Pierre Lambert, der langjährige Führer der französischen Organisation communiste internationaliste (OCI) und des heutigen Parti des travailleurs (PT), ist am 16. Januar in Paris nach längerer Krankheit im Alter von 87 Jahren gestorben.
Lambert war einer der letzten Vertreter der Generation, die sich noch zu Trotzkis Lebzeiten der Vierten Internationale angeschlossen hatte und darin nach dem Zweiten Weltkrieg eine führende Rolle spielte.
Am 9. Juni 1920 als Sohn einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie in Paris geboren, trat Pierre Boussel, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, bereits mit 14 Jahren der Kommunistischen Jugendbewegung bei. Ein Jahr später wurde er ausgeschlossen, weil er das Bündnis Stalins mit der französischen Regierung von Pierre Laval kritisierte. Er wurde Mitglied der sozialistischen Jugendbewegung, in der die Trotzkisten damals schnell an Einfluss gewannen, und war während des Kriegs in der trotzkistischen Bewegung tätig.
Zu Beginn der 1950er Jahre geriet die Vierte Internationale unter den wachsenden Druck einer revisionistischen Tendenz, die dem Stalinismus aufgrund der in Osteuropa durchgeführten Verstaatlichungen eine progressive Rolle zuschrieb und den Einritt in die Kommunistischen Parteien befürwortete. Hätte sich die Führer dieser Tendenz, Michel Pablo und Ernst Mandel, mit ihren Ansichten durchgesetzt, wäre die Liquidation der Vierten Internationale die Folge gewesen.
Man muss der Mehrheit der französischen Sektion zugute halten, dass sie sich dem pablistischen Revisionismus energisch widersetzte. Führende Mitglieder, wie Marcel Bleibtreu und Daniel Renard, verfassten wertvolle Beiträge gegen den liquidatorischen Kurs der Pablisten. Pierre Lambert unterstützte die Parteimehrheit, schriftliche Beiträge gegen den Pablismus sind von ihm aber nicht überliefert.
1953 schloss sich die Mehrheit der französischen PCI (OCI nannte sie sich erst später) dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale an, das auf Initiative der amerikanischen Socialist Workers Party (SWP) gegründet wurde, um das Programm der Vierten Internationale gegen den pablistischen Revisionismus zu verteidigen. In dieser Zeit rückte Lambert an die Spitze der französischen Sektion.
Doch bereits Ende der fünfziger Jahre zeigten sich in Lamberts PCI Symptome der Desorientierung und Demoralisierung. Sie interpretierte De Gaulles Rückkehr an die Macht und die Gründung der Fünften Republik 1958 als bonapartistischen Staatsstreich, war enorm pessimistisch hinsichtlich der Kampffähigkeit der Arbeiterklasse und führte in den folgenden Jahren teilweise eine Untergrundexistenz.
Anfang der sechziger Jahre widersetzte sich die OCI zwar der Wiedervereinigung mit den Pablisten, die von der amerikanischen SWP angestrebt und schließlich vollzogen wurde. Doch sie spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Der politische und theoretische Kampf gegen die Wiedervereinigung wurde vorwiegend von der britischen Socialist Labour League (SLL) von Gerry Healy geführt.
Im Laufe der sechziger Jahre verdichteten sich die Anzeichen einer wachsenden Krise in Lamberts OCI. Sie begann den Kampf, den das Internationale Komitee gegen den Pablismus geführt hatte, in Frage zu stellen. Das äußerte sich anfangs darin, dass sie die Vierte Internationale für tot erklärte: Sie sei durch den Pablismus zerstört worden und müsse neu aufgebaut werden.
Die britische Sektion des Internationalen Komitees, die Socialist Labour League (SLL), trat dieser Auffassung vehement entgegen. 1967 schrieb sie an die OCI: "Die Zukunft der Vierten Internationale ist im angestauten Hass von Millionen Arbeiter gegen die Stalinisten und Reformisten enthalten, die ihre Kämpfe verraten. Die Vierte Internationale muss bewusst um Führung kämpfen, um diesen Bedürfnissen entgegenzukommen... Nur der Kampf gegen den Revisionismus kann den Kader darauf vorbereiten, die Führung der Millionen Arbeiter zu übernehmen, die in den Kampf gegen den Kapitalismus und die Bürokratie hinein gezogen werden.... Der lebendige Kampf gegen den Pablismus und das Training von Kadern und Parteien auf der Grundlage dieses Kampfs war in den Jahren seit 1952 das Leben der Vierten Internationale." (Trotskysm versus Revisionism, vol. 5, London 1975, p. 107/114)
Am Vorabend der großen Klassenkämpfe von 1968 warnte die SLL auch vor den Konsequenzen der skeptischen Haltung der OCI: "Die Radikalisierung der Arbeiter in Westeuropa schreitet jetzt rasch voran, besonders in Frankreich... In einem solchen Entwicklungsstadium besteht immer die Gefahr, dass eine revolutionäre Partei nicht in revolutionärer Weise auf die Lage in der Arbeiterklasse reagiert, sondern sich an das Niveau anpasst, auf das die Arbeiter durch ihre eigene Erfahrung unter der alten Führung beschränkt sind, d.h. an die unvermeidliche anfängliche Verwirrung. Solche Revisionen des Kampf für die unabhängige Partei und das Übergangsprogramm werden üblicherweise unter dem Deckmantel näher an die Arbeiterklasse’, Einheit mit allen, die sich im Kampf befinden’, keine Ultimaten stellen’, kein Dogmatismus’ usw. versteckt." (ebd., S. 113-114)
Diese Warnung verhallte ungehört. Die Revolte von 1968 schwemmte Tausende neue, unerfahrene Mitglieder in die Reihen der OCI und ihrer Jugendorganisation AJS, und die OCI-Führung passte sich an deren Verwirrung an. Die Forderung nach einer "Klasseneinheitsfront" - die die SLL ebenfalls bereits 1967 kritisiert hatte - wurde nun zur Formel, mit der sich die OCI an die sozialdemokratische Bürokratie anpasste und die eben gewonnen neuen Kräfte in die alten, bürokratischen Apparate zurückführte.
Die Standpunkte der OCI unterschieden sich nun nicht mehr grundlegend von jenen der Pablisten. Der einzige Unterschied war, dass sich die OCI an der Sozialdemokratie orientierte und ihre Feindschaft gegen den Stalinismus immer mehr dem Antikommunismus der Sozialdemokratie anpasste, während die Pablisten ihre Orientierung auf die stalinistischen Parteien beibehielten.
1971 brach die OCI mit dem Internationalen Komitee, ohne dass die Fragen, die der Spaltung zugrunde lagen, geklärt wurden. Die SLL konzentrierte sich zunehmend auf die nationale Arbeit in Großbritannien und verlor das Interesse an der Klärung internationaler Fragen, obwohl die OCI viel weiter nach rechts gerückt war, als sie dies in den sechziger Jahren erwartet hätte. Die OCI entwickelte nun eine spezifische Form des Opportunismus, die seither mit Lamberts Namen identifiziert wird.
Kennzeichen des "Lambertismus" ist die Zurückweisung der unabhängigen politischen Mobilisierung der Arbeiterklasse unter dem Banner des revolutionären Marxismus. Stattdessen bemüht er sich, führende Vertreter der gewerkschaftlichen und reformistischen Parteiapparate zu beeinflussen. Lamberts Organisation appelliert nicht an die Arbeiterklasse, sondern konzentriert sich darauf, einflussreichen Persönlichkeiten ins Ohr zu flüstern.
Der Journalist Jamal Berraoui, ein zeitweiliges Mitglied von Lamberts Organisation in Marokko, hat dies in einem in der Zeitung Aujourd’hui le Maroc veröffentlichen Nachruf auf den Punkt gebracht. Er schreibt: "Lambert beharrte angesichts großer Arbeiterkämpfe: Wir sind nicht die Führung der Massen’. Er überließ diese Rolle den traditionellen Apparaten. Die Massenbewegung untersuchen, ihr in jedem Fall durch das Aufstellen adäquater Losungen eine Einheitsperspektive eröffnen, ohne sich an die Stelle der traditionellen Führung, der Apparate zu stellen - das war die Linie."
Diese Linie war dafür geschaffen, den reaktionären bürokratischen Apparaten in Zeiten der Krise einen linken Deckmantel zu verschaffen, die Arbeiterklasse zu lähmen und die bürgerliche Herrschaft zu stabilisieren. In dieser Hinsicht war Lambert ohne Zweifel äußerst "erfolgreich", wie die zahlreichen Nachrufe in der französischen Presse belegen.
"Als geschickter Manipulierer verstand es Lambert, Energien zu sammeln und die Mittel zu finden, um eine bescheidene, aber in ihren Grenzen wirksame Organisation ins Leben zu rufen," bescheinigt ihm Le Monde. Die Zeitung verweist auf Lamberts Beziehungen zur Freimaurerloge Grand Orient, an deren Spitze in den siebziger Jahren Fred Zeller stand, der Trotzki einst als Sekretär gedient hatte, den Einfluss der OCI auf den Gewerkschaftsverband Force Ouvrière (FO), dessen langjähriger Sekretär Marc Blondel eng mit Lambert befreundet war, sowie auf ihre Kontrolle über den Stundentenverband UNEF, der die Sozialkassen für die Stundenten verwaltete.
Laut Angaben der Zeitung Libération soll sich Lambert auch regelmäßig zu Gesprächen mit dem Pressebaron Robert Hersant getroffen haben und 1995, am Vorabend der Auseinandersetzungen über die Rentereform, mit anderen FO-Funktionären sogar zu einem privaten Abendessen im Präsidentenpalast empfangen worden sein.
Das wichtigste Ergebnis von Lamberts Anbiederung an die reformistische Bürokratie ist aber zweifellos die Tatsache, dass zahlreiche führende Persönlichkeiten der Sozialistischen Partei aus seiner Schule hervorgegangen sind. Der Bekannteste unter ihnen ist Lionel Jospin, der von 1997 bis 2002 an der Spitze der französischen Regierung stand und 2002 für das Präsidentenamt kandidierte. Er ist aber nicht der einzige.
Jospin hatte sich Mitte der sechziger Jahre als Student der OCI angeschlossen und war 1971 in deren Auftrag in die Sozialistische Partei eingetreten. Dort stieg er rasch in die Reihe der engsten Vertrauten François Mitterrands auf, den er nach seiner Wahl zum Präsidenten 1981 als Ersten Sekretär der Partei beerbte. Mitterrand, der seine engsten Mitarbeiter überwachen ließ, wusste über Jospins heimliche Mitgliedschaft in der OCI und dessen enge Beziehungen zu Lambert Bescheid, wie unabhängige Quellen inzwischen bestätigt haben.
Die Unterstützung der OCI, die Anfang er siebziger Jahre über mehrere Tausend Mitglieder verfügte und über ihre Jugendorganisation Alliance des jeunes pour le socialisme (AJS) Zehntausende mobilisieren konnte, war für Mitterrand von großer Bedeutung. Der diskreditierte bürgerliche Politiker - er hatte kurze Zeit dem Vichy-Regime gedient und war auf dem Höhepunkt des Algerienkriegs Justiz- und Innenminister - hatte sich 1971 an die Spitze der Sozialistischen Partei gestellt und bemühte sich um ein linkes Image.
Mitterrands Ziel war ein von ihm dominiertes Bündnis mit der Kommunistischen Partei, das der bürgerlichen Herrschaft in Frankreich, die durch den Generalstreik und die Studentenproteste von 1968 tief erschüttert worden war, eine neue, stabile Basis verschaffen sollte - was ihm schließlich auch gelang. Die OCI verherrlichte dieses "Bündnis der Linken" als "Arbeitereinheitsfront" und griff jeden an, der es von links kritisierte.
Als sich die Beziehungen zwischen OCI und Mitterrand schließlich abkühlten, blieben nicht nur Jospin und andere OCI-Mitglieder, die ihr 1971 beigetreten waren, in der Sozialistischen Partei. 1986 wechselte ein ganzer Flügel von Lamberts Organisation unter Führung des langjährigen Leiters ihrer Studentenarbeit, Jean-Christophe Cambadélis, in Mitterrands Lager. Cambadélis sitzt seit zehn Jahren in der Nationalversammlung und gehört heute zu den einflussreichsten Figuren der sozialistischen Parteihierarchie.
Als im Winter 1995/96 ein mehrwöchiger Streik bei der Eisenbahn und im Öffentlichen Dienst das gaullistische Regime von Jacques Chirac erschütterte, griff die herrschende Elite auf diese Leute zurück, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Mit Lionel Jospin wurde 1997 ein Mann zum Regierungschef berufen, der rund zwanzig Jahre seines Lebens unter der Disziplin einer angeblich trotzkistischen Bewegung gearbeitet hatte.
Jospin sollte durch sein linkes Image die Arbeiter beruhigen, während er gleichzeitig eine Politik der Privatisierungen und des Sozialabbaus verfolgte, die den Interessen des Finanzkapitals entsprach. Das Ergebnis war verheerend. Von der weit verbreiteten Enttäuschung profitierte die Nationale Front Jean-Marie Le Pens, der Jospin bei der Präsidentenwahl 2002 übertraf und als Herausforderer Chirac in die zweite Runde einzog.
Lambert hatte sich inzwischen einem neuen Projekt zugewandt, dem 1991 gegründeten Parti des travailleurs (PT). Obwohl diese Partei von der ehemaligen OCI kontrolliert wird, betont sie, dass sie nicht trotzkistisch sei, die ehemalige OCI stelle als Courant communiste internationaliste neben Sozialdemokraten und Kommunisten lediglich eine Strömung im PT dar. Die OCI hat sich so mit dem PT gewissermaßen ihren eigenen bürokratischen Apparat geschaffen, den sie beeinflussen kann.
Zielgruppe des PT sind nicht Arbeiter, sondern Funktionäre, die sich aus dem einen oder anderen Grund mit der sozialistischen oder kommunistischen Parteihierarchie überworfen haben - in der Regel, weil ihre Karrierehoffnungen nicht erfüllt wurden. Im letzten Präsidentenwahlkampf stilisierte sich der PT als Interessenvertretung der 36.000 französischen Bürgermeister - einem Hort der Intrigen und der Korruption. Im Mittelpunkt ihres Wahlprogramms stand eine chauvinistisch gefärbte Kampagne gegen die Europäische Union, die für alle Übel der französischen Gesellschaft verantwortlich gemacht wird.
Auch in der Gewerkschaft FO üben Lamberts Anhänger nach wie vor großen Einfluss aus, auch wenn er nicht mehr so dominierend ist, wie in der Ära Blondels.
Lamberts Einfluss ist nicht auf Frankreich beschränkt. In Nordafrika, Lateinamerika, der Türkei und anderen Ländern finden sich Anhänger, die dem Vorbild ihres Mentors folgend in den Apparaten der reformistischen Parteien und Gewerkschaften arbeiten und oft auf deren rechtem Flügel stehen. Der Name Parti des travailleurs, Arbeiterpartei, ist nicht zufällig mit jenem der brasilianischen Arbeiterpartei Lulas identisch. Die brasilianischen Gefolgsleute Lamberts haben eine wichtige Rolle beim Aufbau der Partei des derzeitigen brasilianischen Präsidenten gespielt, arbeiten bis heute loyal in ihren Reihen und verteidigen den Parteiapparat gegen jede Kritik von links.
Lamberts Leben und Erbe enthalten wichtige Lehren für die internationale Arbeiterklasse. Sie illustrieren den Preis des Opportunismus. Es geht dabei nicht nur um Meinungsverschiedenheiten oder Fehler. In Zeiten der Krise wird der Opportunismus zur letzten Verteidigungslinie der bürgerlichen Herrschaft.
Die World Socialist Web Site wird sich bald in einem kritischen Nachruf ausführlicher mit Lamberts Leben und seiner Bedeutung befassen.