-Administration."

Putins Reaktion

Putins Antwort auf die amerikanische Einkreisung - die gewaltsame Unterdrückung des tschetschenischen Widerstands, die Stärkung des autoritären Zentralstaats und die Drohung mit Militärschlägen im Ausland - ist ebenso reaktionär wie kontraproduktiv. Sie entspricht den Interessen der gesellschaftlichen Klasse, die er vertritt - der neuen russischen Elite, die nach der Auflösung der Sowjetunion das staatliche Eigentum geplündert und sich dabei auf Kosten der großen Masse der Bevölkerung schamlos bereichert hat.

Unter Putins Vorgänger Boris Jelzin, der im Dezember 1991 das Ende der Sowjetunion besiegelt hatte, hatte sich diese Plünderung noch in chaotischer und ungezügelter Form vollzogen. Milliardenbeträge wurden ins Ausland transferiert, die staatlichen Konzerne - insbesondere der lukrative Energiesektor - mit Gangstermethoden "privatisiert", Korruption und Kriminalität blühten. Der russische Staat drohte zu zerfallen und zu einem Spielball in den Händen der westlichen Großmächte zu werden.

Mit der Machtübernahme Putins, der noch von Jelzin persönlich zu seinem Nachfolger erkoren und von den führenden Oligarchen unterstützt wurde, fand eine begrenzte Kurskorrektur statt. Die neue Elite war zum Schluss gelangt, dass sie zur Absicherung ihres Reichtums und ihrer Macht eines starken Staates und der Fähigkeit bedurfte, im internationalen Konzert der Großmächte mitzuspielen.

Putin, der selbst auf eine lange Karriere im sowjetischen Geheimdienst KGB zurückblickt, besetzte zu diesem Zweck die Schlüsselstellen in Politik und Verwaltung mit Geheimdienstveteranen. Der KGB, der schon dem stalinistischen Regime als eine Art Prätorianergarde gedient hatte, eignet sich für diese Aufgabe, weil er bereits zu Sowjetzeiten dem großrussischen Chauvinismus verpflichtet war, den Stalin in den dreißiger und vierziger Jahren neu belebt hatte. Unter "Verteidigung der Sowjetunion" verstand der KGB nicht die Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften der Oktoberrevolution, sondern die Verteidigung der inneren und äußeren Macht des Staates.

Putin konsolidierte die Macht der neuen kapitalistischen Elite, indem er den Zentralstaat gegenüber den Regionen stärkte, den Polizei- und Geheimdienstapparat ausbaute, die Presse- und Meinungsfreiheit einschränkte und schließlich, in diesem Sommer, mit einem Schlag die zahlreichen, staatlich finanzierten sozialen Leistungen abschaffte, die noch aus Sowjetzeiten stammten. Jelzin hatte einen solchen Schritt nicht gewagt, weil er unkontrollierbare Reaktionen der Bevölkerung fürchtete.

Außenpolitisch bemühte sich Putin, den Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht in die Wege zu leiten. Zu diesem Zweck ging er mit äußerster Brutalität gegen die separatistischen Bestrebungen im Kaukasus vor. Noch bevor er das Präsidentenamt antrat, löste er Ende 1999 den zweiten Tschetschenienkrieg aus, der bis heute andauert, Tschetschenien weitgehend zerstört und jede Aussicht auf eine friedliche Lösung zunichte gemacht hat. Dieser Krieg diente gleichzeitig dazu, den wachsenden Unmut über die soziale Katastrophe in Russland zu ersticken und die Aufrüstung des Staatsapparats zu rechtfertigen.

Mit einigem Erfolg war es Putin gelungen, den Tschetschenienkonflikt als Folge ausländischer Einmischung darzustellen und an nationalistische Stimmungen zu appellieren. Dies fiel ihm umso leichter, als die "kommunistische" Opposition ihn dabei voll unterstützte, während die so genannte "demokratische" Opposition den Tschetschenienkrieg zwar kritisierte, dafür aber den Kurs der marktwirtschaftlichen Reformen befürwortete, eng mit westlichen Regierungen zusammenarbeitete und sich finanziell von den Oligarchen aushalten ließ, die mit Putin über Kreuz liegen. Die Schwäche der russischen "Demokraten" ist erst in zweiter Linie darauf zurückzuführen, dass der Kreml ein Monopol über die Medien ausübt. Der eigentliche Grund ist ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den sozialen Interessen der Bevölkerung diametral entgegenläuft.

Putin bemühte sich auch, die Staaten der GUS durch eine Mischung aus ökonomischem, militärischem und diplomatischem Druck wieder enger an Russland zu binden. Das ist insbesondere mit Weißrussland und der Ukraine der Fall. Im Kaukasus unterstützt Moskau Armenien gegen Aserbaidschan, das zunehmend unter westlichen Einfluss gerät. In abtrünnigen Gebieten Georgiens unterhält es eigene Truppen. In Zentralasien strebt Moskau ein strategisches Bündnis mit den beiden wichtigsten Energieproduzenten an, mit Kasachstan und Turkmenistan.

Der Energiesektor spielt eine Schlüsselrolle in Putins Großmachtplänen. Er macht 40 Prozent der staatlichen Steuereinnahmen, 55 Prozent der Exportgewinne und 20 Prozent der russischen Wirtschaft aus. In der Ukraine, in Georgien und in Kasachtsan kaufen dem Kreml nahestehende russische Unternehmen Gas- und Ölkonzerne auf.

Der Konflikt zwischen dem Kreml und einigen Oligarchen dreht sich darum, wer in diesem Bereich das Sagen hat. Der Staat, schreibt der deutsche Russland-Experte Alexander Rahr, werde "es nicht zulassen, dass dieser Sektor, von dem der Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht abhängt, von Partikularinteressen profitsüchtiger Oligarchen beherrscht wird oder unter die Kontrolle von ausländischen transnationalen Unternehmen gerät". Putin wolle die in den neunziger Jahren privatisierten Ölkonzerne zwar nicht wieder verstaatlichen, sie müssten "sich aber in das neue Regelwerk des Kremls einfügen, ansonsten droht ihnen das Schicksal von ‚Jukos’, an dem gerade ein Exempel statuiert wird." (GUS-Barometer, September 2004)

In diesen beiden Schlüsselfragen - der Kontrolle über die immensen Energiereserven Russlands und Zentralasiens sowie der Vormacht über die Nachfolgestaaten der Sowjetunion in Osteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien - stoßen Interessengegensätze aufeinander, die sich auf lange Sicht nicht friedlich versöhnen lassen. Sie bieten nicht nur Anlass zu ständigen Spannungen zwischen Russland auf der einen und den USA und Europa auf der anderen Seite, auch die strategischen Ziele der USA, der europäischen Mächte und langfristig Chinas stoßen hier unversöhnlich aufeinander. Das macht Zentralasien und den Kaukasus zu einem Pulverfass für zukünftige Konfrontationen.

Europäische Interessen

Wie schon in der Frage des Irakkriegs ist die europäische Außenpolitik auch in ihrer Haltung gegenüber Russland tief gespalten. Die Osterweiterung der Europäischen Union, von Deutschland und Frankreich aus wirtschaftlichen Gründen vorangetrieben, erweist sich als entscheidendes Hindernis für eine gemeinsame Außenpolitik.

Deutschland und Frankreich streben mit Unterstützung Italiens eine strategische Partnerschaft mit Russland an. Berlin, Paris und Moskau hatten bereits am Vorabend des Irakkriegs eng zusammengearbeitet, um eine Kriegsresolution in der UNO zu verhindern. Seither kommt es zu regelmäßigen Zusammentreffen zwischen Putin, Schröder und Chirac. Das letzte fand unmittelbar vor dem Geiseldrama von Beslan in Sotschi am Schwarzen Meer statt.

Für Deutschland steht neben dem Bemühen, ein Gegengewicht zur amerikanischen Hegemonie zu schaffen und den russischen Absatzmarkt zu erschließen, die Energiefrage im Mittelpunkt des Interesses an Russland. Da es, abgesehen von der enorm aufwändigen Kohle, über keine eigenen Energiereserven verfügt, ist es in hohem Maße von russischen Gas- und Öllieferungen abhängig. Dies umso mehr, als die Vorräte der Nordsee, die bisher gut ein Drittel der deutschen Ölversorgung deckten, in absehbarer Zeit erschöpft sein werden.

Schon jetzt kommt Russland für 35 Prozent des deutschen Erdgasverbrauchs auf. Dieser Anteil kann in den kommenden 20 Jahren auf über 50 Prozent wachsen. Deutsche Energiekonzerne, die enge personelle Kontakte zum Kanzleramt pflegen, beteiligen sich an staatsnahen russischen Unternehmen und investieren Milliarden in die Erschließung neuer sibirischer Gasfelder. In Planung ist auch eine neue Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland durch die Ostsee.

Während der jüngsten Krise im Kaukasus hat sich die deutsche Regierung demonstrativ hinter Putin gestellt. Bundeskanzler Schröder erklärte am 8. September in seiner Haushaltsrede vor dem Bundestag, Deutschland könne kein Interesse daran haben, dass die territoriale Integrität Russlands in Frage gestellt werde. Zwei Tage später veröffentlichten Putin und Schröder eine gemeinsame Erklärung, in der sie eine enge Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung vereinbarten. Auch Außenminister Joscha Fischer wandte sich öffentlich gegen tschetschenische Unabhängigkeitsbestrebungen. Dies könne "keine Lösung sein, denn die Auflösung Russlands würde dann weiter gehen, mit desaströsen Folgen für die ganze Region und für die Sicherheit auf der Welt", sagte er der Märkischen Allgemeinen.

Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich, die eine Partnerschaft mit Russland befürworten, treten die neuen EU-Mitglieder, die bis 1989 zum Warschauer Pakt gehörten, für dessen Eindämmung ein. Insbesondere in Warschau löst die enge Beziehungen zwischen Berlin und Moskau nach wie vor Alpträume aus. Kommt es in Fragen der Russlandpolitik zu Meinungsverschiedenheiten mit Washington, so stehen diese Staaten fast automatisch auf Seiten der USA.

Trotz dem engen Verhältnis zu Deutschland, Frankreich und Italien sind die russischen Beziehungen zur Europäischen Union insgesamt eher gespannt. Die Brüsseler EU-Kommission hat die russische Tschetschenienpolitik wiederholt scharf kritisiert und nach der Osterweiterung in bilateralen Streitfragen eine für Moskau unerwartet harte Haltung an den Tag gelegt. So verlangt sie Visen für russische Transitreisende nach Kaliningrad, das nach dem EU-Betritt der baltischen Staaten zur Enklave geworden ist, und hat Beschränkungen für russische Importe in die neuen, osteuropäischen Mitgliedsländer verhängt. Misstrauen erregt in Moskau auch das intensive europäischen Werben um die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und Georgien, die Russland als sein Einflussgebiet betrachtet.

Bei allem Interesse an einer strategischen Partnerschaft mit Moskau und am russischen Erdöl und Gas sind auch Berlin und Paris nicht bereit, sich im Kaukasus und Zentralasien den russischen Ansprüchen unterzuordnen. Deutschland ist neben den USA zum wichtigsten Handelspartner in Zentralasien geworden und teilt das US-Interesse an einem Transportkorridor, der Europa und Asien verbindet und außerhalb des russischen Hoheitsgebiets durch Georgien und Aserbaidschan verläuft. Berlin und Paris entwickeln daher ihre eigenen Beziehungen zu den lokalen Machthabern in der Region, auch wenn deren Verhältnis zu Moskau gespannt ist.

Hinzu kommt, dass Schröders Nähe zu Putin auch innerhalb Deutschlands heftig umstritten ist. Es haben sich zwar mehrere Veteranen der deutschen Außenpolitik aus dem Regierungs- und Oppositionslager öffentlich hinter Schröder gestellt - darunter Wolfgang Schäuble (CDU), Karl Lamers (CDU), Egon Bahr (SPD) und Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP). Aus beiden Lagern und den Medien kommt aber auch scharfe Kritik. Schröder wird vorgeworfen, dass er durch sein Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik im Nahen Osten und in Afrika unterhöhle und die gemeinsame europäische Außenpolitik untergrabe. Andere Stimmen warnen davor, sich zu eng an Putins Person zu klammern, dessen Stellung durch den letztlich nicht zu gewinnenden Tschetschenienkrieg zunehmend ins Wanken gerate.

Bei der gegenwärtig wohl explosivsten Frage in der Region - dem iranischen Atomprogramm - arbeiten Deutschland, Frankreich und Russland aber eng zusammen. Der Iran war ein zentrales Thema auf dem letzten Dreiergipfel in Sotschi. Schröder, Chirac und Putin vereinbarten, gemeinsam Druck auf Teheran auszuüben, damit es die Herstellung von angereichertem Uran einstellt. Sie wollen damit einer Eskalation des Konflikts zwischen dem Iran und den USA zuvorkommen. Russland unterhält gute Beziehungen zu Teheran und beliefert den Iran mit Atomtechnologie, und die EU befürwortet im Gegensatz zu den USA eine energiewirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Land.

Europäische Beobachter befürchten, dass die USA nach einem Wahlsieg Bushs den Druck auf den Iran erhöhen werden, dessen Regierung sich weigert, auf die Herstellung von angereichertem Uran zu verzichten. "Ein soeben wiedergewählter US-Präsident Bush wird wohl kaum zögern, militärische Schläge anzudrohen", meint der Spiegel.

Auch ein Präventivschlag Israels, das schon 1981 einen irakischen Atomreaktor zerstört hatte, wird für möglich gehalten. Die USA haben Israel soeben die Lieferung von 500 so genannten "Bunker-Brechern" zugesagt, die für den Einsatz gegen den Iran oder möglicherweise Syrien bestimmt sind, wie israelische Sicherheitskreise unumwunden eingestehen. Die tonnenschweren Präzisionsbomben können tief in den Untergrund eindringen und zwei Meter dicke Betonmauern durchschlagen.

Das taktische Kalkül der Europäer könnte allerdings daneben gehen, wie schon das Beispiel des Irak gezeigt hat. Auch das Regime in Bagdad war von europäischer Seite bedrängt worden, den amerikanischen Abrüstungsforderungen nachzugeben, um damit einem Krieg zuvorzukommen. Bagdad gab nach und zerstörte seine Waffen und Raketen - doch die USA griffen trotzdem an.

Was tun?

Der Kriegsgefahr, die mit der Eskalation der Konflikte im Kaukasus, in Zentralasien und dem Mittleren Osten droht, kann nicht durch die Unterstützung der einen imperialistischen Gruppierung gegen die andere - der schwächeren gegen die stärkere, oder der "friedliebenderen" gegen die aggressivere - begegnet werden.

Es steht außer Zweifel, dass der amerikanische Imperialismus heute der gefährlichste und aggressivste Faktor in der Weltpolitik ist. Daran würde auch ein Machtwechsel in Washington nicht ändern. Aber bereits der Irakkrieg hat die völlige Unfähigkeit der europäischen Regierungen vor Augen geführt, dieser Gefahr entgegenzutreten. Selbst jene, die den Krieg ablehnten, taten dies nur halbherzig und sanktionierten nachträglich die Besetzung des Irak. Sie vermieden es sorgfältig, sich auf die mächtige Antikriegsbewegung zu stützen, die sich weltweit - einschließlich den USA selbst - gegen den Irakkrieg entwickelte.

Letztlich war ihre "Ablehnung" des Irakkriegs durch die eigenen imperialistischen Interessen in der Region motiviert. Sie reagierten auf den Krieg, indem sie die eigenen militärischen Apparate für internationale Interventionen ausbauten und gleichzeitig die Angriffe auf die sozialen und demokratischen Errungenschaften der Bevölkerung verschärften, um im globalen Kampf um wirtschaftliche und strategische Macht bestehen zu können. Es besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen dem wachsenden Militarismus auf der einen und den Angriffen auf soziale und demokratische Rechte auf der anderen Seite.

Dasselbe gilt für Russland, wo die Arbeiterklasse für Putins Großmachtstreben mit sozialer Verelendung und dem Verlust demokratischer Rechte bezahlt.

Der Widerstand der Arbeiterklasse gegen die Kriegsgefahr und gegen die Angriffe der eigenen Regierung, der sich überall auf der Welt entwickelt, muss mit einer internationalen sozialistischen Perspektive befruchtet werden. Das ist die einzige tragfähige Grundlage, um die Gefahr eines neuen Weltbrands zu stoppen. Wie 1914 lautet die Alternative auch heute wieder: Sozialismus oder Barbarei.

Siehe auch:
Die politischen und historischen Fragen im Zusammenhang mit Russlands Angriff auf Tschetschenien
(20. Januar 2000)
Putin stärkt sein autoritäres Regime
( 16. September 2004)
Die Lügen der Putin-Regierung und der ihr hörigen Medien
( 7. September 2004)
Geiselnahme in Nordossetien endet mit Blutbad
( 4. September 2004)
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