Achter Vortrag: Die 1920er Jahre - Weg zu Depression und Faschismus

Diesen Vortrag, "Die 1920-er Jahre - Weg zu Depression und Faschismus", hielt Nick Beams, der nationale Sekretär der Socialist Equality Party in Australien und Mitglied der WSWS-Redaktion, im Rahmen der Sommerschule der Socialist Equality Party/WSWS, die vom 14. bis 20. August in Ann Arbor stattfand.

Nach dem Ersten Weltkrieg: Revolutionäre Zustände in Europa

Gegen Ende des Vortrags über den Ersten Weltkrieg haben wir uns mit einigen Ansichten von Professor Neil Harding beschäftigt. Der Hauptvorwurf, den er gegen Lenin und den Marxismus im Allgemeinen vorbringt, lautet, es gebe keine "Wissenschaft der Revolution" und könne diese auch gar nicht geben. Daher sei auch "die Suche nach einer eindeutigen Anleitung im Hinblick auf die ‚objektiven’ Grenzen des Handelns, insbesondere in traumatischen revolutionären Zeiten, zum Scheitern verurteilt" [1]. Wenn dies zuträfe, dann müssten wir das Scheitern des Marxismus konstatieren, der doch - wie Lenin betonte - vor allem eine Anleitung zum Handeln ist.

Harding bezieht sich dabei auf Anmerkungen von Engels im Vorwort zu Marx’ Die Klassenkämpfe in Frankreich. Engels bemerkte, dass es in einer gegebenen politischen Situation nicht möglich sei, die zugrunde liegenden wirtschaftlichen Prozesse und Veränderungen in ihrem vollen Umfang zu kennen. "Es ist selbstredend, daß diese unvermeidliche Vernachlässigung der gleichzeitigen Veränderungen der ökonomischen Lage, der eigentlichen Basis aller zu untersuchenden Vorgänge, eine Fehlerquelle sein muß. Aber alle Bedingungen einer zusammenfassenden Darstellung der Tagesgeschichte schließen unvermeidlich Fehlerquellen in sich; was aber niemanden abhält, Tagesgeschichte zu schreiben." [2]

Dies trifft auf die Revolution sogar in noch weit höherem Maße zu. Hardings Ansicht nach ist der Marxismus unverantwortlich, wenn nicht sogar kriminell, weil er die Massen ermutigt, "ihr Leben im Bürgerkrieg aufs Spiel zu setzen", ohne sich der Veränderungen der zugrunde liegenden ökonomischen Situation bewusst zu sein, die zu Fehleinschätzungen führen müssen. Während Engels meinte, die von ihm genannten Probleme hinderten niemanden am Schreiben zeitgenössischer Geschichte, so ist es laut Harding eine ganz andere Sache, wenn es darum geht, Geschichte mittels einer Revolution zu machen.

"Genau dieselbe Kritik", so fährt er fort, "kann gegen Lenins Imperialismustheorie (die ökonomische Konstante seiner gesamten Analyse) und seine daraus abgeleitete Staatstheorie vorgebracht werden." [3]

Sein Hauptargument gegen die Imperialismustheorie, die die theoretische Grundlage der bolschewistischen Machteroberung bildete, lautet, sie habe das Schicksal des Weltkapitalismus nicht eindeutig beantworten können.

"Lenin bedrängte seine Gefolgsleute mit der Sicherheit eines Ideologen. Daraus folgte, dass er die methodischen Unbestimmtheiten im Zentrum seiner Analyse ignorieren musste. Das bedeutet nicht, dass Lenin der marxistischen Logik Gewalt antat, als er zur Oktoberrevolution inspirierte und sie anführte. Es bedeutet lediglich, dass der Marxismus niemals in der Lage ist, im Voraus genaue Angaben über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für eine erfolgreiche sozialistische Revolution zu machen. Die marxistisch-revolutionäre Aktion kann sich nur auf eine Reihe von mehr oder weniger gut hergeleiteten Voraussagen bzw. auf Schlussfolgerungen aus mehr oder weniger akkuraten Analysen einer zeitlich entfernten sozioökonomischen Struktur stützen. Ihre ‚Rechtfertigung’ erfolgt daher immer nach und nicht vor dem Ereignis. Sie ist dann, aber nur dann gerechtfertigt, wenn ihre Vorhersagen sich als zutreffend erweisen. Genau darin lag der gewichtige Unterschied zwischen dem Machen und dem bloßen Schreiben von Geschichte. Im Ergebnis bewahrheitete sich keine der Voraussagen, auf denen das ganze Unternehmen der Russischen Revolution beruhte. Das Land wurde durch seine ruinierten Ressourcen und sein niedriges Kulturniveau bezwungen. Unter diesen Umständen musste das Regime degenerieren - wie sogar Lenin zuzugeben bereit war. Doch nie wurde eingestanden, dass Lenin (und die Bolschewiki) eine gewaltige Verantwortung für das Wagnis der totalen Umgestaltung trugen, die sich schließlich als Katastrophe erwies, als sich die Vorhersagen, auf denen sie beruhte, als falsch erwiesen. Menschen können ohne Zweifel von Ideen zu heldenhaften und selbstlosen Taten ermutigt werden, doch dieselben Ideen können zu einem Vorgehen ermutigen, das - vielleicht unabsichtlich - in die Barbarei führt. In diesem Sinne sind Ideologien niemals unschuldig; sie tragen stets das Kainszeichen auf ihrer Stirn." [3]

Mit anderen Worten: Die Russische Revolution war ein "Sprung ins Ungewisse", ein gigantisches Glücksspiel, ein verbrecherisches Wagnis, dessen Fehlschlagen tragische Folgen hatte. Die Verantwortung für den Stalinismus liegt letztlich bei Lenin und den Bolschewiki. Selbst wenn sie vielleicht in Opposition zu Stalin und dem von ihm geleiteten bürokratischen Apparat standen, hatten sie dennoch die Revolution angezettelt, und zwar in einer Situation, in der - wie die weiteren Ereignisse zeigen sollten - die Bedingungen für ihre weitere Ausbreitung nicht existierten. Sie begannen einen revolutionären Kampf unter Bedingungen, unter denen sie sein Ergebnis nicht voraussehen konnten - daher sind sie verantwortlich für alles, was danach kam.

Daraus folgt nicht nur, dass die Russische Revolution falsch war, sondern auch, dass man niemals wieder den Weg der Revolution beschreiten darf: Denn es ist niemals möglich, das Ende vorauszusehen, da man nicht mit absoluter Sicherheit sagen kann, ob die ökonomischen Bedingungen schon reif genug sind.

Der Machteroberung der Bolschewiki lag die theoretische Analyse zugrunde, dass - wie Lenin es ausdrückte - die Kette des Imperialismus an ihrem schwächsten Glied gebrochen war. Doch nicht nur dieses eine Glied, die ganze Kette war gebrochen. Russland war lediglich der fortgeschrittenste Ausdruck der revolutionären Situation, die sich in ganz Europa entwickelte.

Dies war nicht nur Lenins Analyse. Sie wurde mehr oder weniger von den Führern des europäischen Imperialismus und US-Präsident Woodrow Wilson geteilt.

Wilsons berühmte "14 Punkte" vom Januar 1918 waren eine direkte Antwort auf die Russische Revolution, besonders auf den Aufruf der Bolschewiki, die Verhandlungen mit der deutschen Heeresleitung in Brest-Litowsk sollten zum Ausgangspunkt eines allseitigen Friedensvertrages werden. Auf einen Appell Trotzkis, die Völker Europas sollten die Zusammenkunft einer allgemeinen Friedenskonferenz erzwingen, reagierte US-Außenminister Lansing, indem er dazu riet, den Aufruf zu ignorieren.

In einem Memorandum an Wilson attackierte er die "grundlegenden Irrtümer" des Appells und warnte, die Bolschewiki wendeten sich "an eine Klasse und nicht an alle Klassen der Gesellschaft, und zwar an eine Klasse, die über kein Eigentum verfügt, aber hofft, sich einen Anteil daran zu sichern, und zwar nicht durch persönlichen Unternehmergeist, sondern durch Regierungshandeln." Lansing stellte deutlich seine Auffassung der biologischen Überlegenheit zur Schau, die damals in den herrschenden Eliten so weit verbreitet war, und verurteilte das Dokument als "Appell an die Unwissenden und geistig Minderbemittelten, die sich durch ihre bloße Zahl zur Herrschaft berufen fühlen. Mir scheint hier eine reale Gefahr hinsichtlich der momentanen sozialen Unruhen zu liegen."

Die Gefahr des Aufrufs lag darin, wie er schrieb, dass "er den Durchschnittsmenschen durchaus ansprechen könnte, der seine grundlegenden Irrtümer nicht durchschaut". Zusätzlich zu ihren Angriffen auf das Eigentum unterminierten die Bolschewiki den Nationalismus, indem sie "Anschauungen vertreten, die die Klasse über das allgemeine Konzept der Nationalität stellen. [...] Eine solche Theorie wäre zutiefst destruktiv für das politische Fundament der Gesellschaft und würde in permanentem Aufruhr und Umbruch enden. Wenn die gesellschaftliche Ordnung und die Stabilität der Regierung aufrechterhalten werden sollen, kann man das einfach nicht zulassen." [5]

Doch Wilson wusste sehr wohl, dass man den Aufruf der Bolschewiki nicht einfach ignorieren konnte. Je mehr die Unzufriedenheit der Massen wuchs, desto gefährlicher wurde die Situation für die Regierungen der Alliierten. In einer Diskussion mit dem scheidenden britischen Botschafter legte er am 3. Januar seine Bedenken dar.

Ein Bericht über das Treffen hielt folgendes fest: "Er selbst [der Präsident] wandte sich mit der vollen Unterstützung des amerikanischen Volkes und dessen ausdrücklicher Billigung hinter dem Rücken der deutschen Regierung an das deutsche Volk. Die russischen Bolschewiki haben sich nun eben diese Politik zu eigen gemacht. Sie haben sich mit einem Aufruf an alle Nationen der Welt gewandt - an die Völker, nicht an die Regierungen. Gegenwärtig verfüge er über keine oder zumindest keine gesicherten Informationen, wie dieser Aufruf aufgenommen worden sei. Doch gebe es Belege dafür, dass er mit Sicherheit in Italien und wahrscheinlich auch in England und Frankreich nicht ohne Wirkung geblieben sei. In den Vereinigten Staaten finde eine aktive Agitation statt. Es sei noch zu früh, um mit Sicherheit sagen zu können, wie erfolgreich diese gewesen sei. Doch klar sei: Wenn man den Aufruf der Bolschewiki unbeantwortet lasse, wenn man nichts tue, um ihm entgegenzuwirken, dann würden die Auswirkungen bedeutend sein und weiter an Bedeutung gewinnen." [6]

Schon vor Ausbruch des Krieges hatten die Klassenspannungen zugenommen. In allen großen europäischen Hauptstädten war vor einer nahenden vorrevolutionären Situation gewarnt worden. In Österreich hatten offizielle Kreise hieraus geschlossen, die einzige Alternative zum Bürgerkrieg bestehe in einem gesamteuropäischen Konflikt. In Russland entwickelte sich 1913/14 eine Streikwelle, die noch größer war als jene, die mit der Revolution von 1905 einhergegangen war. In Deutschland war es besonders nach dem Sieg der SPD in den Wahlen von 1912 zu Spekulationen und Diskussionen in herrschenden Kreisen gekommen, ob nicht ein äußerer Konflikt dazu dienen könnte, die sich im Inneren aufbauenden Spannungen zu entschärfen. Von Bülow schrieb in seinen Memoiren: "Ende 1912 hörte ich aus Düsseldorf, dass Kirdorf, einer der größten Industriellen des Rheinlandes, [...] erklärt habe, wenn das noch drei Jahre so weiterginge, dann würde Deutschland bis dahin in Krieg oder Revolution stecken."

In Italien waren die Monate vor dem Kriegsausbruch stark von Aufständen und Streiks geprägt. In vielen Städten wurden lokale Republiken errichtet. Über der Stadthalle von Bologna wurde die rote Fahne gehisst. In Frankreich wuchs die Militanz der Arbeiterklasse. 1913 kam es zu 1.073 Streiks, an denen sich eine Viertelmillion Arbeiter beteiligten - darunter auch Beschäftigte der Post und des Telegraphenwesens, die bis dahin als staatstreu galten. Streiks von Landarbeitern endeten oft in Aufständen, bei denen die Häuser der Grundbesitzer verbrannt wurden.

In Großbritannien war die Periode unmittelbar vor dem Krieg eine Zeit zunehmender Gewalttätigkeit. George Dangerfield berichtet, dass "Feuer, die lange im geistigen England geschwelt hatten, mit einem Male aufloderten, so dass Ende 1913 das liberale England in Schutt und Asche lag". Der langjährige Labour-Politiker Emanuel Shinwell schreibt in seinen Memoiren: "Die Unzufriedenheit unter den Massen wuchs als ein Ausdruck der Millionen gewöhnlicher Menschen, die von dem industriellen Wachstum und dem großspurigen Imperialismus des viktorianischen Zeitalters wenig oder gar nichts abbekommen hatten."

Dem Diplomaten und Politiker Harold Nicolson zufolge hatten die zunehmenden Erhebungen der Industriearbeiter, die von einem "revolutionären Geist" gekennzeichnet waren, gemeinsam mit der Krise um die Herrschaft über Irland das Land "an den Rand des Bürgerkrieges" gebracht. Im Buckingham Palast warnte George V. im Juli 1914 während einer Konferenz: "Das Geheul des Bürgerkriegs liegt auf den Lippen der verantwortlichsten und nüchternsten meiner Untertanen." Der Historiker Halevy beschreibt die industriellen Unruhen als "zeitweise der Anarchie nahekommend" und schließt daraus, es habe sich um "eine Revolte nicht nur gegen die Autorität des Kapitals, sondern auch gegen die Disziplin der Gewerkschaften" gehandelt.

Und jetzt war die Drohung, die die herrschenden Klassen Europas schon lange in ihrem Nacken spürte - dass die so genannte "soziale Frage" eines Tages in eine Revolution münden würde - in Gestalt der Russischen Revolution zur Wirklichkeit geworden. Am 4. November notierte Beatrice Webb, eine führende Vertreterin der Fabian Society und strikte Befürworterin des Parlamentarismus, in ihrem Tagebuch die Ängste der herrschenden Eliten ganz Europas: "Stehen wir einem neuen Russland in Österreich oder gar Deutschland gegenüber - einem Kontinent in zügelloser Revolution?" [7]

Als die Alliierten in Paris zusammenkamen, um den Vertrag zu entwerfen, den sie Deutschland vorzulegen gedachten, war die sowjetische Regierung nicht eingeladen. Doch während der Monate vielschichtiger Verhandlungen, in denen die Alliierten ihre Konflikte untereinander zu lösen versuchten, war die Revolution stets gegenwärtig. "Das kommunistische Russland", schrieb Herbert Hoover, der zu jener Zeit mit der Verteilung der amerikanischen Lebensmittellieferungen nach Europa betraut war, "war ein Gespenst, das fast täglich auf der Friedenskonferenz umging." [8]

Der Journalist Ray Stannard Baker, ein enger Vertrauter Wilsons, wies auf den Kontrast zwischen dem Wiener Kongress nach der Niederlage Napoleons 1815 und den Verhandlungen von Versailles hin: "Zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Wende dieser Verhandlungen baute sich das Gespenst des Chaos vor uns auf wie eine schwarze Wolke aus dem Osten, die die Welt zu überwältigen, zu verschlingen drohte. In Wien hatte kein Russland an die Türen geklopft, man hatte die Revolution offensichtlich sicher hinter sich gelassen; in Paris war sie stets anwesend." [9] Nur wenige, so merkte er an, nahmen wahr, "wie explosiv die Situation während der Konferenz in ganz Europa war. Jede Regierung war instabil; es hätte nur eines kleinen Fehltritts von Lloyd-George, Clemenceau oder Orlando bedurft, und sie wären mit ihren Ämtern untergegangen." [10]

Während der Konferenz schrieb der britische Premierminister Lloyd-George einen Brief an den französischen Präsidenten Clemenceau, in dem er seine Befürchtungen darlegte: "Ganz Europa ist erfüllt vom Geist der Revolution. Unter den Arbeitern besteht ein tiefes Gefühl nicht nur von Unzufriedenheit, sondern von Wut und Erhebung gegen die Vorkriegsbedingungen. Die gesamte bestehende Ordnung wird in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht von den Volksmassen vom einen Ende Europas bis zu anderen in Frage gestellt." [11]

Die Friedenskonferenz trat unter dem Banner von Wilsons Vierzehn Punkten zusammen - das Schlussdokument jedoch brach alle darin enthaltenen Grundsätze. Als William C. Bullitt, ein Mitglied der amerikanischen Delegation, aus Abscheu vor den Friedensbedingungen, die Deutschland auferlegt werden sollten, seinen Rückzug von den Verhandlungen ankündigte und erklärte, Wilson hätte sich über die Köpfe der Regierungen hinweg an die Volksmassen Europas wenden sollen, erklärte Wilsons engster Berater Edward M. ‚Colonel’ House, warum das nicht möglich gewesen war.

Es bestehe kein Zweifel, sagte er, dass, "wenn der Präsident seinen Einfluss bei den liberalen und arbeitenden Klassen zur Geltung gebracht hätte, er damit möglicherweise die Regierungen [einiger der Alliierten] gestürzt hätte". Doch dies hätte zu einer scharfen Wendung nach links in ganz Europa geführt und zu Bedingungen, die den "Bolschewismus" hätten stärken können. Eben darum habe Wilson Recht gehabt, sich nicht von der Konferenz zurückzuziehen. Andernfalls hätte es "in jedem Land Europas eine Revolution gegeben. [...] Der Präsident war nicht bereit, diese Verantwortung auf sich zu nehmen." [12]

Diese Zitate - und ebenso die tatsächlichen Ereignisse - zeigen, dass in der Zeit nach dem Krieg in ganz Europa eine revolutionäre Situation bestand. Dass diese Situation nicht zu einer wirklichen sozialistischen Revolution führte, lag an den sozialdemokratischen Führern der Arbeiterklasse, besonders in Deutschland. Hier bildeten die SPD-Führer eine Allianz mit dem Oberkommando der Armee, um den Staatsapparat Deutschlands intakt zu halten. Zu diesem Zweck bedienten sie sich der Freikorps, Vorläufer der Nazi-Sturmtruppen, die die während der revolutionären Erhebungen vom Oktober-November 1918 geschaffenen Arbeiterräte zerschlugen und die wichtigsten Revolutionäre ermordeten, insbesondere Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Doch trotz der unstrittigen Existenz einer objektiven revolutionären Situation in der Zeit nach dem Krieg stellt sich uns immer noch die Frage nach den langfristigen Entwicklungen. War diese revolutionäre Periode lediglich ein vorübergehender historischer Moment, eine Art Ausgeburt des Krieges, auf den die baldige Restabilisierung folgen sollte, in der dann die kapitalistische Klasse wie zuvor die Kontrolle übernehmen würde? Oder bestanden tiefe Widersprüche im Herzen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, die zu weiteren Eruptionen führen würden? Diese Frage - die alle von Harding aufgeworfenen Probleme berührt - kann nur ein Studium der politischen Ökonomie der Nachkriegsperiode beantworten.

Die Krise des Kapitalismus, politische Perspektiven und revolutionäre Führung

Worauf muss sich eine wissenschaftliche Herangehensweise gründen, mit der wir geschichtliche Ereignisse im Licht der Gesetze der politischen Ökonomie untersuchen wollen? In der Einleitung zu seinen Vorlesungen über Geschichtsphilosophie bemerkte Hegel, dass es "die Sehnsucht nach vernünftiger Einsicht und nicht bloß die Anhäufung einer Masse von Daten ist, die den Geist dessen beherrscht, der sich mit Wissenschaft beschäftigt".

In einer Würdigung von Marx weist der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter auf "eine Sache von grundsätzlicher Bedeutung" hin, die dieser erreicht habe. "Die Ökonomen haben immer entweder selbst wirtschaftsgeschichtlich gearbeitet oder sonst die historische Arbeit anderer verwendet. Doch die Tatsachen der Wirtschaftsgeschichte wurden in eine gesonderte Abteilung verwiesen. Wenn sie überhaupt in die Theorie Einlass fanden, dann bloß in der Rolle von Illustrationen oder möglicherweise zur Verifikation von Ergebnissen. Sie vermischten sich mit ihr nur mechanisch. Nun, Marxens Mischung ist chemisch; das heißt: er führte sie in das Argument selbst ein, das die Resultate zeitigt. Er war der erste Ökonom von Spitzenrang, der sah und systematisch lehrte, wie ökonomische Theorie in historische Analyse und wie die historische Erzählung in histoire raisonnée verwandelt werden kann." [13]

Wenn man die Geschichte des industriellen Kapitalismus während der vergangenen 200 Jahre untersucht, dann wird deutlich, dass sich das Wirtschaftswachstum mittels einer Reihe von Schwankungen entwickelte. Der Konjunkturzyklus, bestehend aus Perioden des Booms, der Stagnation und der Rezession und akzentuiert durch Krisen, ist ein beständiger Teil der kapitalistischen Wirtschaftsweise - trotz der periodisch wiederkehrenden Behauptungen, dieser Zyklus sei abgeschafft.

Ebenso ist klar, dass es längere Perioden gibt, die ihre eigenen Charakteristika und Besonderheiten aufweisen. So unterscheidet sich z.B. die Periode von 1849, dem Beginn des Booms Mitte der viktorianischen Ära, bis zum finanziellen Zusammenbruch von 1873 von der Periode von 1873 bis 1896, die als große Depression des 19. Jahrhunderts in die Wirtschaftsgeschichte einging. Ebenso sind die 1920er und 30er Jahre sehr verschieden vom Nachkriegsboom der 1950er und 60er Jahre, und diese Periode unterscheidet sich wiederum sehr stark von der heutigen. In all diesen Perioden wirkte der Konjunkturzyklus, und doch verlief die wirtschaftliche Entwicklung jeweils sehr unterschiedlich. Hier sind offensichtlich Prozesse am Werk, die die Wirkungsweise des Konjunkturzyklus prägen und den Rahmen schaffen, in dem sich die längerfristige wirtschaftliche Entwicklung vollzieht.

Das Verhältnis zwischen Konjunktur und längerfristigen historischen Perioden der "kapitalistischen Entwicklungskurve" war Thema eines Berichts, den Leo Trotzki im Juni/Juli 1921 vor dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationale hielt. Auch zahlreiche Reden und Artikel Trotzkis während der folgenden Jahre, die sich mit Fragen der Perspektive beschäftigten, drehten sich um dieses Thema.

Als der Dritte Kongress zusammentrat, ebbte der anfängliche revolutionäre Aufschwung nach dem Ersten Weltkrieg bereits deutlich ab. Es war der deutschen Arbeiterklasse nicht gelungen, die Macht zu erobern, die ungarische Revolution war niedergeschlagen worden und es gab Anzeichen einer gewissen wirtschaftlichen Wiederbelebung nach der tiefen Krise von 1919/20. Diese Entwicklungen stellten die revolutionäre Bewegung vor neue Herausforderungen bei der Entwicklung ihrer Perspektiven.

Die Sozialdemokraten, die sich gegen die Russische Revolution gewandt, diese für "verfrüht" erklärt und die Konterrevolution gegen die deutsche Arbeiterklasse organisiert hatten, begrüßten von einem rechten Standpunkt aus den Aufschwung der Konjunktur, da er ihre Haltung zu rechtfertigten schien. Der Aufschwung zeige, behaupteten sie, dass die Machteroberung der Bolschewiki aus marxistischer Sicht unzulässig gewesen sei und einen "Putsch" darstelle, da die Produktivkräfte noch immer in der Lage seien, sich innerhalb kapitalistischer Verhältnisse weiter zu entwickeln. Die Perspektive der Machteroberung durch die Arbeiterklasse wurde damit in ebenso unbestimmte Zukunft verschoben wie vor dem Krieg.

Auf der anderen Seite vertraten zahlreiche linke Tendenzen die so genannte Offensivtheorie. Ihrer Perspektive zufolge bestand keinerlei Möglichkeit eines Aufschwungs der kapitalistischen Wirtschaft. Die Wirtschaftskrise der unmittelbaren Nachkriegszeit würde sich kontinuierlich vertiefen und unausweichlich zur Machtergreifung der Arbeiterklasse führen.

Trotzki legte mit seiner Analyse dar, dass der Kapitalismus kein neues Gleichgewicht etablieren konnte und daher die Perspektive der Sozialdemokraten falsch war. Der Krieg und die Russische Revolution waren keine Zufälle gewesen - sie bedeuteten vielmehr, dass das kapitalistische System in eine Periode tiefen Ungleichgewichts eingetreten war, die anhalten würde.

Gleichzeitig beschäftigte er sich mit den "Linken", die den Abschwung der Konjunktur nach dem Ersten Weltkrieg mit der historischen Krise der kapitalistischen Wirtschaft gleichsetzten. Die Situation war weitaus komplexer. Im Jahre 1921 war klar, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung stattfand. Das bedeutete aber nicht, dass ein neues Gleichgewicht geschaffen war.

Trotzki wandte sich gegen die "Linken" und ihrer Gleichsetzung des Konjunkturabschwungs mit der historischen Krise des Kapitalismus. Er erklärte, würde man eine Kurve zeichnen, welche die Entwicklung des Kapitalismus darstellt, dann sähe man, dass diese "aus zwei Bewegungen besteht: Einer vorrangigen Bewegung, die den allgemeinen Aufwärtstrend des Kapitalismus ausdrückt, und einer zweiten Bewegung, die aus den ständigen periodischen Schwankungen besteht, die den verschiedenen Wirtschaftszyklen entsprechen." [14]

Das Verhältnis dieser beiden Bewegungen stellte sich nach Trotzki folgendermaßen dar: "In Perioden schneller kapitalistischer Entwicklung sind die Krisen ihrem Wesen nach kurz und oberflächlich, während die Zeiten der Hochkonjunktur länger und umfassender sind. In Zeiten des kapitalistischen Niedergangs ziehen sich die Krisen in die Länge und die Hochkonjunktur ist unbeständig, oberflächlich und spekulativ. In Perioden der Stagnation ereignen sich die Schwankungen auf ein und demselben Niveau." [15]

Entgegen den Behauptungen, die Wirtschaftskrise von 1919/20 werde sich stetig verschlimmern bis schließlich die Arbeiterklasse die Macht erobert, betonte Trotzki, dass der Kapitalismus, so lange er besteht, immer zyklisch schwanken werde, so wie ein Mensch auch auf seinem Sterbebett noch atmet. Unabhängig davon, unter welchen allgemeinen Bedingungen sie stattfinde, werde eine Handelskrise immer die Überproduktion beseitigen, das bestehendes Kapital entwerten und aus diesem Grund die Möglichkeit einer industriellen und kommerziellen Wiederbelebung schaffen.

Das bedeutete jedoch keineswegs, dass der Kapitalismus in der Lage sein werde, zu einem neuen Gleichgewicht zu finden bzw. zu den Bedingungen zurückzukehren, die das Wachstum der Vorkriegsepoche ermöglicht hatten. "Ganz im Gegenteil", erklärte Trotzki, " ist es sogar recht wahrscheinlich, dass dieser Boom nach seinen ersten Erfolgen auf die durch den Krieg aufgeworfenen wirtschaftlichen Gräben stoßen wird." [16]

Doch was, wenn der Kapitalismus fortbestehen würde? Bestand die Möglichkeit, dass der Kapitalismus zu einem zukünftigen Zeitpunkt ein neues Gleichgewicht finden und ein allgemeines Wachstum sicherstellen würde, wie dies im 19. Jahrhundert und den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts geschehen war? In seinem Bericht an den Dritten Kongress schloss Trotzki eine derartige Perspektive nicht aus, machte jedoch deutlich, dass sie nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich war.

"Wenn wir voraussetzen - und setzen wir einen Moment lang voraus - dass die Arbeiterklasse sich im revolutionären Kampf nicht durchsetzt, sondern der Bourgeoisie gestattet, die Geschicke der Welt noch für lange Jahre, sagen wir zwei oder drei Jahrzehnte zu bestimmen, dann wird mit Sicherheit eine Art neues Gleichgewicht geschaffen. Millionen europäischer Arbeiter werden aufgrund von Arbeitslosigkeit und Unterernährung sterben. Die Vereinigten Staaten werden gezwungen sein, sich auf dem Weltmarkt neu zu orientieren, ihre Industrie umzubauen und sich für eine beträchtliche Periode zu beschränken. Später, nachdem eine neue Weltarbeitsteilung durch 15 oder 20 oder 25 schmerzliche Jahre eingerichtet worden ist, könnte vielleicht eine neue Epoche des kapitalistischen Aufschwungs erfolgen." [17]

Als er sechs Monate später in einer Rede, die sich in der Folge tragischerweise als Voraussage des Schicksals der europäischen und internationalen Arbeiterklasse erweisen sollte, erneut auf diesen Punkt zurückkam, betonte er abermals, dass es hierbei nicht um ein automatisches Zusammenwirken ökonomischer Faktoren ging. Nur wenn die Arbeiterklasse passiv bleiben und die Kommunistische Partei ein ums andere Mal versagen sollte, würde es möglich sein, dass die wirtschaftlichen Kräfte "langfristig eine Art neues Gleichgewicht auf den Knochen von Millionen und Abermillionen europäischer Arbeiter und durch die Verwüstung einer ganzen Reihe von Ländern wieder herstellen. In zwei oder drei Jahrzehnten würde ein neues kapitalistisches Gleichgewicht errichtet sein, doch dies würde gleichzeitig die Auslöschung ganzer Generationen, den Niedergang der europäischen Kultur und so weiter bedeuten. Dies ist eine rein abstrakte Herangehensweise, die die wichtigsten und grundlegendsten Faktoren außer Acht lässt, nämlich die Arbeiterklasse unter der Führung der Kommunistischen Partei." [18]

Diese Bemerkung Trotzkis ist von immenser methodologischer Bedeutung. Im Gegensatz zu den Positionen Hardings kann die historische Entwicklung des Kapitalismus nicht unabhängig von der Entwicklung des Klassenkampfs und der Rolle der Parteien und Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung betrachtet werden.

Mit anderen Worten: Die Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaft führt nicht an und für sich zu einem einzigen, unvermeidlichen historischen Ergebnis. Vielmehr ist sie die Grundlage, auf der der Klassenkampf ausgefochten wird - ein Kampf, in dem der subjektive Faktor, die revolutionäre Führung, von entscheidender Bedeutung ist.

Sollte die Arbeiterklasse aufgrund der Politik ihrer Führung nicht imstande sein, die Bourgeoisie zu stürzen, dann wäre ein neues Gleichgewicht möglich- zu einem schrecklichen Preis. Doch das Eintreten einer solchen Situation würde nicht bedeuten, dass dem kapitalistischen System weiterhin eine fortschrittliche historische Rolle zukäme, sondern vielmehr, dass die revolutionäre Klasse - das Proletariat - nicht in der Lage war, es zu stürzen. Unter den Bedingungen einer anderen Führung und einer anderen Politik, wäre ein völlig anderes Ergebnis auf Basis der gleichen ökonomischen Voraussetzungen möglich.

Dieselben Fragen stellen sich, wenn man den historischen Prozess vom Standpunkt der Bourgeoisie betrachtet. Sie blieb nicht aufgrund der automatischen Auswirkungen der objektiven Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft im Sattel. Die historische Krise der kapitalistischen Produktionsweise bedeutete vielmehr, dass das Schicksal der Bourgeoisie von ihrem eigenen Eingreifen abhing.

Die wirtschaftliche Sackgasse nach dem Krieg

Historische Analysen zur politischen Ökonomie der 1920er Jahre beginnen in der Regel mit einer Diskussion über den Einfluss des Krieges und seiner wirtschaftlichen Auswirkungen. Dies war auch die Herangehensweise zeitgenössischer Beobachter, die meinten, die wachsenden Probleme der 1920er Jahre seien ein Ergebnis der Kriegsverheerungen, die das weltwirtschaftliche Gleichgewicht schwer erschüttert hätten.

Doch von unserem heutigen, rückblickenden Standpunkt aus werden die Probleme dieser Herangehensweise augenscheinlich, sobald wir die Periode nach dem Ersten Weltkrieg mit der nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichen. Im ersten Fall finden wir ein Jahrzehnt höchst unstabiler Erholung vor, das, unterbrochen von einer Reihe scharfer Rezessionen, am Ende in die tiefste Depression in der Geschichte des Weltkapitalismus und zum barbarischsten Regime aller Zeiten führte - der Naziherrschaft in Deutschland. Im zweiten Fall sehen wir, dass trotz der weit schlimmeren Zerstörungen von Kapital und Infrastruktur sich der Weltkapitalismus innerhalb von nur zehn Jahren nach Kriegsende des größten Booms seiner Geschichte erfreute.

Anstatt den Einfluss des Krieges auf die kapitalistische Wirtschaft zu untersuchen, ist es notwendig, sich dem Problem von einer anderen Seite zu nähern. Das heißt zu untersuchen, welche langfristigen Veränderungen und Verschiebungen in der kapitalistischen Wirtschaft stattfanden und wie diese den Krieg sowie die ihm folgenden wirtschaftlichen Entwicklungen hervorbrachten. Das heißt nicht, dass wir den Krieg einfach als Ergebnis ökonomischer Prozesse betrachten oder seinen Einfluss auf die Wirtschaft abstreiten. Der Krieg und besonders die politische Neuordnung Europas durch den Versailler Vertrag hatten tatsächlich weitreichende ökonomische Auswirkungen. Doch der Krieg war nicht die Ursache der Krisen, die zuerst die europäische und schließlich die Weltwirtschaft heimsuchten. Vielmehr verstärkte er bereits bestehende ökonomische Tendenzen.

In seiner Analyse dieser Frage verwies Trotzki auf das Verhältnis zwischen der kapitalistischen Entwicklungskurve als ganzer und dem Ausbruch des Krieges.

"Ab dem Jahre 1913", schrieb er in einem Bericht an den Vierten Kongress der Kommunistischen Internationale, "kam die Entwicklung des Kapitalismus, seiner Produktivkräfte, ein Jahr vor dem Ausbruch des Kriegs zum Stillstand, weil die Produktivkräfte an die Grenzen stießen, die ihnen durch das kapitalistische Eigentum und die kapitalistischen Formen der Aneignung gesetzt waren. Der Markt war aufgeteilt, der Wettbewerb auf den Höhepunkt getrieben, und fortan konnten sich die kapitalistischen Länder nur durch mechanische Mittel gegenseitig vom Markt verdrängen. Nicht der Krieg hat die Entwicklung der Produktivkräfte in Europa angehalten, sondern der Krieg selbst ist vielmehr daraus entstanden, dass es den Produktivkräften unmöglich war, sich unter den Bedingungen kapitalistischer Regie weiterhin in Europa zu entwickeln." [19]

Das Wirtschaftswachstum in Europa war in der Zeit zwischen den Kriegen langsamer als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt des 20. Jahrhunderts. In der Periode von 1913 bis 1950 wuchs das Bruttoinlandsprodukt von fünfzehn westeuropäischen Volkswirtschaften im Durchschnitt um 0,5 Prozent pro Jahr, verglichen mit 1,4 Prozent in der Spanne von 1890 bis 1914 und 4,0 Prozent in der Zeit von 1950 bis 1973.

Das Problem, mit dem die Volkswirtschaften Westeuropas in den 1920er Jahren konfrontiert waren, bestand nicht so sehr in der Zerstörung industrieller Kapazitäten, als vielmehr im Erschließen neuer Märkte für die im Lauf des Krieges stark gesteigerte Industrieproduktion. So hatte sich beispielsweise die weltweite Schiffsbauproduktion seit 1914 fast verdoppelt, die Eisen- und Stahlproduktion Großbritanniens und Westeuropas lag Mitte der 20er Jahre um 50 Prozent höher als vor dem Krieg. Dennoch befanden sich diese Industrien beständig unter Druck. Deutschland, das in der Zeit vor dem Krieg einer der führenden Chemieproduzenten gewesen war, musste gleichzeitig erleben, wie seine Exportmärkte durch die gestiegene Produktion der Alliierten halbiert wurden.

Der Ausbruch des Krieges 1914 bedeutete, dass die Produktivkräfte in Widerspruch zum System des Nationalstaates geraten waren. Der aggressive Charakter des deutschen Imperialismus stellte einen Versuch des dynamischsten Teils des europäischen Kapitals dar, den Kontinent neu zu organisieren, um die Bedingungen für seine weitere Expansion zu schaffen. Der Versailler Vertrag jedoch half auf keinerlei Weise, die tiefer liegenden Probleme der kapitalistischen Entwicklung zu lösen, die zum Krieg geführt hatten. Er verschärfte sie vielmehr. Einem zeitgenössischen Historikers zufolge kann man "behaupten, dass die unmittelbaren Konsequenzen der mehr als vier Jahre anhaltenden Feindseligkeiten für die langfristige Zukunft Europas weniger wichtig waren als die Abmachungen, die unmittelbar nach dem Krieg getroffen wurden". [20]

Die Neuorientierung nach dem Krieg bedeutete den bedeutendsten Kraftakt zur Umordnung der politischen Landschaft Europas, der je unternommen worden war. Das vertiefte alle bestehenden Probleme. Es kam zur Aufteilung von Gebieten, die zuvor zusammenhängende wirtschaftliche Einheiten gebildet hatten. Deutschland verlor 6,5 Millionen seiner Bevölkerung und 13 Prozent seines Territoriums. Oberschlesien ging verloren, die Verbindung zwischen der Kohle des Ruhrgebiets und dem Eisenerz Lothringens war abgebrochen.

Die Zahl der wirtschaftlichen Einheiten Europas, innerhalb derer sich die Produktionsfaktoren ohne Beschränkungen bewegen konnten, stieg von 20 auf 27. Die ehedem zusammenhängende Volkswirtschaft des österreichisch-ungarischen Reiches war zerstückelt und auf sieben Staaten verteilt. Aus den westlichen Grenzgebieten Russlands wurden fünf neue Staaten geschnitten. Es gab nun 27 verschiedene Währungen in Europa, im Gegensatz zu 14 vor dem Krieg, sowie zusätzliche 12.500 Meilen an Grenzen. Viele dieser Grenzen schnitten Fabriken von ihren Rohstoffen ab, Landgüter von ihren Märkten und Eisenhütten von Kohlefeldern.

Der Historiker William Keylor fasst diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: "Anders als der Prozess der nationalen Einigung im westlichen Europa des 19. Jahrhunderts, der die wirtschaftlichen Einheiten vergrößert und die Produktivität hatte wachsen lassen, verringerte die Staatenbildung in Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg die Größe der bestehenden ökonomischen Einheiten und minderte damit die Effizienz, die traditionell mit der Großproduktion einhergeht." [21]

Abgesehen von den neu gezogenen Grenzen war die umstrittenste Bestimmung des Versailler Vertrags die Entscheidung, Deutschland Reparationszahlungen aufzuerlegen. Artikel 231 des Vertrags, die berüchtigte "Kriegsschuldklausel", konstatierte: "Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben."

Die Frage der Reparationen wurde oft als Versuch Frankreichs dargestellt, Deutschland maximalen ökonomischen Schaden zuzufügen. Doch Frankreich handelte nicht anders als die übrigen kapitalistischen Großmächte - eingeschlossen die Vereinigten Staaten - die allesamt danach strebten, sich die beste Ausgangslage in der Nachkriegswelt zu sichern. Wenn sie auf bestimmte Fragen unterschiedliche Antworten hatten, so weil sie unterschiedliche Interessen verfolgten.

Der Standpunkt des französischen Präsidenten Clemenceau war, wie Keynes aufzeigte, völlig nachvollziehbar für jemanden, der "der Ansicht war, dass der Bürgerkrieg in Europa auch in Zukunft als normaler oder zumindest sich wiederholender Zustand betrachtet werden müsse, und dass die Art von Konflikten zwischen organisierten Großmächten, die das letzte Jahrhundert ausgefüllt hatten, auch das nächste beschäftigen würden". Jedwede Zugeständnisse an Deutschland auf der Grundlage gerechter und gleicher Behandlung hätten nur zum Ergebnis, dass sie "den Zeitraum bis zur Erholung Deutschlands verkürzen und den Tag näher heranrücken, an dem es abermals seine größere Bevölkerungszahl und seine überlegenen Ressourcen und technischen Fähigkeiten gegen Frankreich ins Feld führt." Die französische Politik zielte daher darauf ab, das deutsche Territorium zu beschneiden, seine Bevölkerung zu verkleinern und vor allem seine Wirtschaftskraft zu reduzieren, um so der ungleichen Stärke der beiden Hauptrivalen um die europäische Hegemonie entgegenzuwirken.

Wenn Großbritannien eher bereit war, eine versöhnliche Haltung einzunehmen - dies ungeachtet des Wahlkampfes vom Dezember 1918, in dem Lloyd George gefordert hatte, Deutschland auszuquetschen, "bis es nur noch Piep macht" - dann weil seinen Zielen schon mit der Zerstörung der deutschen Flotte und der Übergabe der Kolonien gedient war. Als die Stellung des Empires gerettet war, war Großbritannien peinlich darauf bedacht, die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft zu sichern, die einen wertvollen Exportmarkt für britische Produkte darstellte.

Die Position der Vereinigten Staaten war geleitet von ihrer Entschlossenheit, aus ihrer neu errungenen wirtschaftlichen Vormachtstellung Kapital zu schlagen. Folglich verweigerten sie sich allen Vorschlägen, Schulden der Alliierten untereinander - und besonders an die USA - zu streichen oder zu reduzieren, um so die Reparationszahlungen Deutschlands zu mindern.

Nach dem Kriegseintritt der USA stellte ein offizielles Bulletin der US Staatsbank vom April 1917 fest, dass die Regierung der Vereinigten Staaten, indem sie den europäischen Alliierten einen Teil des amerikanischen Wohlstandes zur Verfügung gestellt, nicht nur diesen geholfen, sondern, indem sie den Krieg zu einem schnellen Ende brachte, auch "die Mühen, Gefahren und Leiden unserer Soldaten vermindert" habe. Da Amerika im ersten Jahr nach seiner Kriegserklärung nicht in der Lage war, Soldaten in den Kampf zu schicken, betrachteten die europäischen Mächte die Anleihen gewissermaßen als Bezahlung für die Männer, die sie auf die Schlachtfelder schickten. Sie sahen sich - zumindest ab April 1917 - als Auftragskämpfer der USA und gingen davon aus, dass sie zu diesem Zweck gezahlte Anleihen nicht würden zurückzahlen müssen. Das war jedoch nicht die Ansicht des US-Finanzministeriums. Dieses machte sich im Dezember 1918 die Sichtweise zueigen, die sie die gesamten 20er Jahre hindurch behalten sollte, dass nämlich keinerlei Verbindung zwischen den Schulden der Alliierten untereinander und den deutsche Reparationen bestehe. Die Alliierten würden ihre Schulden an Amerika zurückzahlen müssen, unabhängig davon, was Deutschland bezahlen konnte.

Als der führende Industrielle Walther Rathenau vorschlug, Deutschland solle anstelle von Reparationszahlungen die Kriegsschulden der Alliierten an die USA übernehmen, die sich auf 44 Milliarden Goldmark beliefen, verweigerten die Amerikaner ihre Zustimmung. Sie bestanden darauf, dass es keine Verbindung zwischen Reparationen und Schulden gebe. Die USA scheuten diesen Transfer, da sie fürchteten, Deutschlands Zahlungsfähigkeit sei geringer als die Frankreichs, Großbritanniens und der anderen Alliierten. Es wäre ein schlechtes Geschäft gewesen, Forderungen an die siegreichen Alliierten gegen eine Hypothek an das insolvente und besiegte Deutschland auszutauschen.

Es gab ein komplexes Gewirr von Schulden. Deutschland hatte elf Gläubiger. Die USA erhielten Zahlungen von 16 Schuldnern. Großbritannien trieb die Schulden von 17 Staaten ein, Frankreich die von zehn. Kleine Länder wie Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei hatten jeder um die neun oder zehn Gläubiger.

Nicht weniger als 28 Länder waren untereinander in Kriegsschulden verstrickt. Fünf von ihnen waren nur Schuldner, zehn nur Gläubiger und 13 beides. Zehn waren Nettoschuldner und 18 Nettogläubiger. Von den 28 Milliarden Dollar Kriegsschulden der Alliierten untereinander wurden den USA 12 Milliarden geschuldet, davon 4,7 Milliarden von Seiten Großbritanniens. Seine europäischen Alliierten wiederum schuldeten Großbritannien um die elf Milliarden Dollar. Etwa 3,6 Milliarden schuldete Russland, doch diese waren nach der Revolution nicht mehr einzutreiben.

Vor Beginn der Friedensgespräche richtete die französische Regierung am 15. Januar 1919 eine offizielle Anfrage an den US-Finanzminister Carter Glass, in der sie darum bat, die Schuldenfrage zum Teil der Friedensverhandlungen zu machen und simultan mit diesen zu lösen.

Glass antwortete, die USA unterstützten es nicht, dass die Schuldenfragen in Paris in Zusammenhang mit den Friedensverhandlungen diskutiert würden. Das Ergebnis dieser Entscheidung war, dass die Alliierten und besonders Frankreich auf maximale Reparationen von Deutschland drängten. Am Ende wurde der Betrag der Reparationszahlungen nicht in den Vertrag mit aufgenommen, sondern einer Reparationskommission überlassen, die im Mai 1921 ihren Bericht abliefern sollte.

Im Februar 1920 schlug die Regierung Großbritanniens einen allseitigen Erlass der Kriegsschulden vor und wies darauf hin, dass "das Bestehen einer gewaltigen Menge an Schulden zwischen den Staaten nicht nur sehr ernste politische Gefahren beinhaltet, sondern auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein sehr schweres Hindernis für die Erholung der Welt und besonders Kontinentaleuropas von den immensen Belastungen und Leiden des Krieges darstellt." [22]

Die offizielle Antwort des US-Finanzministers David F. Houston machte deutlich, dass die Vereinigten Staaten entschlossen waren, ihre Ziele mit Nachdruck zu vertreten. Houston bestritt die Annahme, ein Schuldenerlass würde die wirtschaftliche Erholung Europas und der Welt erleichtern, und betonte stattdessen, ein solcher Schuldenerlass habe "keinen Einfluss auf die Probleme, aus denen die gegenwärtigen finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten Europas vorrangig erwachsen". [23]

Er hielt dann einen Vortrag über die Vorzüge des freien Marktes und gesunder Staatsfinanzen: "Die Erholung von der gegenwärtigen Krankheit liegt, sofern sie überhaupt möglich ist, in den Händen der verschuldeten Staaten und Völker selbst. Die meisten der Schuldnerstaaten haben keine zur Ausbalancierung ihrer Haushalte ausreichenden Steuern erhoben, noch haben sie irgendwelche energischen und angemessenen Maßnahmen ergriffen, um ihre Ausgaben auf ein ihren Einnahmen entsprechendes Niveau zu senken. Die Entwaffnung ist zu wenig vorangeschritten. Kein ernstzunehmender Fortschritt wurde bei der Entwertung überschüssiger Währungsbestände oder der Stabilisierung der Währungen auf neuem Niveau gemacht, doch ist es in Kontinentaleuropa zu einem beständigen Wachstum der Notenausgaben gekommen. Die private Initiative ist nicht wieder aufgenommen worden. Unnötige und unkluge Wirtschaftsgrenzen bestehen fort. Anstatt Handel und Geschäftsleben durch die angemessenen Schritte von Beschränkungen zu befreien, scheint es vereinte Bemühungen zu geben, von den Hilfsbedürftigsten diskriminierende Vorteile und exklusive Konzessionen eingeräumt zu bekommen. Noch ist keine Bereitschaft von Seiten Europas erkennbar, zu einer schnellen, vernünftigen und endgültigen Übereinkunft über die Reparationszahlungen Deutschlands zu gelangen, oder zu einer Politik überzugehen, die es Deutschland und Österreich ermöglichen würde, ihren notwendigen Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung Europas zu leisten." [24]

Darüber hinaus, so Houston, beinhalte der Vorschlag des Schuldenerlasses "keine gegenseitigen Opfer von Seiten der betroffenen Nationen - es handelt sich lediglich um einen Beitrag, der hauptsächlich von den Vereinigten Staaten geleistet werden soll". Während die USA keinen nennenswerten Nutzen aus dem Krieg gezogen oder zu ziehen versucht hätten, hätten "die Alliierten ungeachtet ihrer großen Leiden durch die Verluste von Menschenleben und Eigentum dennoch durch die Bestimmungen des Friedensvertrages und auf andere Weise beträchtliche Zugewinne an Territorien, Bevölkerung, ökonomischen und anderen Vorteilen erreicht. Man sollte daher meinen, dass es bei einer vollständigen Aufstellung dieser Zuwächse und der Gesamtsituation kein Verlangen und keinen Grund geben sollte, die Regierung dieses Landes um weitere Beiträge zu ersuchen." [25]

Die Reparationskommission lieferte ihren Bericht am 5. Mai 1921 ab. Dieser legte die deutschen Reparationszahlungen auf 130 Milliarden Goldmark fest, um die 33 Milliarden Dollar. Was die Alliierten anbelangte, so machten diese sich nun daran, Zahlungen von Deutschland einzutreiben, mit denen sie dann ihre Kredite bei den Vereinigten Staaten begleichen würden.

"Welch ein kurioses Spektakel", sollte Churchill in einer Rede etwa vier Monate darauf anmerken: "Die großen Nationen der zivilisierten Welt versuchen allesamt, enorme Summen entweder voneinander oder von Deutschland zu bekommen. Tatsächlich könnte man sagen, das Schuldeneintreiben sei zu unserer wichtigsten Industrie geworden." [26]

Ein Motiv für die Einführung dieses Systems war die Krise der Finanzsysteme nach dem Krieg. Einer Berechnung zufolge lagen die Gesamtkosten des Krieges bei 260 Milliarden Dollar, "etwa sechseinhalb Mal die Summe aller nationalen Staatsschulden der Welt vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges". [26]

Nimmt man alle kriegführenden Mächte zusammen, so wurden etwa 80 Prozent dessen, was während der Kriegszeit mehr ausgegeben worden war als in den letzten drei Friedensjahren, durch Schulden finanziert. Ein bedeutender Teil hiervon war durch Bankkredite finanziert. Die Kriegführenden machten sich diese finanziellen Methoden zu eigen, da sie glaubten, der Unterlegene werde am Ende zahlen.

Churchills halb im Scherz gemachte Anmerkung, das Schuldeneintreiben sei "zu unserer wichtigsten Industrie" geworden, weist auf das zugrunde liegende Problem hin, mit dem der Nachkriegskapitalismus in Europa konfrontiert war: Der Unfähigkeit, eine neue Grundlage für eine ökonomische Expansion zu schaffen.

In seiner Kritik am Versailler Vertrages verwies Keynes auf die Wichtigkeit der deutschen Volkswirtschaft für ganz Kontinentaleuropa. Doch für Frankreich stellte das deutsche Wirtschaftswachstum eine Bedrohung dar und keinen Nutzen. Die wirtschaftliche Expansion auf dem Kontinent war zu einem Kampf aller gegen alle geworden - einem Kampf, zu dessen wichtigem Bestandteil das Eintreiben von Schulden geworden war. Die internationale Arena schien keinen Ausweg zu bieten.

Europa und Amerika während der Nachkriegskrise

Es dauerte nicht lange, bis die Undurchführbarkeit der Reparationspläne offenbar wurde. Im Laufe des Jahres 1922 stieg in Deutschland die Inflation rasant an, die bereits während des Krieges und unmittelbar danach angezogen hatte. Als Deutschland mit den Reparationszahlungen in Verzug geriet, besetzten im Januar 1923 französische Truppen das Ruhrgebiet. Diese Vergeltungsmaßnahme setzte eine politische Krise in Gang, die bis zum Oktober desselben Jahres andauern sollte.

In dieser Zeit brach die deutsche Währung vollends ein. Eine Hyperinflation begann, die ganze Schichten der Mittelklasse in den Ruin trieb, während Teile der Wirtschaft davon profitieren konnten, indem sie ihre Schulden liquidierten. Während der Sommermonate, als im August ein Generalstreik in Berlin die Cuno-Regierung zu Fall brachte, nahm die Krise revolutionäre Ausmaße an.

Die deutsche Sozialdemokratie und die mit ihr verbündeten Gewerkschaften, die sich in der Zeit nach dem Krieg als wichtigste Stütze der kapitalistischen Herrschaft erwiesen hatten, verloren rasch ihren Einfluss auf die Arbeiterklasse an die Kommunistische Partei. Doch die KPD vertrat während dieser Periode zu keinem Zeitpunkt eine ausgearbeitete revolutionäre Strategie oder eine Taktik zu deren Durchführung.

Es würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen, die Rolle der KPD zu analysieren. Es sei lediglich gesagt, dass sie das Ergebnis einer tiefen Führungskrise war, unter der die Partei seit der Ermordung Rosa Luxemburgs im Januar litt. Die Probleme der Partei verschärften sich zusätzlich aufgrund des politischen Niedergangs der Führung der Kommunistischen Internationale, der mit den Angriffen der aufstrebenden Bürokratie unter Führung Stalins gegen Leo Trotzki einsetzte.

Die politische Krise in Deutschland erreichte ihren Höhepunkt im Oktober. Die KPD-Führung blies einen geplanten Aufstand ab, nachdem in Chemnitz eine Versammlung von Gewerkschaftsvertretern und Fabrikkomitees einen vorgeschlagenen Generalstreik abgelehnt hatte. Die politische Lähmung der Partei wurde später von ihrem damaligen Führer Heinrich Brandler beschrieben, der erklärte, er habe zwar "im Jahre 1923 den Vorbereitungen auf den Aufstand nicht entgegengearbeitet", gleichzeitig aber "die Situation noch nicht als tatsächlich revolutionär betrachtet". [28]

Die Erfahrungen der Krise von Januar bis Oktober 1923 führten sowohl in Frankreich als auch in Deutschlands zu einer Neuausrichtung der Politik der herrschenden Klasse. Auslöser für die Besetzung des Ruhrgebiets waren die wiederholten Zahlungsversäumnisse Deutschlands im Jahr 1922 gewesen. Doch die Besetzung hatte kein Problem gelöst. Anstatt zusätzliche Zahlungen zu erhalten, kassierten die Franzosen in den ersten vier Monaten des Jahres 1923 nur 625.000 Dollar mehr als ihre Unkosten betrugen, verglichen mit 50 Millionen im gleichen Zeitraum des Vorjahres. [29]

Der deutschen Bourgeoisie hatte die Politik des passiven Widerstandes gegen die französische Besatzung und die Währungsinflation eine tiefe politische Krise beschert. Die Stabilität der bürgerlichen Ordnung war bedroht: Von rechts durch die Faschisten und - weitaus ernster - von links durch die KPD.

Beide Seiten vollzogen eine taktische Wendung: Die französische Regierung stimmte internationalen Vermittlungen hinsichtlich der Reparationszahlungen zu, um diese stärker an Deutschlands Zahlungsfähigkeit zu koppeln, und die herrschende Elite in Deutschland ging dazu über, die Währung zu stabilisieren und die Verpflichtung zur Zahlung der Reparationen zu akzeptieren.

Der Ausbruch der Krise von 1923 zeigte, dass die Fähigkeit der herrschenden Klassen Europas zur politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung des Kontinents nach dem Krieg erschöpft war. Die Gegensätze, die zum Krieg geführt hatten, bestanden fort. Gleichzeitig führten die wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen zu Zusammenstößen mit der Arbeiterklasse, die ständig die Stabilität der bürgerlichen Ordnung bedrohten.

Seit die Waffen schwiegen, war es zu einer Reihe von Aufständen gekommen - nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, England und Frankreich. Der revolutionäre Aufschwung nach dem Krieg konnte eingedämmt werden, vor allem aufgrund der Rolle der sozialdemokratischen Parteien, die im Namen des Kampfes gegen die Ausbreitung des "Bolschewismus" zur wichtigsten Stütze der Bourgeoisie geworden waren. Doch die Ereignisse in Deutschland 1923 hatten gezeigt, dass die anhaltende politische und wirtschaftliche Instabilität diese Aufgabe zunehmend erschwerte. An diesem Punkt betrat mit den Vereinigten Staaten von Amerika eine neue Macht die Bühne Nachkriegseuropas.

Amerika war in den Krieg eingetreten, um seine eigenen Wirtschaftsinteressen zu schützen, die Ausbreitung der sozialen Revolution zu verhindern und eine Neuorganisierung der Welt entsprechend seinen zunehmend globalen Interessen vorzunehmen. Diese Motivationen standen auch im Zentrum seines Eingreifens in die Reparationskrise.

Es wurde eine Kommission unter dem Vorsitz von Charles Dawes, dem Leiter der US-Haushaltsbehörde geschaffen, die Methoden finden sollte, den deutschen Staatshaushalt auszutarieren, die Mark zu stabilisieren und ein funktionierendes System jährlicher Reparationszahlungen einzuführen. Der Plan sah jährliche Zahlungen vor, die im ersten Jahr mit einer Milliarde Goldmark beginnen und nach fünf Jahren auf 2,5 Milliarden ansteigen sollten - bei möglichen Änderungen in Hinblick auf Veränderungen der weltwirtschaftlichen Lage und des Goldpreises. In Berlin sollte eine Reparationsbehörde eingerichtet werden, um den Prozess zu überwachen. Zur Stabilisierung der Haushaltslage und um den Prozess ins Laufen zu bringen, sollte der deutschen Regierung eine Anleihe in Höhe von 800 Millionen Mark zur Verfügung gestellt werden, wobei die Kontrolle über die Deutsche Reichsbahn als Sicherheit dienen sollte.

Mit dem Dawes-Plan und der erneuten Stabilisierung der deutschen Wirtschaft ging die Einführung einer neuen Währung einher, der Reichsmark, die im August 1924 zu einem Umtauschkurs von einer Billion zu eins die alte Mark ablöste. Nach dem Abkommen wurde die Reichsbank unabhängig vom deutschen Staat. Sie hielt eine Reserve aus Gold und ausländischen Währungen und verfolgte eine Politik hoher Zinsraten als Grundlage ihres deflationären Programms.

Der Dawes-Plan war für die wirtschaftliche Stabilität der Vereinigten Staaten ebenso wichtig wie für die Volkswirtschaften Deutschlands und des übrigen Europas. Das Reparationssystem in seiner ursprünglichen Konzeption war undurchführbar.

Das System von Schulden und Reparationen hing davon ab, dass Deutschland und die anderen europäischen Mächte durch Exporteinnahmen in der Lage waren, ausländische Währungen zu erwerben. Die Vereinigten Staaten waren allerdings weder geneigt, die Märkte zurückzugeben, die sie ihren Rivalen im Krieg abgenommen hatten, noch ihren eigenen Markt für europäische Produkte zu öffnen. 1921 führte die Erwartung, Deutschland und andere europäische Exportnationen würden durch die Abwertung ihrer Währungen versuchen, tiefer in den US-Markt einzudringen, sogar zu einer Anhebung der Importzölle der USA.

Doch die US-Wirtschaft war selbst in Abhängigkeit von den europäischen Märkten geraten - Europa durfte also nicht in ein wirtschaftliches Chaos abgleiten. Wie konnte man also Deutschland und die europäischen Schuldner mit Dollars ausstatten, um Reparationen und Schulden zurückzubezahlen, ohne gleichzeitig die wirtschaftliche Position der USA zu beeinträchtigen? Der Dawes-Plan schien die Antwort auf diese Frage zu geben.

Es wurde ein Dreieckssystem von Zahlungen etabliert: Von den Vereinigten Staaten an Deutschland, von Deutschland an die Alliierten und von den Alliierten zurück an die Vereinigten Staaten - wobei die Wall Street der Hauptprofiteur war. 1926 bemerkte der britische Labour-Parlamentarier Philip Snowden, dass die USA jährlich 600 Millionen Dollar aus europäischen Schuldentilgungen erhielten. Die deutschen Reparationszahlungen wurden damals auf 250 Millionen Dollar pro Jahr geschätzt.

"Dies läuft darauf hinaus, dass Amerika die gesamten deutschen Reparationszahlungen an sich nimmt und wahrscheinlich dieselbe Summe noch einmal dazu. Kein schlechtes Arrangement für ein Land, das mit den Worten ‚Keine Entschädigungen, keine materiellen Ziele’ auf seinem Banner in den Krieg gezogen ist." [30]

Das System von Anleihen und Abzahlungen legte nicht nur den räuberischen Charakter des US-amerikanischen Finanzkapitals offen - das Uncle Sam immer mehr als Uncle Shylock erscheinen ließ. Grundsätzlich betrachtet war es ein Ausdruck der historischen Krise der kapitalistischen Produktionsweise.

Der Rückgriff auf Finanzgeschäfte - Schuldendienst, Aktienspekulation, finanzielle Transaktionen - ist stets ein Ausdruck von grundsätzlichen Problemen der kapitalistischen Wirtschaft, d.h. den Mechanismen zur Akkumulation von Mehrwert. Wenn das Kapital nicht in der Lage ist, Mehrwert zu einer Rate zu extrahieren, durch welche die durchschnittliche Profitrate steigt oder zumindest konstant bleibt, dann versucht es, diesem Problem durch rein finanzielle Methoden entgegenzuwirken, ohne dabei die beschwerlichen und komplexen Anstrengungen unternehmen zu müssen, die mit der industrieller Produktion einher gehen. So war es auch in diesem Fall.

Der Dawes-Plan, der die deutsche und allgemein die europäische Wirtschaft stabilisieren sollte, öffnete die Pforten für einen Strom von US-Kapital nach Europa. Gleichzeitig wurde eine weitere Voraussetzung für diesen Prozess geschaffen: Die Rückkehr zum Goldstandard und die Einführung einer Deflationspolitik, um die Währungsstabilität zu sichern. Im Falle Deutschlands war die Deflation notwendig, um Gelder aus den USA anzuziehen. In Großbritannien drängte die Londoner Finanzwelt auf eine Rückkehr zum Goldstandard. Dort hatte man verstanden, dass dieser unabdingbar war, wollte London als internationales Finanzzentrum seine Position gegenüber dem immer stärkeren Konkurrenten New York verteidigen.

Ein Memorandum der Bank von England an den Schatzkanzler erklärte Anfang 1920: "Die erste und dringendste Aufgabe, vor der unser Land steht, ist die Rückkehr zum Goldstandard, indem wir die Wertminderung der Währung hinter uns lassen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden durch die Umkehr des Prozesses, der die Wertminderung verursacht hat: Die künstliche Schaffung von Zahlungsmitteln und Krediten. Und das angemessene Mittel hierzu ist der Zinssatz. Die Deflation der Preise, die erwartungsgemäß der Kreditkontrolle folgen wird, mag für einige Klassen des Gemeinwesens schmerzhaft sein, doch sie ist unvermeidlich." [31]

Die Dawes-Plan-Anleihe, von der 110 Millionen Dollar aus New York stammten, brachte eine wahre amerikanische Finanzlawine ins Rollen. New Yorker Banken und Kreditanstalten warten nicht mehr darauf, dass Kreditanwärter zu ihnen kamen. Sie zogen selbst mit Plänen und Vorhaben für Kreditvergaben los, wie sie die Welt bis zum "Recycling" arabischer Öldollars in den 1970er Jahren nicht wieder erleben sollte.

Die stabile Währung und die hohen Zinsraten in Deutschland ermutigten zum Erwerb deutscher Anleihen. Zwischen 1924 und 1930 belief sich die Summe dieser Erwerbungen auf insgesamt 2,6 Milliarden US-Dollar, wovon amerikanische Investoren über 60 Prozent hielten. Um 1930 hatte Deutschland Schulden von 26 Milliarden Reichsmark angehäuft, verglichen mit einem jährlichen Volkseinkommen von ca. 75 Milliarden Reichsmark. Gleichzeitig wurden deutsche Anleihen zu einem wichtigen Bestandteil des amerikanischen Finanzsystems. Während dieser Periode bestanden 20 Prozent des amerikanischen Kapitalmarktes im Verkauf von Auslandsanleihen.

Der Dawes-Plan und die beginnende Stabilisierung Europas aufgrund der US-Intervention warfen grundlegende Fragen auf, mit denen sich Trotzki fortan beschäftigte.

Die Bolschewiki hatten sich in der Russischen Revolution von der Perspektive leiten lassen, dass der Kapitalismus seine historisch fortschrittliche Rolle erschöpft hatte - wie durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieg sichtbar wurde - und sich hieraus die objektive Notwendigkeit für eine sozialistische Umgestaltung ergab. Die Aufgabe war nicht, den Sozialismus in einem Lande aufzubauen - wie dies später die von Stalin vertretene reaktionäre Utopie besagte - sondern die sozialistische Umgestaltung der ganzen Welt. Die Russische Revolution war folglich nur der erste Schritt in diese Richtung.

Doch als die erste revolutionäre Welle abebbte und die Bourgeoisie sich - nicht ohne beträchtliche Schwierigkeiten - an der Macht halten und sogar eine gewisse politische und wirtschaftliche Stabilisierung herbeiführen konnte, stellte sich die Frage: War die Eroberung der politischen Macht in Russland verfrüht gewesen? Hatte sich der Kapitalismus wirklich erschöpft?

Dazu erklärte Trotzki im Jahre 1926 in einer Rede: "Wenn es sich erweisen sollte, dass der Kapitalismus noch fähig ist, eine fortschrittliche historische Mission durchzuführen, dass er fähig ist, die Völker reicher und ihre Arbeit produktiver zu machen, dann würde es bedeuten, dass wir, die Kommunistische Partei der Sowjetunion - uns zu früh auf den Leichenschmaus vorbereitet haben, oder, mit anderen Worten, zu früh die Macht in unsere Hände genommen haben, um den Sozialismus aufzubauen. Denn Marx hat uns gelehrt, dass keine soziale Gesellschaftsordnung verschwindet, ehe alle in ihr liegenden Möglichkeiten erschöpft sind. Angesichts der neuen Wirtschaftslage, die sich vor uns entfaltet, jetzt, da Amerika sich über die ganze kapitalistische Menschheit erhebt, indem es das Verhältnis der Wirtschaftskräfte radikal geändert hat, müssen wir uns wieder die Frage vorlegen: Hat sich der Kapitalismus überlebt oder steht ihm noch eine Entwicklungsperiode bevor?"

Was Europa anbelangte, so Trotzki, sei die Frage entschieden zu verneinen. Der Krieg war ein Ergebnis der Revolte der Produktivkräfte gegen ihre nationalstaatlichen Beschränkungen. Das Ergebnis des Krieges war eine "unvergleichlich schlechtere Situation als vor dem Kriege" -höhere Zollschranken, neu hinzugekommene Grenzen und vergrößerte Armeen trieben gemeinsam mit enger gewordenen Märkten die Staatsschulden in neue Höhen. Amerika dagegen durchlief eine dynamische Entwicklung, und in Asien und Afrika hatte der Kapitalismus gerade erst die ersten Schritte getan.

"Die folgende Schlussfolgerung drängt sich auf: In Europa hat sich der Kapitalismus überlebt, in Amerika bringt er die Produktivkräfte noch vorwärts, und in Asien und Afrika steht noch die ganze Arbeit bevor, eine Arbeit für Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte. Stimmt das wirklich? Wenn es so stünde, dann würde es bedeuten, dass der Kapitalismus seine Mission in den Ausmaßen der Weltwirtschaft noch nicht vollendet hat.

Und wir leben doch alle unter den Verhältnissen der Weltwirtschaft. Und dieser Umstand ist es gerade, der über das Schicksal des Kapitalismus entscheidet: Er kann sich in Asien nicht isoliert entwickeln, unabhängig von dem, was in Europa oder Amerika vorgeht. Die Zeit der lokal begrenzten Wirtschaftsprozesse ist ein für allemal vorüber. Gewiss, der amerikanische Kapitalismus ist unvergleichlich kräftiger und stabiler als der europäische, er kann dem Morgen mit unvergleichlich größerer Zuversicht entgegenblicken. Aber der amerikanische Kapitalismus genügt sich selbst schon seit langem nicht mehr. Im inneren Gleichgewicht kann er sich nicht mehr halten. Er bedarf eines Gleichgewichts in der Welt. Europa gerät in eine steigende Abhängigkeit von Amerika, aber das bedeutet, dass auch Amerika seinerseits in eine immer größer werdende Abhängigkeit von Europa gerät." [32]

Die Dynamik einer Systemkrise

Die Weltwirtschaft der Nachkriegszeit steckte in einer tiefen Strukturkrise. Der Kapitalismus in der Vereinigten Staaten durchlief eine rapide Entwicklung, geriet jedoch gleichzeitig zunehmend in Abhängigkeit vom europäischen Kapitalismus. Dieser fiel aber nicht nur relativ, sondern auf einigen Gebieten auch absolut zurück. Dieser Widerspruch sollte sich ungeachtet der Nachkriegserholung in den 1920er Jahren vertiefen und gegen Ende des Jahrzehnts noch explosivere Formen annehmen.

Ab 1924 kam es zu einem gewaltigen Zufluss ausländischen Kapitals nach Deutschland - insgesamt 7 Milliarden Dollar in sechs Jahren. Doch ein großer Teil davon wurde zur Finanzierung von Firmenzusammenschlüssen verwendet und nicht zur Modernisierung der deutschen Wirtschaft.

Eine Zeitlang schien das durch den Dawes-Plan in Bewegung gesetzte Rückflusssystem zu funktionieren: Überschüssiges Investitionskapital floss von den Vereinigten Staaten nach Deutschland und dann in Form von Schuldenzahlungen, die durch deutsche Reparationsleistungen finanziert wurden, zurück in die USA. Deutschland importierte zwischen 1924 und 1930 um die 28 Milliarden Reichsmark, aus denen es Reparationszahlungen in Höhe von 10,3 Milliarden Reichsmark leistete. So lange der ständige Zufluss von Kapital bestehen blieb, lief das System wie geschmiert.

Doch um 1928/29 begannen die amerikanischen Investitionen zurückzugehen, was die Aufkündigung kurzfristiger Kredite zur Folge hatte. Auch wenn hierin die unmittelbare Ursache der Finanzkrise lag, die Deutschland ab 1929 erfasste, war das gesamte Finanzsystem von Natur aus instabil. Eine 1932 publizierte Analyse formulierte es folgendermaßen: "Auch wenn Ende 1929 nicht die weltweite Depression begonnen hätte und die internationalen Anleihen nicht plötzlich bis fast auf den Nullpunkt gesunken wären, wäre es doch undenkbar gewesen, dass neue Anleihen dauerhaft die Höhe der steigenden Reparations- und Schuldenzahlungen hätten überschreiten können, zusätzlich zu den Zinsen auf die schon zuvor bestehende gewaltige Masse privater Schulden." [33]

Diese ihrem Wesen nach instabile Finanzlage wurzelte in den grundlegenden Problemen der deutschen und europäischen Volkswirtschaften insgesamt. Wie alle Historiker feststellen, die sich mit dieser Periode beschäftigen, wurde der Löwenanteil des Kapitalzuflusses nach Deutschland nicht zur Modernisierung und Erweiterung der deutschen Wirtschaft verwandt, sondern zur Finanzierung von Staatsaktivitäten und -vorhaben. Das bedeutet, dass diese Anleihen nicht in produktives Kapital investiert wurden.

Die deutsche Industrie, die in der Aufschwungsperiode der Zeit vor dem Krieg weltweit zu den führenden gehört hatte, ging nun im Kampf um Weltmärkte vollkommen unter. Während der ersten Hälfte der 20er Jahre nahmen die deutschen Exporte merklich ab. Die wirtschaftliche Erholung im Allgemeinen ging nur langsam vonstatten. Erst 1925 erreichte Europa wieder das Produktionsniveau von 1913. Hätte die europäische Wirtschaft ihr Vorkriegswachstum beibehalten, so hätte sie Berechnungen zufolge das Produktivitätsniveau von 1929 schon 1921 erreicht. So groß war das Ausmaß des allgemeinen Abschwungs der europäischen Wirtschaft.

In Deutschland betrug das Nettosozialprodukt im Jahr 1928 erst 103 Prozent des Standes von 1913. Der Warenexport lag dagegen erst bei 86 Prozent des Wertes von 1913. In den Jahren 1910 bis 1913 hatte das Verhältnis von Exporten zum Nationaleinkommen bei 17,5 gelegen, in den Jahren nach 1924 fiel es auf 14,9 Prozent. [34]

Während Deutschland und die anderen europäischen Mächte im Niedergang begriffen waren, erlebten die Vereinigten Staaten einen Aufschwung. 1923 waren sie zur weltweit größten Exportnation und zum zweitgrößten Importeur aufgestiegen. Zwischen 1926 und 1929 lag ihr Anteil an der weltweiten Industrieproduktion bei 42,2 Prozent, verglichen mit 35,8 Prozent im Jahr 1913. Die Bedeutung des Stroms von Investitionen aus den USA für die wirtschaftliche Stabilität Europas und der Welt kann aus den folgenden Zahlen abgelesen werden: Zwischen 1919 und 1929 stiegen die langfristig von den Vereinigten Staaten gehalten Auslandsinvestitionen um 9 Milliarden Dollar, 1929 betrugen amerikanische Investitionen zwei Drittel aller Neuinvestitionen weltweit. Amerikanische Auslandsbeteiligungen stiegen auf 15,5 Milliarden Dollar, von denen 7,8 Milliarden auf Aktienkapital und 7,6 Milliarden auf direkt investiertes Kapital entfielen.

Das Geheimnis hinter der Expansion der Vereinigten Staaten war unschwer zu erkennen: Es lag in den neuartigen Produktionsmethoden der amerikanischen Industrie, die mit der Entwicklung der Fließbandproduktion die Produktivität der Arbeit und die Extraktion von Mehrwert gewaltig gesteigert hatten.

Die finanzielle Stabilisierung infolge des Dawes-Plans und die hierdurch geschaffene deflationäre Gesamtlage leitete eine intensive Diskussion in den politischen, akademischen und industriellen Kreisen Deutschlands über die Notwendigkeit zur Rationalisierung und Modernisierung der deutschen Industrie ein. Profite konnten nicht mehr wie zuvor einfach durch Inflationsprozesse eingefahren werden. Der Weg zur Profitsteigerung lag nun in höherer Produktivität, in Rationalisierung und Kostenersparnis.

In ihrer wertvollen Studie über diesen Prozess fasst die Historikerin Mary Nolan den Einfluss der US-Industrie wie folgt zusammen: "Es war das Kerngebiet der amerikanischen Industrie, das die Deutschen faszinierte - oder vielmehr das Kerngebiet der zweiten industriellen Revolution in der Eisen-, Stahl- und Maschinenproduktion. Dies war die ‚Technologie der Stahlträger und Triebwerke’, eine Welt der unaufhörlichen Produktion und Einzelteilherstellung, der atemberaubenden Produktivität und des minutiös aufgeteilten Arbeitsprozesses. Ihre offensichtlichsten Symbole waren die Fordfabriken von Highland Park und River Rouge, sowie das Modell T. Doch schloss sie auch die gewaltigen Eisen- und Stahlwerke ein, die sich von Pennsylvania durch Ohio und Indiana bis nach Chicago erstreckten. Dies war der erfolgreiche amerikanische Gegenpart zu der großen, arbeitsintensiven und krisengeschüttelten Schwerindustrie Deutschlands, die im Zentrum der Weimarer Rationalisierungsbewegung stand [...]

Die schiere Größe der Fabriken von Highland Park und River Rouge flößte den deutschen Besuchern Angst ein. Highland Park wurde 1910/11 eröffnet, ging 1912/13 zur Fließbandproduktion über, umfasste 1924 mehr als 50 Morgen Land und beschäftigte mehr als 68.000 Arbeiter. Und das war nur Fords alte Fabrik! In River Rouge, dessen Bau 1916 begonnen und ein Jahrzehnt später fertig gestellt wurde, verteilten sich 160 Morgen Nutzfläche auf 93 Gebäude. Die Fließbänder umfassten 27 Meilen und die Fabrik hatte mehr als 75.000 Beschäftigte. [...] Aber noch beeindruckender als der Größenmaßstab der Produktion wirkte ihr innovativer Charakter auf die Besucher aus Deutschland. In den Fordwerken war alles dem Prinzip der effizienten und preiswerten Herstellung eines standardisierten Produkts unterworfen und nicht einer Vielzahl unterschiedlicher Güter. Einzelteile wurden in einem Maße vereinfacht und standardisiert, das den Neid der Deutschen erweckte. Sie sahen die Normierung als unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Rationalisierung im eigenen Land. Anstatt universeller Maschinen, die eine Vielzahl von Aufgaben erledigen konnten, waren die Fordwerke voller spezialisierter Maschinen, die auf die Produktion eines ganz bestimmten standardisierten Teils zugeschnitten waren und von einem Arbeiter bedient wurden, der nur diese eine Aufgabe erfüllte." [35]

Nicht weniger enthusiastisch zeigten sich die Führer von Gewerkschaften und Sozialdemokratie angesichts der Einführung amerikanischer Verhältnisse. Sie begrüßten Fords Methoden als Möglichkeit, den Kapitalismus zu reformieren und die soziale Frage zu lösen. Im September 1925 sandte der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) eine vierzehnköpfige Delegation in die Vereinigten Staaten. Vier ihrer Teilnehmer verfassten hierauf einen Bericht, in dem das neuartige System gepriesen wurde, da es Möglichkeiten eröffne, den Kapitalismus im Interesse der Arbeiterklasse umzugestalten. Der Bericht behauptete, "das Anwachsen der Kaufkraft der Massen" sei "die zentrale Frage der europäischen Wirtschaft" und werde dies auch bleiben. "Es ist völlig klar, dass der Kampf der Gewerkschaften um die Erhöhung der Löhne nicht nur eine soziale Notwendigkeit ist, sondern eine Aufgabe, von deren Erfüllung die weitere Entwicklung der ganzen Wirtschaft abhängt." [36]

Diese Annahme gründete sich auf ein völliges Unverständnis der neuen Produktionsmethoden. Dies traf sich mit den Auffassungen von Henry Ford, der zuweilen behauptete, Lohnerhöhungen schüfen den Markt für Autos und andere Konsumgüter. In Wahrheit jedoch lag die Quintessenz des neuen Systems nicht darin, dass es höhere Löhne bezahlte, sondern dass es höhere Profite einbrachte und damit die Grundlage für neue Investitionen und weitere wirtschaftliche Expansion schuf.

Trotz der großen Begeisterung für die amerikanischen Methoden fasste der "Fordismus", als die sie bekannt wurden, in Deutschland keine Wurzeln. Der Grund hierfür lag in tiefen Unterschieden der Gesamtsituation, mit der der amerikanische und der deutsche Kapitalismus konfrontiert waren.

Die amerikanische Produktionsweise war das Ergebnis einer buchstäblich zweiten industriellen Revolution, deren Ursprünge in den Jahren direkt nach dem Bürgerkrieg lagen. Die Sicherung des Staatenbundes durch den Sieg der industriellen Bourgeoisie in den Nordstaaten und die Schaffung eines nationalen Marktes bildeten die Rahmenbedingungen, unter denen sich das System der Massenproduktion in den folgenden fünf Jahrzehnten entwickeln konnte. Dieser Prozess gipfelte schließlich in der Entwicklung des Fließbands in der Automobilindustrie und der Produktion von Konsumgütern für den Massenverbrauch. Profite wurden durch kapitalintensive Produktionsmethoden realisiert, in denen Einsparungen in großem Maßstab Kostensenkungen ermöglichten.

Der amerikanische Kapitalismus konnte sich über einen ganzen Kontinent ausbreiten, ihm stand durch die Entwicklung des Eisenbahnnetzes und das einheitliche Rechtssystem ein gewaltiger Binnenmarkt zur Verfügung. Der deutsche Kapitalismus konnte nicht den gleichen Weg einschlagen. Von allen Seiten war er gehemmt durch die Barrieren und Grenzen des europäischen Nationalstaatssystems, eines Systems, dessen Verstrickungen sich durch den Versailler Vertrag noch verschlimmert hatten. Während sich in Amerika die Konzentration des Kapitals durch die Errichtung ausgedehnter Unternehmungen vollzog, die zu niedrigen Kosten produzierten, führten in Deutschland und Europa die Beschränkungen des Marktes im Allgemeinen zur Bildung von Kartellen. Profite wurden dabei durch Produktionseinschränkungen und die Aufrechterhaltung hoher Preise eingefahren.

Die Kartellbewegung in Deutschland hatte in den 1890er Jahren infolge des rapiden industriellen Wachstums während der vorausgegangenen zwanzig Jahre begonnen und hatte in den 1920er Jahren bereits alle Industriesektoren ergriffen. In der Zwischenzeit hatte sich die Begrenztheit der Märkte noch verschärft.

Ihren ersten Anstoß hatte die deutsche Industrialisierung durch den Zollverein der 1830er Jahre erfahren. Diese Entwicklung hatte schließlich zur Vereinigung der deutschen Staaten unter Bismarck geführt. Doch nun war sogar die Zollunion mit Österreich durch den Versailler Vertrag untersagt, damit eine sich ausdehnende deutsche Wirtschaft nicht diejenigen Ost- und Südosteuropas in ihr Einzugsgebiet ziehen und so die Position Frankreichs schwächen konnte.

Diese Beschränkung des Marktes bedeutete, dass die deutsche Modernisierungsbewegung der 20er Jahre auf Fusionen und der Bildung von Kartellen basierte. Gleichzeitig wurde mehr der Einsatz von Arbeitskräften rationalisiert als die Produktion gesteigert. Anstatt Massenproduktion für einen vergrößerten Markt einzuführen, erfolgte die deutsche Modernisierung über weitere Kartellisierung, Produktionsrestriktionen und die Beibehaltung hoher Kosten.

Die deutsche Rationalisierung ging zwar auch mit der Schließung der ineffizientesten Fabriken und der Umstrukturierung anderer einher, sie erreichte aber niemals die Bedeutung einer "neuen industriellen Revolution", wie einige Beobachter behaupteten. "Die Wirklichkeit der deutschen industriellen Umgestaltung war begrenzter, widersprüchlicher und für alle Beteiligten unbefriedigender als solche hochtrabenden Aussagen es nahe legten. Zwischen der Stabilisierungskrise und der weltweiten Depression standen für die Modernisierung der kränkelnden Industrie der Weimarer Republik nur wenige Jahre und relativ begrenzte Kapitalien zur Verfügung. Die Taten entsprachen nicht den verbalen Ergüssen über Rationalisierung. Die Veränderungen innerhalb eines gegebenen Industriezweiges waren in hohem Maße ungleich, und als 1929 die Wirtschaftskrise begann, verlangsamten sich viele ehrgeizige, auf viele Jahre ausgelegte Modernisierungsprojekte oder kamen ganz zum Stillstand." [37]

Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen einer Rationalisierung auf der Grundlage der bestehenden Produktionsmethoden und der Entwicklung neuer Systeme und Produktionsprozesse. Rationalisierung auf der Grundlage eines bestehenden Systems durch gesteigerte Ausbeutung und Einsparungen bei den Arbeitskräften vergrößert die Arbeitsproduktivität und verbessert dadurch die Wettbewerbsposition des einzelnen Unternehmens, das seine Kosten senkt. Doch sie führt zu keinem Wachstum des insgesamt in der gesamten Volkswirtschaft produzierten Mehrwerts.

Die Bedeutung des amerikanischen Systems lag darin, dass es genau dieses Wachstum hervorbrachte, und dies nicht durch restriktive Praktiken und höhere Preise, sondern durch Massenproduktion zu geringeren Kosten. In Europa machten die Beschränkungen des Nationalstaatssystems solche Methoden in den 20er Jahren unmöglich. Folglich suchten die Unternehmen ihre Profite zu halten, indem sie die Produktion begrenzten, wodurch die Preise hoch blieben. Das bedeutete, dass der Rationalisierungsprozess in Europa "lediglich ein verstümmelter Spross der amerikanischen Produktionsweise in ihrer ursprünglich gedachten Form bleib." [38]

Dennoch befähigte der Zufluss amerikanischer Anleihen die europäische Wirtschaft in der zweiten Hälfte der 20er Jahre etwas zu wachsen. Nimmt man das Jahr 1920 als Grundlage mit dem Wert 100, so war die Industrieproduktion Europas bis 1929 auf 123,1 gestiegen, die Agrarproduktion auf 122,2. Doch dieses Wachstum konnte sich nicht selbst erhalten. In Deutschland fiel die Arbeitslosigkeit 1925 auf 7 Prozent, stieg 1926 auf 18 Prozent, fiel dann bis zu den letzten Monaten des Jahres 1928 auf 8 bis 9 Prozent und begann hierauf bis zum Frühling 1933 unaufhörlich zu steigen.

Der Kapitalstrom nach Deutschland in Folge des Dawes-Plans brachte keine Umstrukturierung der deutschen Wirtschaft mit sich, ließ sie aber deutlich schutzloser gegenüber amerikanischen Kapitalbewegungen werden - und das alles unter Bedingungen, unter denen diese Kapitalflüsse zunehmend instabil wurden. Mit Beginn des Börsenbooms begann sich das Investitionskapital, das von zunehmend kurzfristiger Natur war, auf inländische Anlagemöglichkeiten mit schnellem Gewinn auszurichten. 1927 gab es einen scharfen Rückgang der ausländischen Investitionen in Osteuropa, und im folgenden Jahr fiel auch der Kapitalfluss nach Deutschland. In den Jahren 1927 und 1928 hatte der Kapitalfluss nach Europa 1,7 Milliarden Dollar betragen, 1929 fiel er auf 1 Milliarde. Doch gerade zu jener Zeit wären gesteigerte Zuflüsse benötigt worden, um die Zinsen vergangener Anleihen zu begleichen.

Keiner der Widersprüche der europäischen kapitalistischen Wirtschaft oder des Nationalstaatssystems, die zum Kriegsausbruch geführt hatten, war gelöst. Vielmehr hatten sie sich verschärft. Deflationäre Tendenzen bestanden sowohl in Industrienationen als auch in Ländern des primären Sektors. Überkapazitäten in allen Industriesektoren, gestiegene Importzölle und finanzielle Probleme, die sich aus Reparationen und Schulden ergaben, gesellten sich zu einem zunehmend instabilen Bankwesen.

All diese Probleme brachen an die Oberfläche, als die Spekulationsorgie an der Wall Street den Kapitalfluss nach Europa austrocknen ließ. Als es 1929 zum Börsencrash kam, war dieser nicht so sehr die Ursache der großen Depression, als vielmehr der Katalysator, der die Katastrophe in Gang brachte.

Der Dawes-Plan brachte eine gewisse Stabilisierung des europäischen und weltweiten Kapitalismus mit sich. Doch er ließ kein neues Gleichgewicht entstehen. Um zu Trotzkis Analyse auf dem Dritten Kongress zurückzukehren: Er schuf nicht die Bedingungen für einen neuen Aufschwung in der kapitalistischen Entwicklungskurve.

Was wäre dazu vonnöten gewesen? Vor allem die Entwicklung und Verbreitung neuer Produktionsmethoden, die die Akkumulation von Mehrwert erleichtern und die Profitrate erhöhen konnten. Solche Methoden waren in den Vereinigten Staaten entwickelt worden.

Doch das genügte nicht. Der amerikanische Kapitalismus konnte nicht länger auf der Grundlage eines einzigen Kontinents voranschreiten. Seine fortgesetzte Expansion war an das Wachstum der Weltwirtschaft gebunden und besonders der europäischen. Denn wie schon Marx erklärt hatte, erfordert der an einer Stelle geschaffene Mehrwert die Schaffung von Mehrwert an einer anderen Stelle, gegen den er ausgetauscht werden kann. Doch die Entwicklung produktiverer Methoden wurde in Europa durch die Beschränkungen des Nationalstaatensystems blockiert. Anders ausgedrückt: Die Widersprüche, die zum Krieg geführt hatten, waren nicht gelöst worden, sondern nahmen noch bösartigerer Formen an.

Die sozialistische Revolution breitete sich nach der erfolgreichen Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 nicht weiter aus und die Menschheit sollte einen schrecklichen Preis dafür bezahlen. Der Grund der Isolation der Sowjetunion lag nicht in der objektiven Stärke der kapitalistischen Wirtschaft, wie Harding behauptet, sondern in der Rolle, die die sozialdemokratische Führung der Arbeiterklasse spielte. Wir wollen Hardings Position von diesem Standpunkt aus betrachten.

Der Kriegsausbruch hatte eine entsetzliche Krise in der Arbeiterbewegung ausgelöst: Die Parteien und Organisationen, die sich die Arbeiterklasse in einer früheren Periode zur Organisierung ihres Kampfes gegen den Kapitalismus und zur Umgestaltung der Gesellschaft aufgebaut hatte, waren selbst zu dem zentralen Mechanismus geworden, der die Arbeiterklasse an die im Niedergang begriffene kapitalistische Ordnung fesselte. Wie war dieses Problem zu lösen?

Nehmen wir an, die Bolschewiki hätten in Russland den Kampf um die Macht aufgegeben. Das Ergebnis wäre mit Sicherheit eine Art militärisch-faschistisches Regime gewesen. Auch wenn die Situation verschiedene Möglichkeiten beinhaltete, kann die Variante der Errichtung einer bürgerlichen Demokratie definitiv ausgeschlossen werden. Tatsächlich hatten die bürgerlichen Demokraten und ihre Unterstützer, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, in der Periode von Februar bis Mai 1917 die Zügel in die Hand genommen. Innerhalb weniger Monate hatten sie sich als unfähig erwiesen, auch nur eine der dringendsten Forderungen der revolutionären Bewegung zu erfüllen und stattdessen die Tore für die Errichtung einer Militärdiktatur geöffnet.

Soweit zur Situation in Russland. Auf internationaler Ebene zeigen sich die gleichen Tendenzen. Hätten die Bolschewiki nicht die Macht ergriffen, so hätte sich der Griff der Sozialdemokratie noch verstärkt. Die revolutionären Elemente, die nach dem Verrat der sozialdemokratischen Führer nach einem Weg vorwärts suchten, wären zurückgestoßen worden. Eine solche Situation hätte zur Errichtung diktatorischer Herrschaftsformen geführt.

Wenn man sagen kann, die Bolschewiki hätten auf die Ausbreitung der sozialistischen Revolution "spekuliert", so spekulierten die Sozialdemokraten ganz entschieden auf die Beibehaltung der bürgerlichen Demokratie und die Rückkehr zu den Vorkriegsbedingungen eines kapitalistischen Wachstums, das ihnen die Möglichkeit zu einer Politik der Sozialreformen eröffnet hätte. Doch zeigte sich, dass die bürgerliche Demokratie in Europa keinen besseren Stand hatte als in Russland - ihre Auflösung zögerte sich lediglich ein wenig länger hinaus. Und anstatt einen neuen Aufschwung zu erfahren, fiel der Weltkapitalismus in die tiefste Krise seiner Existenz.

In Deutschland gab es keinen nachdrücklicheren Verfechter der bürgerlichen Demokratie als die Sozialdemokratie. Sie mobilisierte sogar die Streitkräfte des Staates, um ihre Gegner auf der Linken niederzuwerfen. Ob selbst an der Regierung oder nicht, bildete die SPD die Grundlage jeder parlamentarischen Regierung während der Zeit der Weimarer Republik. Und sogar als sie in Preußen durch den Staatsstreich vom 20. Juli 1932 unsanft aus ihren Ämtern vertrieben wurde, zeigte sie ihre unerschütterliche Loyalität gegenüber dem Staat, indem sie ihre Beschwerden an das Verfassungsgericht richtete.

Die Sozialdemokraten spekulierten auf die bürgerliche Demokratie und die Stabilität des Kapitalismus. Das Ergebnis ihrer Spekulation waren Militärdiktatur und Faschismus in ganz Europa. Sie verloren das Spiel aus dem einen Grund, dass die objektiven Widersprüche der kapitalistischen Weltwirtschaft, deren Existenz die Bolschewiki erkannt und zur Grundlage ihres Handelns gemacht hatten, sich vertieften und verschärften.

Anmerkungen:

[1] Neil Harding, Leninism, Basingstoke 1996, S. 115 (aus dem Englischen).

[2] Friedrich Engels, Einleitung zu "Die Klassenkämpfe in Frankreich ", MEW Bd. 22, S. 510.

[3] Harding, a.a.O., S. 111.

[4] Ebd., S. 112.

[5] Zit. nach: Lloyd C. Gardner, Safe for Democracy, S. 161 (aus dem Englischen).

[6] Zit. nach: George F. Kennan, Russia Leaves the War, Princeton 1989, S. 249 (aus dem Englischen).

[7] Zit. nach: Arno Mayer, Politics and Diplomacy of Peacemaking, New York 1967, S. 8 (aus dem Englischen).

[8] Zit. nach: William Appleman Williams, Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie, Frankfurt/Main 1973, S. 127.

[9] Mayer, a.a.O., S. 10.

[10] John M. Thompson, Russia, Bolshevism and the Versailles Peace, Princeton 1966, S. 14 (aus dem Englischen).

[11] Zit. nach: E. H. Carr, The Bolshevik Revolution, 1917-1923, Bd. 3, S. 135-136 (aus dem Englischen).

[12] Mayer, a.a.O., S. 800-801.

[13] Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1993, S. 78f.

[14] Leo Trotzki, Report on the World Economic Crises and the New Tasks of the Communist International , 23. Juni 1921, in: ders., The First Five Years of the Communist International, New York 1972, Bd. 1, S. 200f (aus dem Englischen).

[15] Ebd., S. 201f.

[16] Trotzki, Flood-Tide. The Economic Conjuncture and the World Labor Movement, 21. Dezember 1921, in: ders., The First Five Years of the Communist International, a.a.O., Bd. 2, S. 81.

[17] Trotzki, Report on the World Economic Crises and the New Tasks of the Communist International , a.a.O., S. 211.

[18] Trotzki, Speech on Comrade Zinoviev’s Report on the Tactic of the Communist International at the 1921 all-Russian Conference, Dezember 1921, in: ders., The First Five Years of the Communist International, a.a.O., Bd. 2, S. 61.

[19] Trotzki, Report on the Forth World Congress, 28. Dezember 1922, in: ders., First Five Years of the Communist International, a.a.O., Bd. 2, S. 306.

[20] Derek H. Aldcroft, Studies in the Interwar European Economy, Ashgate 1997, S. 1 (aus dem Englischen).

[21] William Keylor, The Twentieth Century World, New York, S. 96f (aus dem Englischen).

[22] Zit. nach: Harold Moulton und Leo Pasvolsky, War Debts and World Propesrity, Washington DC 1932, S. 61 (aus dem Englischen).

[23] Ebd., S. 63.

[24] Ebd.

[25] Ebd., S. 64.

[26] Zit nach: David Felix, Walther Rathenau and the Weimar Republic, S. 110f (aus dem Englischen).

[27] Siehe Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, Frankfurt am Main 1991, S. 421.

[28] Zit. nach: Isaac Deutscher, Marxism, Wars and Revolutions, London 1984, S. 162 (aus dem Englischen).

[29] Vgl. Charles P. Kindleberger, The World in Depression 1929-1939, Harmondsworth 1986, S. 21.

[30] Zit. nach: Michael Hudson, Super Imperialism, New York 1972, S. 14 (aus dem Englischen).

[31] Zit. nach: Charles H. Feinstein u.a., The European Economy Between the Wars, Oxford 1997, S. 46 (aus dem Englischen).

[32] Leo Trotzki, Europa und Amerika, Essen 2000, S. 295ff.

[33] Moulton, a.a.O., S. 91.

[34] Vgl. Gilbert Ziebura, Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/24-1931, Frankfurt a. M. 1984, S. 75.

[35] Siehe Mary Nolan, Visions of Modernity, Oxford 1994, S. 27-36 (aus dem Englischen).

[36] Ebd., S. 67f.

[37] Ebd., S. 132.

[38] Charles. S. Maier, In Search of Stability, Cambridge, 1987, S. 51 (aus dem Englischen).

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