In diesem Sommer (2013) würdigte das Britische Filminstitut (BFI) mit der Retrospektive „Seeing Red“ („Rot Sehen“) die Arbeiten des langjährigen Film- und Fernsehproduzenten Tony Garnett. Das BFI nannte Garnett eine „der einflussreichsten Persönlichkeiten“ beim Fernsehen, der „eine Reihe provokativer, radikaler und manchmal aufrüttelnder Dramen produzierte und förderte.“
Garnetts Karriere umfasst 50 Jahre, besonders wird er aber mit einer der wichtigsten und kreativsten Perioden in der Geschichte des Fernsehdramas in Großbritannien identifiziert. Ursprünglich Schauspieler, wechselte Garnett hinter die Kamera, als er bei der BBC als Drehbuchassistent eingestellt wurde und bei Wednesday Play (Mittwochsspiel) mitarbeitete, eine Sendung, die von Oktober 1964 bis Mai 1970 lief und mehr als 170-mal ausgestrahlt wurde.
Diese Serie von populären Filmen, die für ein Millionenpublikum bestimmt waren und sich mit sozialen Fragen befassten, wie Up the Junction (Am Knotenpunkt, 1965, zum Thema Schwangerschaftsabbruch), Cathy Come Home (Cathy komm heim, 1966, Obdachlosigkeit), The Lump (1967), [„Lump“ ist ein Slang-Ausdruck für Leih- oder Gelegenheitsarbeit], In Two Minds,(In zwei Persönlichkeiten, 1971, Geisteskrankheit als soziales Problem) und The Big Flame (Die große Flamme, 1969, über eine Arbeiterrevolte in den Häfen), wurden alle von Garnett produziert. In dieser Zeit knüpfte er auch seine langjährige Verbindung zu dem Schriftsteller Jim Allen, (siehe Jim Allen…1999 und Ein Interview mit Jim Allen aus dem Jahr 1995), dem Dramatiker David Mercer und vor allem dem Regisseur Ken Loach (britischer Filmregisseur und Drehbuchautor. Loach wurde bekannt durch seinen naturalistischen Regiestil mit Schwerpunkt auf dem sozialen Drama sowie durch sein sozialistischen Überzeugungen).
Ansehen haben ihm unter anderem folgende Produktionen eingebracht: Kes von Loach (1969), After a Lifetime (Nach einer Lebensspanne, 1971), Family Life (Familienleben, die Filmversion von In Two Minds,1971), Days of Hope (Tage der Hoffnung, 1975), The Price of Coal (Der Preis der Kohle, 1977) und Black Jack (1978), wie auch Roy Battersbys The Body (Der Körper, 1970), Mike Leighs Hard Labour (Harte Arbeit, 1973), Julien Temples Earth Girls Are Easy (Mädchen von der Erde sind angenehm, 1985), Roland Joffes Fat Man and Little Boy (Dicker Mann und kleiner Junge, 1996) und Bill Shapters Beautifull Thing (Wunderbare Sache, 1996)
1936 wurde Garnett in eine Familie der Arbeiterklasse in Birmingham hineingeboren. Als extrem zurückhaltender Mensch, gab er erst kürzlich preis, dass seine Mutter während des Zweiten Weltkriegs zwei Tage nach einer Hinterzimmer-Abtreibung an Blutvergiftung verstarb, als er erst fünf Jahre alt war. Sein Vater, der in einer Munitionsfabrik arbeitete, beging 19 Tage darauf Selbstmord.
Garnett gab nicht auf und studierte Psychologie am University College in London, wo er sich seine schauspielerische Kompetenz erwarb. Er trat in der Fernsehproduktion The Boys (Die Jungs, 1962) und Z Cars (Z Wagen, 1962) auf und spielte auch verschiedene kleine Rollen in den bedeutenden BBC-Produktionen der historischen Dramen Shakespeares: An Age of Kings (Eine Ära der Könige, 1960).
Wie Garnett im folgenden Interview erklärt, kam er Ende der 1960er Jahre mit Gerry Healy und den britischen Trotzkisten von der Socialist Labour League in Kontakt. Obwohl er sich der trotzkistischen Bewegung nie anschloss, beteiligte er sich maßgeblich an der Organisation von Diskussionen unter Schauspielern, Autoren und Regisseuren, wie Loach, Mercer, Roy Battersby, und Corin und Vanessa Redgrave. Dies war ein Gewinn für diese Kreise. Der Dramatiker Trevor Griffiths setzte diesen Treffen in seinem Stück The Party (Die Partei, 1973) ein Denkmal. (Siehe Das Leben und die Karriere des Schauspielers Corin Redgrave)
Reporter der World Socialist Web Site stellten Garnett bei einem Treffen im Sommer dieses Jahres Fragen über sein Leben und seine Laufbahn und insbesondere über politische und künstlerische Konzeptionen, die seine Arbeit geprägt haben.
Die (BFI) Retrospektive hat mir emotional viel abverlangt“, sagte Garnett zu Beginn. „Unser ganzes Leben kommt zurück. Man sieht Filme, sieht junge talentierte Menschen und realisiert, dass sie tot sind. Sämtliche alten Schlachten leben wieder auf. Was man damals mit seinem Leben angefangen hat. Mit wem man zusammen war. Wer einem das Herz gebrochen hat und wessen Herz man gebrochen hat.“
Die darauf folgende umfangreiche Diskussion stellen wir im Folgenden dar:
WSWS: Wie war es möglich, dass jemand mit Ihrem sozialen Hintergrund so rasch zu einem angesehenen Produzenten bei der BBC werden konnte?
Tony Garnett: In meiner Generation hatte die Arbeiterklasse die günstigsten Bedingungen in diesem Land. Wir waren die einzige Generation, die als Kinder gut ernährt wurde.
Einige Wenige wurden aus ihr herausgefischt und aufs Gymnasium geschickt, noch weniger schafften es auf die Universität.
Ich bekam in den 1950er Jahren jährlich 300 Pfund staatliches Stipendium – in London konnte man davon gut leben. Die Türen gingen auf. In den frühen 1960ern wurde eine Atmosphäre der „Chancen für die Arbeiterklasse“ verbreitet – obwohl für die Mehrheit der Arbeiterklasse solche Chancen nicht existierten.
Ich stammte aus einer Arbeiterfamilie aus der „Arbeiteraristokratie“ - Werkzeugmachinenbauer, Stukkateure, Automechaniker. Ich landete bei der BBC,. Das war eine enorme kulturelle Veränderung. Man stammt aus einer Klasse und nicht aus einer anderen. Da kommen Gefühle von Schuld und Verrat auf. Mit 21 verdiente ich mehr Geld, als sich mein Alter je träumen ließ.
Meine inneren Spannungen hießen mich Dinge intensiver hinterfragen. Wenn man faktisch aus seiner Klasse herausgerissen wird, wird das Interesse an Klassenfragen größer. Man kann sich seine Klassezugehörigkeit keineswegs so einfach aussuchen, wie seine Verbundenheit mit einer Klasse. Ich stamme aus der Arbeiterklasse, beruflich gehöre ich jetzt jedoch zur Mittelklasse, und das seit Jahrzehnten.
Man ist sich im Klaren darüber, dass man ein Doppelleben führt. Aber Anfang der 1960er Jahre ging es leichter. Die BBC veränderte sich mit den kulturellen Veränderungen im Land. Die BBC trägt bei zur Produktion von Kultur, reagiert jedoch auch auf sie. Als immer mehr Leute Fernseher kauften und das Farbfernsehen Einzug hielt, wuchsen ihre Einnahmen Jahr für Jahr.
Der Generalintendant der BBC, Hugh Carlton Greene merkte, dass das „Tantchen“ (BBC) sein Korsett ablegen und einen Mini-Rock anziehen musste. Dagegen gab es mächtig Widerstand, er hatte jedoch die Autorität um das durchzusetzen. Ein Ergebnis davon war, dass ein paar Bengel – wie ich, Roger Smith und John McGrath – unter den wenigen glücklichen mit Stipendien ausgestatteten Schuljungen waren, denen erlaubt wurde zur BBC zu gehen. Da ging eine Tür auf.
1964 begann ich an der Anthologie Das Mittwochsspiel mitzuarbeiten. Smith, James MacTaggart und ich stellten etwa 34 einfache Dramen in Featurelänge her.
WSWS: Ihr Werk wird als offen politisch betrachtet. Wie entwickelten sich ihre politischen Ansichten und wie beeinflussten sie ihr Werk?
TG: Es war die Zeit, als die Labour-Partei unter Harold Wilson regierte und die Beatles die Hitlisten anführten. Eine Zeit der Gärung.
Meine politische Entwicklung verlief nach und nach. Schon früh hatte ich eine Meinung zum Stalinismus eingenommen, weil mein erster Schwiegervater Mitglied der Kommunistischen Partei war. Als ich noch zur Schule ging, hatte ich oft Auseinandersetzungen mit ihm, weil mir nicht gefiel, was ich da zu hören bekam. Ich hatte nichts von Trotzki gehört, aber manches von der KP machte mich skeptisch, obwohl ich Hochachtung vor einigen ihrer Mitglieder hatte.
Ich war 20, als die KPDSU ihren 20. Parteitag abhielt, bei dem der (sowjetische Premier Nikita) Chruschtschow seine „Geheimrede“ hielt und einige der Verbrechen Stalins benannte. Mein Schwiegervater wollte kein Wort davon glauben. Aber auf mich hatte die Rede eine große Wirkung.
Ich war gewerkschaftlich engagiert und in den 1960ern war ich in der Gewerkschaftsleitung der Vereinigung Fernsehfilm und Fernsehfilmtechniker (Cinematograph Television and Allied Technicans, ACTT). Ich las Marx. Ich war ein linker Rebell ohne viel Wissen.
Aber als Wilson 1964 und 1966 an der Regierung war, vergingen mir meine Illusionen. Wir produzierten Cathy Come Home, ein Film über eine junge Familie, die in die Obdachlosigkeit gestoßen wurde, und 1965 Up th Junction, über eine Abtreibung im Hinterzimmer. Beide Filme waren voller Wut über die Not von Menschen. Cathy ist ein reformistisches, zorniges Stück.
Ich bin ein Geschichtenerzähler und spreche Gefühle und Verstand der Menschen an. Mit dem Verlust der Illusionen in Labour wurde ich jedoch politischer. Für mich war der Reformismus entlarvt und ich wusste zwar, was nicht richtig war, aber nicht was richtig war.
Durch einen glücklichen Zufall traf ich Ende der 1960er auf Jim Allen (ein ehemaliges Mitglied der Socialist Labour League). Das war ein Durchbruch, denn er konnte sich ausdrücken und verstand die Charaktere, über die er schrieb, da er mit ihnen lebte und arbeitete. Er schrieb ungehobelt. aber das war die Stimme, die ich hören wollte.
Durch Jim traf ich Hafenarbeiter in Liverpool und Menschen aus der Arbeiterklasse, die sich an großen Streiks beteiligten. Ich recherchierte für The Big Flame und ich wollte das gut hinbekommen. Zu der Zeit traf ich auf Gerry Healy. Ich lernte ihn nicht privat kennen und wusste auch nicht viel über den Trotzkismus, aber er hatte das Wissen über die grundlegenden Fragen und er schien der Einzige zu sein, der alles einordnen konnte.
Die Informationen, die ich von Healy bekam, und seine Analyse beeindruckten mich sehr. Als ich ihn traf, hatte ich schon begonnen jeden Freitagabend bei mir Treffen abzuhalten, zu denen jeder kommen konnte, der sich für links hielt. Da wurden viele ihrer Illusionen zerstört. Da gab es viele Leute, die die Nase voll hatten von der Labour Regierung. Man verstand den Verrat der Labour Party und der Gewerkschaften.
Lange Zeit hielt ich die Treffen ab, später übernahmen das andere. Führer und Anhänger von allen wichtigen linken Tendenzen nahmen daran teil. Tariq Ali kam ein paar Wochen lang, stürmte dann wieder davon und sagte, er wolle sich nicht mit Salonsozialisten unterhalten. Das war wirklich komisch, weil er aus einer Familie der pakistanischen Bourgeoisie stammte.
Healy tauchte auf und in drei bis vier Wochen dominierte er das Treffen vollständig. Viele der Vertreter der anderen Tendenzen brachen ihre Teilnahme ab. Zweifellos war Healys Position der ihren weit überlegen. Er war ein besserer und unermüdlicherer Diskussionsredner als jeder andere. Und er jagte ihnen Angst ein. Sie wagten einfach nicht mehr wiederzukommen. Das war wirklich interessant zu beobachten.
Innerhalb von acht bis zehn Wochen rekrutierte er neue Mitglieder. Viele meiner Freunde traten jetzt in die Partei ein, darunter Roger Smith, Roy Battersby und eine ganze Menge Schauspieler. Ich trat nicht ein…. Für mich beginnt die Politik mit der Liebe. Wir sind voneinander abhängig. Eine sozialistische Kultur ist das Einzige, was uns ermöglicht, in Frieden miteinander zu leben, einander zur Kreativität zu ermutigen, das Leben lebenswert zu machen. Die Alternative ist, dass jeder gegen jeden konkurriert und nicht kooperiert, dass jeder versucht, gegenüber dem anderen ökonomische und soziale Vorteile herauszuschinden und dem Leiden anderer Menschen extrem gleichgültig begegnet. Was für Menschen wollen so etwas? Wie kann wirklich jemand sagen, dass er in einer Gesellschaft leben will, die auf Ausbeutung basiert?
Ich weiß nicht, wie wir das erreichen. Ich habe versucht die Wahrheit über die Welt zu erzählen und die größte Bühne dafür zu bekommen. Wie das in praktische Politik umzusetzen ist, ist schwierig. Ihr habt eine Antwort, die ich nicht akzeptieren kann. Ich habe keine Antwort, außer die Verbindung zu den Menschen zu halten – sie weiter daran zu erinnern, wie die anderen sind.
1974 gab es eine potentiell revolutionäre Situation. Wenn ihr damals eine ausreichend starke revolutionäre sozialistische Bewegung und Führung gehabt hättet, hätte es eine Möglichkeit gegeben...Ken Loach, Jim Allen und ich machten Days of Hope. Darin wurde die Geschichte dreier mit einander verwandter Menschen zwischen dem Ersten Weltkrieg 1916 und dem Verrat des Generalstreiks 1926 nachgezeichnet. Es ist wirklich so, wir sagten, wenn wir nichts aus der Geschichte lernen, dann passiert es noch einmal. Der Film hatte allerdings keine Auswirkungen, denn es passierte wieder.
Der Film hatte, wie alle Filme, Fehler, aber er war politisch der Ehrgeizigste. Die Recherche war schwierig. Wir mussten alles richtig hinbekommen, denn ich wusste, wir würden angegriffen werden. Ich hatte die verwendeten Dokumente alle gesichert. Die schärfsten Angriffe kamen aus der Labour Party und dem Gewerkschaftsdachverband Trades Union Congress.
The Price of Coal (Der Preis der Kohle, 1977) und Spongers (Schmarotzer, 1978) wurde produziert, als das Ende der Labour-Regierung nahte, und Margaret Thatcher sich 1979 zum Machtantritt anschickte. Es war die Zeit als Labour abstürzte. Sie hatten keine Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme. Premierminister Jim Callaghan driftete nach rechts ab und stand zusammen mit der Gewerkschaftsbürokratie in offenem Konflikt mit der arbeitenden Bevölkerung. Die Inflation war hoch, sodass es Streiks zur Angleichung der Löhne gab. Was die herrschende Klasse brauchte, war eine Regierung, die sagte „Nein, das gibt es für euch nicht“, die den Arbeitern eine Niederlage beibrachte und sie arbeitslos machte. Callaghan war dazu nicht in der Lage, also suchten sie jemanden, der das konnte, Thatcher.
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Reporter der World Socialist Web Site trafen sich diesen Sommer mit Garnett und stellten ihm Fragen über sein Leben und seinen Werdegang und besonders über die politischen und künstlerischen Konzeptionen, die sein Werk prägten.
WSWS: Ende der 1970er Jahre verließen Sie Großbritannien, um in den Vereinigten Staaten zu arbeiten. Was führte zu diesem Entschluss?
Tony Garnett: Es wurde schwieriger. Ab 1975-76 gab es weniger Möglichkeiten. Es gab viele Auseinandersetzungen, es war zermürbend und es machte mich fertig. Einige Jahre lang gingen bei der BBC unsere Verträge nicht mehr durch oder es gab lange Verzögerungen... Damals wurde in Fragestunden im House of Lords unterstellt, die BBC sei ein Nest von „Kommunisten“. Das war unter der Labour-Regierung.
Schließlich ging ich Ende der 1970er Jahre in die Vereinigten Staaten. Vier Filme im Jahr zu machen, mich mit der BBC herumzuschlagen und mich um Geld zu bemühen, war strapaziös. Ich war der Einzige, der eine solche Arbeit machte und jeder wollte ein Stück von mir. Außerdem wurde ich politisch immer desillusionierter. Ich wusste nicht, was ich als nächstes tun sollte oder was für einen politischen Film ich machen sollte.
Ich wusste, ich benötigte eine neue Inspiration – irgendwo, wo englisch gesprochen und Filme gedreht wurden. In den 1960ern hatte es eine wirklich interessante unabhängige Film-Bewegung in den USA gegeben und ich dachte, wenn ich da einen Fuß in die Tür kriege, könnten mir neue Herausforderungen begegnen. Dazu würde ich mir mit 5.000 bis 6.000 Meilen Abstand ein besseres Bild von den Ereignissen hier machen können.
Stattdessen landete ich in der Reagan-Ära, in der die Bewegung für ein unabhängiges Kino kollabierte. Hollywood wollte nur noch Special Effects und Abknall-Filme, in denen Kerle auf Fremde schießen. Aber ich lernte viel und dort zu überleben machte mich fit für die Rückkehr.
WSWS: Inwiefern?
TG: Die Atmosphäre in der BBC änderte sich – nach dem Motto „Manager sollten das Recht haben zu managen“. Etwas Ähnliches geschah an den Universitäten, im Nationalen Gesundheitswesen und weiteren Institutionen. Das bringt eine strenge Hierarchie mit vielen Abstufungen von Kontrolleuren, die einem sagen, was man darf und was nicht.
Damit wurde die Art Produzent aus meiner Zeit, den 1960ern, abgeschafft. Den Produzenten in den 1960ern hat man vertraut. Man hatte gewisse Freiheiten und durfte Talente aussuchen. Natürlich gab es auch Einschränkungen, aber die Funktion des Produzenten wurde jetzt weiter nach oben in der Führungshierarchie verlegt – in den sechsten Stock, wo die leitenden Manager sitzen, diejenigen die in ihrem ganzen Leben noch nie etwas produziert haben.
Wenn ihr die BBC betrachtet, dann macht sie im Großen und Ganzen Programme über einen Londoner Stadtteil – Westminster – zur Freude derjenigen, die in zwei oder drei anderen leben – Notting Hill und Islington. Den Rest des Landes gibt es nicht, außer wenn zwei oder drei junge Produzenten nach Doncaster oder Newcastle gehen, sagen wir mal, als wären sie Anthropologen auf einer Forschungsreise und mit einer „lustigen Story“ über die Sitten der Eingeborenen zurückkommen, oder auch einer schockierenden Geschichte über deren befremdliches Benehmen.
WSWS: Wie ist die gegenwärtige Lage der Arbeiter und Künstler?
TG: Thatcher sagte in ihrem Ruhestand, ihre größte Leistung sei New Labour gewesen. Wenn die Arbeiter die Rolle der Gewerkschaften klar begreifen könnten, auch dass Labour eine konservative Partei ist, ihnen würde es wie Schuppen von den Augen fallen. Es gäbe eine zeitlang ein arges Durcheinander, aber das würde auch Chancen beinhalten. Sicherlich ist es nicht das, was die Bourgeoisie sich wünscht. Sie will, dass Labour und der (Gewerkschaftsverband) TUC die Arbeiterklasse weiter verwirren.
Ich erzähle den Leuten immer, dass die derzeitige Rezession nicht wie früher ist. Es geht nicht um Nachfrage oder schwankende Zinssätze. Das ist eine große Rezession. Während die Reichen reicher werden, erlebt der Rest der Bevölkerung wie ihr Lebensstandard erodiert. Die amerikanischen Zahlen sind erschütternd. Hier ist es nicht besser. So kann ihr System nicht überleben.
Wie gehen wir damit um? In meiner Welt finde ich kaum etwas, was durch Hollywood oder das Fernsehen künstlerisch gestaltet wird. Es kostet viel und steckt in einer eisernen Faust. Es gibt keine Bewegungsfreiheit. Wenn ich in den Zwanzigern wäre, würde ich nicht beim Film oder im Fernsehen arbeiten.
Ich würde mich den neuen Technologien zuwenden. In der kapitalistischen Gesellschaft sind sie zerstörerisch und ein Problem für professionelle Musiker, Verleger und jetzt auch in der Kinoindustrie. Aber sie sind eine wundervolle Chance und wären in einer sozialistischen Gesellschaft willkommen.
Die Hindernisse beim filmischen Geschichtenerzählen sind mehr oder weniger verschwunden. Als ich anfing, waren die Kosten immens. Es gab teure komplizierte Kameras, mit denen nur hochqualifizierte Experten umgehen konnten, mit Filmen, die in einem Labor bearbeitet werden mussten. Dann musste man ein Theater mieten, nur um den Film anzusehen. Wenigen Firmen gehörte alles, der Zutritt wurde nur wenigen Privilegierten erlaubt und sie konnten nur produzieren, was die Firmen genehmigten.
Jetzt kann ein Kind eine gebrauchte Digitalkamera bekommen, sie einstellen und ein Foto schießen. Natürlich werden Einige interessantere Bilder machen als Andere. Man kann den Film dann auf einem Laptop bearbeiten und für immer zum Nutzen von Millionen Menschen auf einen Server legen...Wenn ich jetzt in den Zwanzigern wäre, würde ich ausschließlich im Internet arbeiten, besonders wegen seiner kreativen und politischen Freiheiten, aber auch weil ich nicht weiß, wie es geht. Ich würde es tun, würde Fehler machen und lernen und es tun und Fehler machen und wieder lernen.
Deshalb wollen sie das Internet dichtmachen, wenn sie können. Politiker gestatten den Menschen nicht gerne anonym miteinander zu kommunizieren. Sie möchten Freiheiten einschränken... aber das Fenster ist noch eine Weile für Chancen und Freiheiten offen. Sie überwachen es, aber stoppen es noch nicht. Das wird sicherlich kommen. Ihr seid so gescheit und klug mit der World Socialist Web Site im Internet zu arbeiten. Da sollten die klugen Leute sein, kreative und politisch interessierte Leute sollten da sein.
Ich dachte immer, das Filmemachen sei eine gesellschaftliche Tätigkeit. Es ist nicht wie das Schreiben eines Romans. Es ist eine gemeinschaftliche kreative Arbeit. Es wird viel individualistischer Unsinn über das Filmedrehen geredet.
Die französische auteur Theorie sagt, ausschlaggebend sei der Regisseur. Die Amerikaner sagen, es sei der Produzent. Das ist dumm und irreführend. Es ist jeder, der bei der Erstellung eines Films mitarbeitet. Finanziell gesehen, kann es eine Person sein, denn die reale Kraft eines Films wird immer mit Geld erreicht. Das Filmstudio oder der Sender kann diese Kraft an einen Filmstar übergeben. Je nachdem, ob der Filmstar Geld einbringt, wird entschieden, wer die Rolle bekommt, etc. Manchmal ist es der Regisseur. Es ist kaum je der Drehbuchautor, denn der wird beim Film und beim Fernsehen unterschätzt. Wenn jedoch etwas Bemerkenswertes von einem Film bleibt, dann ist es die Leistung aller Beteiligten.
Nach dem Krieg hatte das neo-realistische Kino Italiens den größten künstlerischen Einfluss auf mich – wie Bicycle Thieves (Fahrraddiebe). Die Menschlichkeit darin, die Filmtechnik, auf den Straßen gedreht, mit Handkameras. Auch einige osteuropäische Kinofilme, insbesondere polnische und tschechische – Closely Observed Trains (Umfassend überwachte Züge). Dann in technischer Hinsicht, Raoul Coutards Kameraarbeit in Breathless (Atemlos). Da gibt es eine Freiheit, eine Lässigkeit in der Aufnahmetechnik.
Außerdem übte Joan Littlewood, vom Theater Workshop, Stratford East Einfluss auf mich aus (Oh, What a Lovely War! (Oh was für ein wunderbarer Krieg!) und andere Werke. Eine großartige Theaterregisseurin. Ihre Arbeit hatte solch eine Energie. Wir wollten einen Film miteinander machen, aber es kam nie dazu. Sie sagte: Glaube an die Menschen, jeder ist ein Genie.
Ich fühle mich geschmeichelt, wenn man sagt, meine Arbeit sei Agitprop. Wenn man das denkt, dann haben wir etwas erreicht. Große Kunst, die das Künstlerische verbirgt, ist wahre Kunst. George Orwell sagte, ein guter Schreibstil sei wie ein Blick in den Spiegel. Ich verbrachte mein Leben damit, Kollegen zu finden und mit den Kollegen so zu arbeiten, dass wir alles konnten – schreiben, filmen, Regie führen, schauspielern – die Geschichte erzählen ohne auf uns selbst aufmerksam zu machen.
In den 1960er Jahren hatte ich oft – bis zum Überdruss – Dispute mit Leuten, die für Filmmagazine schrieben. Sie sagten, meine Arbeit sei reaktionär und ich sei kein echter Sozialist, weil ich meine Aussagen in einer bourgeoisen Form ausdrückte – in der realistisch-naturalistischen Form des 19. Jahrhunderts – und wirklich revolutionäre Arbeit zu machen, hieße, diese Form zu dekonstruieren, um die Leute zu einem ursprünglicheren Denken über die Welt zu veranlassen. Sie führten gewöhnlich Bertold Brecht dazu an.
Meine Antwort war, dass das Fernsehen das nationale Theater des Äthers sei, und sich die Menschen dort aufhielten. Diese Form sei es, die ihnen gefiele. Wenn ich experimentellere Formen nutzen würde, würde keiner zusehen. Daher gab ich ihnen den Rat, weiterhin Filme als Diskussionsgrundlage für die Diskussionen einer Handvoll Cineasten zu machen und ich machte meine Filme, um auf 10 Millionen einzuwirken.
WSWS: Sie haben als Produzent aufgehört und sind jetzt Romanschriftsteller. Was war der Grund für diese Veränderung und wie groß ist die Veränderung?
TG: Ende der 1990er Jahre hatte ich 40 oder mehr Jahre lang an Filmen gearbeitet und der Reiz hatte nachgelassen. Also gab ich es lieber auf, als dass es mich aufgab. Es war ein sehr aufreibendes Geschäft und ich war müde. Ich wollte auch nicht nur die Zeit, sondern auch den Raum in meinem Kopf, um die Romane zu schreiben, die in mir herumschwirrten – wollte auf die Charaktere hören und niederschreiben, was sie machen.
Ich bin jetzt an meinem dritten Roman. Schreiben ist eine vollständig andere Tätigkeit, aber es ist die Fortsetzung der gleichen Sache. Ich erzähle Geschichten und es gibt viele Arten sie zu erzählen. Das ist alles was ich kann. Lange Zeit erzählte ich Geschichten in der Hoffnung zu überzeugen und in die Köpfe der Menschen einzudringen. Oder wenigstens zu sagen, schau, so erscheint es uns. Das denken wir darüber. Und was denkst du?
Es liegt etwas Magisches in einer Geschichte, wenn sie gespielt wird, weil es eine emotionale Verbindung zwischen dem Publikum und der Rolle oder dem Schauspieler gibt, der sie spielt. Wenn man ein Drama sieht, besonders bei einem guten Drama, fühlt man wirklich, wie es ist, diese andere Person zu sein. Diese Verbindung erzeugt Empathie, etwas Magisches. Das ist lebensnotwendig, um sich intellektuell und emotional zu verstehen.
Aber die Reichweite des Dramas ist jetzt so begrenzt und das ist sehr schade. Denn eine Gesellschaft die nicht emphatisch ist, steckt in großen Schwierigkeiten. Die einzigen Menschen, denen Empathie fehlt, sind Psychopaten. Der Kapitalismus ist ein fruchtbarer Boden für Psychopathie.
Kunst um der Kunst willen ist bedeutungslos. Ich möchte Menschen berühren. Ich mag nicht einmal den Begriff Kunst, weil der heute zu sehr mit Individualismus assoziiert wird. (Der englische Begriff für Kunst) „Art“ kommt von Artefakt, Handwerk. Kunst und Geschick, Kunst und Kunstfertigkeit – das ist dasselbe. Erst im letzten Jahrhundert wurde der Künstler so kultiviert, ein erhabenes Wesen, ziemlich abgehoben von allen anderen. Ich möchte das durchbrechen.
Ich stamme aus einer Handwerkerfamilie – das war es, was sie machten. Ich sagte den Studenten, ihr könnt hier weggehen und einen Preis gewinnen und auf die Idee kommen, dass ihr sehr bedeutend seid. Aber ihr seid nicht bedeutend. Was du machst, ist bedeutend. Weil du ein Geschichtenerzähler bist und die Gesellschaft ohne Geschichten nicht auskommt.
Auch Geschichte als historische Wissenschaft ist eine Geschichte. Deshalb streiten wir uns über diese Wissenschaft. Wir geben unserem Dasein, der Welt und uns in der Welt durch unsere Bemühungen, die Wahrheit durch Geschichten zu erzählen einen Sinn. Tatsachen müssen in ihren Zusammenhang gestellt werden um wahr zu werden. Und die Wahrheit muss ständig erkämpft werden. Sie ist nicht vorgegeben. Und das Geschichtenerzählen trägt zur Debatte über die Wahrheit bei.
Deshalb sollten arbeitende Menschen ihre Geschichten erzählen. Die Frage der Wahrheit ist eine Klassenfrage. Ich möchte alle eure Leser auffordern, insbesondere die jungen, ihre eigenen politischen Filme zu machen, Interviews aufzuzeichnen, besonders mit älteren Genossen, und sich trauen, sich filmisch auszudrücken. Filmemachen ist etwas für jeden.