Die Nato kreist Russland nicht nur militärisch ein, auch der Energiemarkt wird zunehmend als Druckmittel für geostrategische Zwecke eingesetzt. In jüngster Zeit haben die USA in dieser Hinsicht zwei wichtige Schritte unternommen: Mit dem Beginn von Flüssiggasexporten nach Europa haben sie den Preiskrieg mit dem russischen Gasmonopolisten Gazprom verschärft, und die US-Regierung hat offen Stellung gegen den Ausbau der deutsch-russischen Pipeline Nord Stream bezogen.
Ende April traf im portugiesischen Hafen Sines erstmals ein Tanker mit Flüssiggas aus den USA ein. Die Lieferung hat nicht zuletzt symbolischen Wert. Die EU bezieht derzeit ein Drittel ihres Gases aus Russland, wobei der Prozentsatz bei einigen Mitgliedsländern wesentlich höher liegt. In Finnland, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn sind es über 80, in Österreich und Griechenland über 60 Prozent. In Deutschland ist der Anteil zwar niedriger, in absoluten Zahlen importiert es aber am meisten Gas aus Russland. Insgesamt wird der europäische Gasbedarf derzeit zu 90 Prozent über Pipelines gedeckt.
Der amerikanische Konzern Cherniere, der Flüssiggas liefert, hat langfristige Verträge mit den europäischen Konzernen Galp (Portugal), der britisch-niederländischen Royal Dutch Shell und dem spanischen Unternehmen Gas Natural unterzeichnet. Bisher ist nicht bekannt, wie umfangreich die Lieferungen sein werden.
Mit den Flüssiggaslieferungen üben die USA Druck auf den Gaspreis in Europa aus und treiben damit den russischen Gasmonopolisten Gazprom in die Enge. Wie ein Analyst der Bank Société Générale gegenüber dem Wall Street Journal erklärte, bedeuten die Lieferungen den „Beginn des Preiskrieges zwischen US-Flüssiggas und Pipeline-Gas“. Ein Vertreter von Gazprom hatte bereits im Februar angekündigt, dass der Konzern seine Produktionskosten senken werde, falls amerikanisches Flüssiggas nach Europa gelange.
Russlands Position als Energielieferant auf dem Weltmarkt ist bereits in den vergangenen Jahren massiv geschwächt worden. Noch vor wenigen Jahren waren die USA der größte Gasimporteur der Welt. Durch die Entwicklung der Fracking-Technologie konnte Amerika jedoch zur Förderung von Schiefergas und Schieferöl übergehen. Im Jahr 2009 stiegen die USA so zum größten Gasproduzenten der Welt auf und überholten damit Russland. Inzwischen importieren die USA weniger als 5 Prozent ihres Gasverbrauchs.
Unter diesen Bedingungen hat sich auf dem europäischen Energiemarkt ein Preiskampf zwischen den beiden größten Lieferanten, der russischen Gazprom und der norwegischen Statoil entwickelt, an dem sich nun auch die USA beteiligen. Gazprom musste in den vergangenen Jahren den Gaspreis immer weiter senken, um seinen Marktanteil zu behalten. Im März 2016 lag er mit 147,2 US-Dollar pro 1000 Kubikmeter 56 Prozent unter dem Preis vor einem Jahr.
Laut Angaben der Moskauer Higher School of Economics musste Gazprom zwischen 2009 und 2015 Lieferverträge mit insgesamt 30 Abnehmern in Europa 65 Mal revidieren. Mit der Lieferung von Flüssiggas aus den USA verschärft sich dieser Preiskampf weiter.
Eine Studie des Center on Global Energy Policy an der amerikanischen Columbia University gelangte im September 2014 zum Schluss: „Der Boom von US-Schiefergas hat den europäischen Kunden bereits geholfen und den russischen Produzenten geschadet, da auf diese Weise das globale Gasangebot vergrößert wurde und Flüssiggaslieferungen freigegeben wurden, die zuvor für den US-Markt vorgesehen waren. Dies hat Europas Verhandlungsposition gestärkt, Vertragsänderungen erzwungen und die Gaspreise gesenkt. Der US-Export von Flüssiggas wird einen ähnlichen Effekt haben.“
Allerdings seien die Flüssiggasexporte allein wahrscheinlich nicht ausreichend, „um eine Veränderung in Moskaus Außenpolitik zu erzwingen, insbesondere in den nächsten paar Jahren“. Trotzdem hält die Studie die Auswirkungen der Exporte für signifikant. Bei jährlichen Lieferungen von 9 Mrd. Kubikmetern rechnet sie mit einem Rückgang der russischen Gaseinnahmen um 24 Mrd. US-Dollar im Jahr oder 27 Prozent, bei der Lieferung von 18 Mrd. Kubikmetern sogar mit Verlusten von 33 Mrd. US-Dollar oder 38 Prozent. Dies entspräche etwa 1,1 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts.
Die Strategen des US-Imperialismus haben den Energiesektor als Achillesferse der russischen Wirtschaft ausgemacht. Dank steigender Öl- und Gaspreise hatte sich das russische Bruttoinlandsprodukt zwischen 2000 und 2008 ohne wesentliche Steigerung der Industrieproduktion mehr als verfünffacht. Der Preisverfall nach 2008 und die starke Abhängigkeit des russischen Staatshaushalts von Einnahmen aus dem Energieexport führten dann zu einem dramatischen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts. Die Wirtschaftssanktionen und Energiepolitik der USA zielen aus diesem Grund primär auf den russischen Energiesektor.
Bestandteil dieser Politik ist es, den russischen Anteil am europäischen Energiemarkt zu senken. Die USA unterstützen deshalb auch Pipeline-Projekte, die Gas aus Zentralasien und dem Kaspischen Meer unter Umgehung Russlands nach Europa liefern. Dazu zählen die Transanatolische und die Trans-Adria-Pipeline, die Aserbaidschan über Georgien, die Türkei, Griechenland und Albanien mit Süditalien verbinden.
Bei dieser Strategie kommt der Ukraine eine zentrale Bedeutung zu. Sie hatte vor dem Umsturz in Kiew 90 Prozent ihres Gases aus Russland importiert, und die Hälfte der russischen Gaslieferungen nach Europa flossen über ihr Territorium. Dies hat sich nun radikal verändert.
Trotz massiver Finanzproblemer und grassierender Armut hat die ukrainische Regierung hunderte Millionen Euro dafür aufgewandt, Gas über Umwege aus der EU zu importieren und so die Abhängigkeit von Russland zu reduzieren. Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) haben der Regierung in Kiew zu diesem Zweck wiederholt hohe Kredite gewährt.
2015 hatte die Ukraine ihre Gasimporte aus Europa laut Natural Gas Europe auf 10,3 Mrd. Kubikmeter verdoppelt und die Importe aus Russland um nahezu zwei Drittel auf 6,1 Mrd. Kubikmeter reduziert. Seit dem Winter 2015/16 importiert das Land überhaupt kein Gas mehr aus Russland. Gazprom hat damit einen seiner wichtigsten Absatzmärkte verloren.
Mit dem Energiekrieg gegen Russland verfolgen die USA und die EU zwei Ziele. Er soll einen außenpolitischen Kurswechsel Russlands und die Öffnung des russischen Energiesektors für westliche Firmen und Investoren erzwingen. Und er dient der wirtschaftlichen Vorbereitung Europas auf einen Krieg gegen Russland.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Gerade die osteuropäischen Länder, die innerhalb der Nato nachdrücklich auf einen militärischen Konfrontationskurs gegen Russland drängen, sind am stärksten von russischen Gaslieferungen abhängig. Dies gilt in den USA und teilen Europas als ernsthaftes Hindernis für eine konsequente pro-westliche Politik dieser Länder (zum Beispiel Ungarns) und als Schwachstelle im Kriegsfall. So würde eine plötzliche Unterbrechung russischer Energielieferungen die baltischen Staaten schwer treffen.
Bereits im Dezember mahnte deshalb eine Studie des US Army College über die Implikationen des Ukraine-Konflikts für die europäische Energiesicherheit, den militärischen Schutz zentraler Energieeinrichtungen in Europa – von Pipelines und unterirdischen Erdgasspeichern – sicherzustellen.
In diesem Zusammenhang stehen auch die heftigen Auseinandersetzungen über den Ausbau der deutsch-russischen Pipeline Nord Stream. Die USA und einige osteuropäische Länder, insbesondere Polen und die baltischen Staaten, vermuten, die Pipeline könne zur Grundlage für eine deutsch-russische Achse in der Wirtschafts- und schließlich auch in der Außenpolitik werden. Sie würde den Gastransport über die Slowakei, Polen und die Ukraine deutlich verringern und Deutschland zur zentralen Drehscheibe für die Energieversorgung Europas ausbauen.
Anfang Mai hat die US-Regierung öffentlich gegen den Ausbau der Pipeline Stellung bezogen. US-Außenminister John Kerry erklärte im Rahmen einer US-EU-Energiekonferenz, die Nord Stream 2 würde „sehr negative Folgen“ für Osteuropa haben. Auch Amos Hochstein, der US-Sondergesandte und Koordinator für ausländische Angelegenheiten, erklärte Anfang Mai, die USA seien „zutiefst besorgt“ über die Nord Stream 2.
Die deutsche Regierung steht dagegen auf dem Standpunkt, dass Nord Stream ein „kommerzielles Projekt“ und demnach Sache der beteiligten Unternehmen sei. Dazu zählen neben Gazprom und den deutschen Konzernen Wintershall und E.ON auch der österreichische Konzern OMV und der französische Engie.
Die Bundesregierung stößt mit ihrer Haltung nicht nur in Washington, sondern auch in großen Teilen der EU auf wachsenden Widerstand. Im Gegensatz zur Bundesregierung sieht auch die EU-Kommission in Brüssel in dem Projekt eine Gefahr für die europäische Energiesicherheit und die Gasversorgung Ost- und Zentraleuropas.
Die Länder der Visegrad-Gruppe – Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien – haben eine rechtliche Prüfung der Pipeline angefordert. Auch Italien ist inzwischen strikter Gegner des Projekts. Selbst in Deutschland regt sich Widerstand. So hat der Chef der konservativen Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber (CDU), in einem Brief an EU-Energiekommissar Miguel Arias Cañete die Pipeline scharf kritisiert, weil sie die Energie- und Sicherheitsziele der EU untergrabe und das Monopol von Gazprom stärke.