Vor 21 Jahren wurde das Asylrecht in Deutschland mit dem so genannten Asylkompromiss von Union und SPD faktisch abgeschafft. Nun legt die Große Koalition in Berlin die Axt an die letzten Reste des Flüchtlingsschutzes. Erneut wird die „Das Boot ist voll“-Rhetorik bemüht, mit der damals Flüchtlinge aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg abgewehrt wurden.
Als Folge der kriegerischen Konflikte in Syrien, dem Irak, Afghanistan sowie in Mali, der Zentralafrikanischen Republik, Somalia und Eritrea steigt die Zahl derer, die in Deutschland Schutz vor Elend und Verfolgung suchen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prognostiziert, das bis Ende des Jahres rund 200.000 Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragen werden, rund 60 Prozent mehr als 2013.
Das Bundesinnenministerium bemüht sich nicht, diesen Flüchtlingen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, sondern versucht den Flüchtlingen durch immer neue Gesetzesverschärfungen das Leben in Deutschland zur Hölle zu machen oder ihre Asylanträge von vornherein als unbegründet abzulehnen, damit es die verzweifelten Menschen schnellstmöglich wieder abschieben kann.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) brachte in einem Interview mit der Bild am Sonntag sogar die Einführung einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen ins Gespräch. Wörtlich erklärte er: „Ich halte die Debatte über die Frage, wie viele Flüchtlinge Deutschland auch als reiches Land aufnehmen kann, für notwendig.“ Selbst die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an innereuropäischen Grenzen wird vom bayerischen Koalitionspartner CSU ins Spiel gebracht, um Flüchtlinge abweisen zu können, bevor sie deutschen Boden erreichen.
Derweil herrschen bei der Unterbringung der Flüchtlinge skandalöse Zustände. Einige Kommunen sind bereits dazu übergegangen, Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Zeltlagern, alten Fabrikhallen, Schulen oder Kasernen einzupferchen.
Innenminister de Maizière unternimmt derzeit gleich mehrere Versuche, die Flüchtlingszahlen per Gesetz zu drücken. Dazu gehört die Einstufung der Länder Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sogenannte „sichere Drittstaaten“. Flüchtlinge aus diesen Ländern hätten dann praktisch keine Chance mehr, in Deutschland Asyl zu erhalten. Das Gesetz, das den Bundestag bereits passiert hat, wird zurzeit im Bundesrat verhandelt, wo die Große Koalition keine Mehrheit hat und auf Stimmen aus Bundesländern angewiesen ist, in denen die Grünen an der Landesregierung beteiligt sind.
Die Grünen zeigen sich dabei dem Gefeilsche um eine Gesetzesverschärfung keineswegs abgeneigt. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und der Parteivorsitzende Cem Özdemir haben bereits durchblicken lassen, dass sie gegen ein paar geringfügige Verbesserungen, etwa bei der Erteilung einer Arbeitserlaubnis, bereit wären, die gravierende Verletzung des Asylrechts mitzutragen, die mit sicheren Herkunftsstaaten einhergeht. Dabei rücken sie sogar von ihrer Forderung nach einer Abschaffung der Residenzpflicht ab, der behördlichen Auflage, dass sich Flüchtlinge nur in einem bestimmten Gebiet aufhalten dürfen.
Auch das Asylbewerberleistungsgesetz, dass 1992 im Zuge des Asylkompromisses eingeführt wurde und Flüchtlingen nur Leistungen weit unterhalb des Existenzminimums zubilligt, steht wohl nicht zur Disposition. Dabei hatte selbst das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich eine Anpassung an das Sozialhilfeniveau angemahnt.
Der Verhandlungsführer der Bundesregierung, Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU), deutet laut Süddeutscher Zeitung an, dass es „Spielraum in vielen Bereichen“ gebe, solange es gelinge, die Asylbewerberzahlen deutlich zu senken.
Werden Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina per Gesetz als „sichere Drittstaaten“ eingestuft, wird für Flüchtlinge aus diesen Ländern das im Grundgesetz verankerte Individualrecht auf Schutz vor Verfolgung abgeschafft. Ihre Asylanträge werden dann sofort als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt und die betroffenen Personen und Familien schnellstmöglich abgeschoben.
Derzeit stammt etwa jeder fünfte Asylbewerber in Deutschland aus diesen Staaten. Häufig handelt es sich um Angehörige der Gruppe der Roma, die in ihren Herkunftsländer diskriminiert, ausgegrenzt und verfolgt werden. Der Menschenrechtsbeauftragte des Europarates hat das mehrfach bestätigt.
In Deutschland werden seit 2012 die Anerkennungszahlen dieser Asylbewerber auf behördlichem Wege künstlich niedrig gehalten, wie die Flüchtlingshilfsorganisation Proasyl berichtet. Die Asylanträge werden von den Entscheidern bevorzugt bearbeitet und zumeist im Schnellverfahren abgelehnt. Die Anerkennungsquoten für Flüchtlinge aus Serbien wurde so 2013 auf offiziell 0,2 Prozent gedrückt. Tatsächlich kassierten die Verwaltungsgerichte aber eine ganze Anzahl von abgelehnten Asylbescheiden, so dass letztlich bei 107 Asylbewerbern ein Schutzstatus anerkannt wurde. In Frankreich liegt die Schutzquote für serbische Flüchtlinge bei 17 Prozent.
Überhaupt erwecken die Asylstatistiken der Bundesregierung regelmäßig den Eindruck, dass das Asylrecht in der Regel „missbraucht“ werde. Innenminister de Maizière sagte etwa zu den Zahlen des Jahres 2013, dass „nur knapp 14 Prozent der Asylanträge anerkannt wurden“. Dabei lag die Schutzquote, rechnet man den subsidiären Schutz hinzu, bei knapp 25 Prozent. Berücksichtigt man dann noch, dass knapp ein Drittel aller Fälle abgewiesen wurde, weil nach dem Dublin II-Verfahren ein anderer EU-Staat als zuständig galt, liegt die Quote sogar bei 40 Prozent.
Laut Proasyl sind die Anerkennungszahlen als Folge von Gerichtsentscheiden sogar noch höher. So „wurden 12,1 Prozent der Irak-Ablehnungen durch Gerichte korrigiert und endeten mit Flüchtlingsstatus oder subsidiärem Schutz; beim Herkunftsland Pakistan waren 35,4 Prozent der eingelegten Klagen erfolgreich, beim Iran 38,4 Prozent und bei Afghanistan wurden gar 42,1 Prozent der Bundesamts-Entscheidungen durch Gerichte aufgehoben“.
Diese Zahlen widersprechen deutlich dem Vorhaben der Bundesregierung, die Individualprüfung auf Schutzbedürftigkeit einzustellen, indem Staaten einfach als „sichere Herkunftsstaaten“ deklariert werden. Es ist bereits abzusehen, dass bald weitere Länder wie die Russische Föderation, der Kosovo oder Albanien zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt werden.
Hinzu kommen die weitere Verschärfung der Abschiebung und die Ausweitung der Abschiebe- und Aufnahmehaft. Im Sommer dieses Jahres war die Praxis der Abschiebehaft in Deutschland vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) und vom Bundesgerichtshof (BGH) für illegal erklärt worden. Mit einer gesetzlichen „Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ soll nun nicht nur der Status quo wieder hergestellt werden, sondern Flüchtlinge auch massenhaft inhaftiert werden.
Der EuGH hatte im Juli den Klagen einer Vietnamesin, eines Syrers und eines Marokkaners gegen ihre Unterbringung in regulären Gefängnissen stattgegeben. Diese Praxis, bei der Abschiebehäftlinge wie normale Strafgefangene behandelt werden, Handy- und Internetverboten und eingeschränkten Besuchszeiten unterliegen und in Zellen eingesperrt werden, verstößt gegen die EU-Rückführungsrichtlinie, nach der Abschiebehäftlinge in spezielle Haftanstalten unterzubringen und keineswegs wie Strafgefangene zu behandeln sind.
Nur eine Woche später entschied der Bundesgerichtshof, dass eine generelle Inhaftierung von Flüchtlingen, die in ein anderes EU-Land abgeschoben werden sollen, mit der allgemeinen Begründung einer bestehenden „Fluchtgefahr“ unzulässig sei. Geklagt hatte ein pakistanischer Flüchtling, der vor seiner Abschiebung in sein vermeintliches Erst-Einreiseland Ungarn inhaftiert worden war.
Der Bundesgerichtshof begründete die Entscheidung damit, dass mit der seit Januar 2014 geltenden Dublin III-Verordnung klare, „objektiv gesetzlich festgelegte Kriterien“ für die Einschätzung einer Fluchtgefahr eingefordert werden. Da nach Schätzungen von Flüchtlingshilfsorganisationen 60 bis 80 Prozent aller Abschiebehäftlinge in Deutschland wegen der Dublin-Verordnung eingesperrt worden sind, mussten Hunderte Flüchtlinge umgehend freigelassen werden.
Beide Urteile belegen, dass Tausende Flüchtlinge in Deutschland völlig zu Unrecht inhaftiert und dabei völlig menschenrechtswidrig behandelt worden sind. Nach Schätzungen der „Antifolterstelle“ saßen 2013 rund 5.000 Flüchtlinge in Abschiebehaft. Dokumentiert sind dabei Haftzeiten von bis zu acht Monaten.
Der Hannoveraner Rechtsanwalt Peter Fahlbusch, der seit 2002 mehr als 900 Abschiebehäftlinge vertreten hat, von denen jeder Zweite rechtswidrig inhaftiert worden war, bezeichnete die BGH-Entscheidung als „Sargnagel“ für die Abschiebehaft in Deutschland. Da dürfte er sich getäuscht haben. Das Bundesinnenministerium hat nämlich bereits vorsorglich einen Referentenentwurf für die Neuregelung der Abschiebehaft vorgelegt, der sechs Gründe für die Feststellung „erheblicher Fluchtgefahr“ auflistet, mit denen faktisch jeder Asylsuchende in Deutschland in Haft genommen werden kann.
Laut Gesetzentwurf besteht „erhebliche Fluchtgefahr“ bereits dann, wenn der Asylsuchende über andere EU-Staaten nach Deutschland eingereist ist. Gibt er seine Identität und seinen Fluchtweg wahrheitsgemäß an, kommt er fast automatisch in Abschiebehaft. Verschleiert er dagegen Fluchtweg und Identität, kommt er wegen „Fluchtgefahr“ in Aufnahmehaft.
In dem Entwurf wird sogar der Richtervorbehalt kassiert, da die Sicherheitsbehörden Flüchtlinge in Gewahrsam nehmen können, wenn die voraussichtliche Haftdauer geringer ist als die Zeit, die für die Einholung der richterlichen Anordnung benötigt wird. Damit wird polizeilicher Willkür Tür und Tor geöffnet und gegen den grundgesetzlich verankerten Richtervorbehalt verstoßen. Nach Artikel 104 des Grundgesetzes dürfen nämlich nur Gerichte Freiheitsentzug anordnen. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnete den Gesetzentwurf deshalb als „Perfidie in Paragrafenform“.
Viele Kommunen zeigen sich derweil mit der Unterbringung der Flüchtlinge überfordert, denn obwohl der Anstieg der Flüchtlingszahlen vorhersehbar war, wurden in den Bundesländern und Kommunen keinerlei Vorkehrungen getroffen. Die bestehenden Erstaufnahmeeinrichtungen platzen aus allen Nähten.
In Zirndorf bei Nürnberg teilen sich 1.600 Flüchtlinge den für nur 650 Asylbewerber vorgesehenen Platz. In Bielefeld musste die Erstaufnahmeeinrichtung für mehrere Tage geschlossen werden, weil dort infolge der beengten und grausigen hygienischen Zustände eine Masernepidemie ausgebrochen war. In Duisburg hat die Stadt Schrottimmobilien angemietet, ein ursprünglich geplantes Zeltlager auf Ascheplätzen wurde inzwischen wieder geschlossen.
Diese Probleme haben wenig mit den gestiegenen Flüchtlingszahlen zu tun. Vielmehr werden seit Jahren Aufnahmeeinrichtungen geschlossen, weil die Behörden annahmen, die Flüchtlingszahlen würden auf dem niedrigen Stand der Jahre 2006 bis 2008 verharren, als jeweils nur rund 30.000 Flüchtlinge in Deutschland Asyl beantragten.
Hinzu kommt, dass in acht der sechzehn Bundesländer bis heute die so genannte Lagerpflicht herrscht, die einen Auszug der Flüchtlinge in Privatwohnungen unmöglich macht. In Bayern gilt in der Asylverordnungsrichtlinie sogar der Grundsatz, dass die Verteilung und Zuweisung der Flüchtlinge in Unterkünfte, „die Rückführung nicht erschweren darf: sie soll die Rückführung in das Heimatland erleichtern“.
Die Lagerpflicht verfolgt den Zweck, die Flüchtlinge zu isolieren und sie vom Zugang zu Bildung und Arbeit abzuschneiden. Die dort herrschende Enge, der Lärm, die unsäglichen hygienischen Zustände sind Ursache für Krankheiten und Depressionen und dienen dazu, die Flüchtlinge zu drangsalieren und mürbe zu machen.
Eine vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Unicef in Auftrag gegebene Studie prangert an, dass die deutschen Behörden beim Umgang mit Flüchtlingskindern massiv gegen die UN-Kinderrechtskonvention verstießen. Flüchtlingskinder müssen jahrelang in Massenunterkünften leben, haben nur begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung und warten viel zu lange auf Kindergarten- und Schulplätze. Ihnen werden auch keine eigenständigen Fluchtgründe zugestanden.
Heribert Prantl kommentierte in der Süddeutschen Zeitung, er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei der Unterbringung von Flüchtlingen „der visuelle Notstand organisiert wird, um die gesellschaftliche Akzeptanz“ für die geplanten Verschärfungen beim Flüchtlingsabwehrrecht zu schaffen.