Am Samstag demonstrierten in Berlin Tausende Menschen für einen Abschiebestopp nach Afghanistan. Dem Demonstrationszug zum Brandenburger Tor, der nach Polizeiangaben zu Beginn 1500 Teilnehmer zählte, schlossen sich unterwegs immer mehr an. Die Veranstalter, afghanische Kulturvereine, Hilfsorganisationen und Flüchtlingsinitiativen, die anlässlich des Internationalen Tags der Menschenrechte zum Protest aufgerufen hatten, sprachen zum Schluss von rund 3000 Teilnehmern.
„Afghanistan ist nicht sicher, keine Abschiebung nach Afghanistan!“, „Krieg produziert Flüchtlinge – Stopp dem Krieg“, „Wir sind keine Zahlen, wir sind Menschen!“ oder „37 Jahre Krieg, 37 Jahre Flucht“ lauteten einige der Aufschriften auf Plakaten und Transparenten.
Auch mit Fotos zum Krieg, zu Flucht und Verwüstung verwiesen die Demonstranten auf die lebensgefährliche Lage in ihrem Heimatland. Sie machten ihrer Empörung Luft, dass die Bundesregierung zwar dringend von Reisen nach Afghanistan abrät, aber Zehntausende Afghanen und ihre Familien in die Hölle zurückschicken will, nachdem die EU mit der Regierung in Kabul einen Deal vereinbart hat.
Kava Spartek vom afghanischen Verein für Flüchtlingshilfe YAAR rief auf der Kundgebung: „Mit der Abschiebung von afghanischen Menschen in ein Kriegs- und Terrorgebiet machen wir uns zu Kriegsverbrechern.“ Er fragte weiter: „Haben wir eine Flüchtlingskrise oder eine gesellschaftliche und demokratische Krise? Wollen wir es wirklich zulassen, dass Menschenleben für den Wahlkampf im kommenden Jahr instrumentalisiert werden?“
Immer wieder sammelten sich Gruppen von afghanischen Arbeitern und Jugendlichen um die Reporter der WSWS, um ihrer Wut Luft zu machen. Der achtzehnjährige Safi, der mit einer Gruppe von Rostock gekommen war, sagte, er hoffe darauf, dass die Regierung ihre Abschiebepläne verändern werde, aber vor allem wollten er und seine Freunde „sich an die einfachen Leute in Deutschland wenden“. Von ihnen habe er in den letzten Monaten große Unterstützung erhalten. Er glaubt daher, die meisten Deutschen lehnten Abschiebungen ab.
Viele deutsche Jugendliche nahmen an der Demonstration teil, so auch Florian und seine Freundin, die in Rostock in einer „Flüchtlings-Willkommensinitiative“ mitarbeiten. Florian bezeichnet die geplanten Deportationen von afghanischen Flüchtlingen als „absolut fahrlässig“. Diese Menschen hätten „Unvorstellbares hinter sich, sowohl in Afghanistan als auch auf der Flucht. Trotzdem bekommen sie keine Anerkennung.“ Er habe den Eindruck, dass gar nicht mehr geprüft werde, ob eine individuelle Verfolgung vorliege, obwohl dies das Asylrecht eigentlich vorschreibe. Dabei habe sich die Lage in Afghanistan drastisch verschlechtert. „Selbst die Bundeswehr fühlt sich nicht mehr sicher in Afghanistan.“
Der IranerAlireza ist Lehrer und lebt schon fast vierzig Jahre in Deutschland. Er unterrichtet ehrenamtlich afghanische Jugendliche in der deutschen Sprache. Die Politik der Bundesregierung sei für ihn nicht nachvollziehbar: „Wer diese Menschen zwangsweise nach Afghanistan abschieben will, der sollte sich wirklich schämen.“ Er mache sich um diese Jungen Sorgen, aber fände es auch „traurig für Deutschland, denn sie könnten ein großes menschliches Kapital darstellen.“
Jamil wurde von seinem zwölfjährigen Sohn Cihan auf der Demonstration begleitet, der schon fließend Deutsch spricht. Halb erzählte er, halb übersetzte er den Bericht seines Vaters und ließ die Ausweglosigkeit vieler afghanischer Flüchtlinge erahnen.
Jamil sei als Zivilbeschäftigter für die UN in Kabul tätig gewesen. Trotz Bedrohung durch die Taliban wollte er nicht einfach seine Arbeit aufgeben, weil er für den Lebensunterhalt seiner großen Familie sorgen musste. Als sein Bruder erschossen wurde, entschloss sich Jamil doch zur Flucht mit seinen zwei älteren Söhnen. Seine Frau und die kleinen Geschwister hatte er in Kabul zurückgelassen, um sie später nachzuholen, sobald er Arbeit findet. Um aber hier seine Situation lückenlos zu belegen, fehlten ihm die Papiere. Nun fürchtet er die Abschiebung.
Auch Mortaza (19) hat ein bewegtes Schicksal hinter sich. Er stammt aus Herat und hatte als Tischler gearbeitet. Anfang 2015 flüchtete er, als in seiner Stadt heftige militärische Gefechte gegen eine Offensive der Taliban ausbrachen und viele Menschen ihr Leben verloren.
„Auch mein Vater und meine Mutter wurden getötet“, berichtete Mortaza, der noch sechs Geschwister hat. Innerhalb von drei Monaten flüchtete er von Afghanistan über Pakistan, den Iran, die Türkei, übers Meer nach Griechenland und zu Fuß bis nach Deutschland. „Ich möchte in Deutschland leben, denn in Afghanistan ist seit fünfzehn Jahren Krieg“, sagt Mortaza. Sein Traum wäre es, zu studieren und Zahnarzt zu werden.
Achmad ist seit einem Jahr in Berlin. Er beklagte sich, dass Flüchtlinge in Deutschland unterschiedlich behandelt werden. „Warum dürfen Flüchtlinge aus Syrien zur Schule gehen und ich nicht? Seit Jahren tobt ein Krieg in meinem Land, und man hat viele Soldaten nach Afghanistan geschickt. Aber es ist immer noch Krieg und die Bomben fallen. Es hat sich bis heute nichts geändert.“
Asad, der in Rostock lebt, kommt aus der Stadt Kundus. Von 2008 bis 2014 hatte er dort für die Bundeswehr als Dolmetscher gearbeitet, berichtete er der WSWS. „Obwohl alle wissen, dass die Taliban jeden verfolgen, der für die Nato oder die Bundeswehr gearbeitet hat“, dürfe nicht jeder von ihnen nach Deutschland flüchten, sagte er. Er wisse von rund fünfzig Fällen.
In der Zeit als Dolmetscher sei er durch den Norden von Afghanistan gefahren und habe viele Städte und Dörfer gesehen. „Neun von zehn Städten sind nicht sicher. Die Taliban sind sehr aktiv in den kleineren Städten und Dörfern“, sagte Asad und fügte wütend hinzu: „Wie kann die Bundesregierung behaupten, Afghanistan sei sicher. Wie sollen die Städte und Dörfer – wo die Bundeswehr sich aus Sicherheitsgründen zurückgezogen hat – für afghanische Flüchtlinge sicher sein?“
Er verwies auf die jüngsten Anschläge in Afghanistan, auf den Terror, die Armut, die zerstörte Wirtschaft und die Drogenproduktion. „Das Regime in Kabul, das sie gebildet haben, lässt die Menschen arm und ungebildet. 15 Jahre Nato in Afghanistan und was ist das Resultat? Sie sind dort alle gescheitert. Afghanistan ist ein Land, in dem sie ihre Waffen ausprobieren.“
Eine junge Frau (rechts im Bild), die mit ihrem Sohn ebenfalls aus Rostock gekommen ist, mischt sich ein: Sie habe bisher Bundeskanzlerin Merkel als „Heldin“ betrachtet, sagte sie, weil sie Kinder und Familien in Sicherheit gebracht habe. Doch sie habe den jüngsten CDU-Parteitag verfolgt und könne sich nicht erklären, wieso jetzt Afghanen abgeschoben werden sollen. Sie habe „panische Angst“, fügte sie hinzu und betonte: „Wer Menschen nach Afghanistan zurückschiebt, tötet sie.“
Der 22-jährige Student Claudius ist zur Demonstration gekommen, nachdem er am Abend zuvor einen Fernsehbericht bei Monitor gesehen hatte, in dem Reporter Teilnehmer des CDU-Parteitags zu den Abschiebungen befragte. Bekannte Politiker hätten dort erklärt, dass es sichere Regionen in Afghanistan gebe. „Das hat mich fassungslos gemacht. Schließlich ist die Bundeswehr in Afghanistan! Es ist der blanke Hohn, wenn die Politiker und die Politikerinnen das so entscheiden.“
Die geplanten Abschiebungen sieht er im Zusammenhang mit dem kommenden Wahlkampf. „Die CDU sieht ihre Wählerschaft schwinden. Die AfD kommt von rechts. Es gibt in der CDU parteiinterne Kämpfe und der rechte Flügel hat sich da wohl jetzt durchgesetzt.“
Georg S. ist seit Ende der 80er Jahre Mitglied bei Pro Asyl. „Das EU-Abkommen mit Afghanistan finde ich völlig inakzeptabel.“ Die Begründung des Bundesinnenministers de Maizière, es gebe sichere Regionen im Kriegsland Afghanistan, lehnt er ab. „Die sogenannte sichere Gegend gibt es in jedem Krieg“, betont er. „Wenn Krieg herrscht, kann man die Menschen nicht dorthin zurückschicken“.
Das Argument, das auf dem CDU-Parteitag wiederholt wurde, „man könne nicht alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen“, sei zynisch. In Wahrheit hätten arme Länder viel mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland. In der Türkei lebten schon drei Millionen, im armen Libanon zwei Millionen, die bereits zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachten, und auch Jordanien habe mehr als Deutschland aufgenommen. „Dabei prahlt die deutsche Regierung immer mit ihrer starken Wirtschaft.“
Georg ist auch grundsätzlich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Die Begründung, man müsse gegen Diktatoren wie beispielsweise Assad in Syrien eingreifen, kommentierte er mit der Bemerkung: „Die deutschen Regierungen haben immer Diktatoren unterstützt, solange sie ihnen wirtschaftlichen Nutzen brachten.“
Entsetzt ist Georg S. über den Rechtsruck in den USA bei der Präsidentenwahl und befürchtet auch hier eine rechtere Politik. „Ich bin fassungslos über die Wahl von Trump. Die älteste Demokratie, die USA, lässt einen solchen Präsidenten an die Macht kommen“, sagt er und wiederholt: „Ich bin einfach sprachlos.“
Auch in Deutschland verschlechterten sich die Lebensverhältnisse, sagt Georg. Er selbst sei Buchhalter und habe „zum Glück“ eine unbefristete Stelle, aber er kenne viele mit befristeten, schlecht bezahlten Jobs. Es sei zu befürchten, dass sich die „latente Unzufriedenheit Bahn bricht durch Unterstützung für die AfD“. Teile der demokratischen etablierten Parteien wie die CDU reagierten darauf, indem sie die rechte Politik der AfD übernehmen.
Hoffnung auf ein Bündnis wie Rot-Rot-Grün in Berlin hat Georg nicht. „In Berlin gab es mal Rot-Grün, dann Rot-Schwarz, Rot-Rot und jetzt Rot-Rot-Grün – die Farben haben sich gewechselt, aber für die Menschen hat sich nichts zum Positiven geändert.“