Diese Woche in der Russischen Revolution

28. August – 3. September: Bolschewiki erhalten großen Zulauf

Kerenskis Stern sinkt rasch. Seine Kriegsoffensive hat eine Katastrophe verursacht. Die deutsche Armee stößt vor, nimmt Riga ein und bedroht Petrograd. Seit Juli hat sich Kerenski scharf nach rechts gewandt und die Reformen der Februarrevolution wieder rückgängig gemacht. Er unterdrückt die bolschewistische Presse und hält Führer der Bolschewiki gefangen. Aber sein Versuch, auf der Moskauer Staatsberatung die konterrevolutionären Kräfte hinter sich zu bringen, endet in einer bitteren Niederlage. Nicht nur Kerenski verliert an Unterstützung, dasselbe trifft auch auf all die Opportunisten und kleinbürgerlichen Parteien zu, die sich zu seiner Verfügung gestellt haben, einschließlich der Menschewiki und Sozialrevolutionäre.

Mehr und mehr wenden sich die Eliten von Kerenski ab und Kornilow zu. Der blutrünstige zaristische General schmiedet Pläne, durch einen Militärputsch eine konterrevolutionäre Diktatur zu errichten. Inzwischen haben die Massen genug von dem abwartenden Zögern der „gemäßigten“ Sowjetführer, und zum Entsetzen der übrigen Parteien wenden sie sich immer stärker den Bolschewiki zu.

Russland, 29. (16.) August: Zentralkomitee der Bolschewiki bestätigt untergeordnete Stellung der Militärorganisation

Auf einer Sitzung bestätigt das neu gewählte Zentralkomitee der Bolschewiki die untergeordnete Stellung der Militärorganisation. Diese darf ihre Zeitung Soldat, die sie seit dem kürzlichen Verbot des Bolschewiki-Organs Rabotschi i soldat herausgibt, weiter publizieren. Aber ihrer Redaktion wird ein Zentralkomitee-Mitglied zugeordnet, das das Vetorecht über alle Publikationen innehat. Außerdem werden Jakob Swerdlow und Felix Dserschinski beauftragt, Diskussionen mit dem Büro der Militärorganisation zu führen, um die Arbeitsbeziehungen zum Zentralkomitee zu verbessern und Soldat unter Kontrolle zu halten.

Der Konflikt zwischen dem Zentralkomitee und der Militärorganisation geht auf den Juli-Aufstand zurück, in dessen Vorfeld die Zeitung der Militärorganisation sich der aufrührerischen Stimmung der Massen sehr viel zugänglicher als das Zentralkomitee erwiesen hat. Die Parteiführung hat damals von einem verfrühten Aufstand abgeraten und sich für eine vorsichtigere Politik eingesetzt. Aufgrund dieser Erfahrung versucht das Zentralkomitee, unabhängige Aktionen und Publikationen der Militärorganisation zu verhindern, und einige fordern sogar dessen Auflösung. Das Zentralkomitee geht so weit, eine Sonderkommission einzurichten, um die Rolle der Militärorganisation im Juli-Aufstand zu untersuchen. Sie wird jedoch von allen Vorwürfen freigesprochen – nicht zuletzt durch die Intervention Lenins.

Von den Auswirkungen der Juli-Niederlage hat sich die Militärorganisation wieder erholt. Trotz der Repression durch die Regierung kann sie seit Mitte August in der Petersburger Garnison gut besuchte Versammlungen organisieren, auf der sie gegen die Unterdrückung ebenso protestiert wie gegen die anhaltende Existenz der Duma und des Staatsrats.

Vertreter der Militärorganisation berichten, dass ihre Mitgliedschaft wieder wächst. Der Sekretär der Organisation vermerkt, dass der neuerliche Erfolg der Bolschewiki gerade auf die Repression der Regierung zurückgehe, und erklärt, das neue Anwachsen des bolschewistischen Einflusses sei „nicht das Ergebnis der Agitation, die immer noch schwer durchführbar ist, sondern der neuen Strafvorschriften, der Repressalien gegenüber revolutionären Soldaten und der hinhaltenden Taktik auf Seiten der ‚Vaterlandsverteidiger‘.“

(Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Essen 2012, S. 110.)

Sydney, 30. August: Streikbrecher erschießt Arbeiter während des „Großen Streiks“ von Australien

In Camperdown, im Arbeiterstadtteil Sydney Inner West, wird der Bierkutscher Mervyn Flanagan von dem Streikbrecher Reginald Wearne erschossen. Der Mord findet vor dem Hintergrund der scharfen Unterdrückung des „Großen Streiks“ durch die Regierung statt. Der Arbeitskampf hat Anfang des Monats begonnen und nimmt in New South Wales (NSW) und Viktoria, den bevölkerungsreichsten Staates des Landes, generalstreikähnliche Ausmaße an.

Der verarmte arbeitslose Flanagan (32) befindet sich mit seinem Bruder James und einer Gruppe von Streikenden auf der Bridge Road, wo sie auf Wearne und andere Streikbrecher treffen. In der folgenden Konfrontation schießt Wearne Flanagan ins Herz, und ein anderer Arbeiter, Henry Williams, erhält einen Schuss ins Bein.

Wearne ist der Bruder des konservativen Politikers Walter Wearne. Er spielt eine zentrale Rolle bei der Koordinierung von Angriffen auf Streikende. Er gehört zu einer ganzen Armee von Streikbrechern, die von der konservativen Regierung in NSW unter William Holman in ländlichen Gebieten rekrutiert werden. Sie erhalten die Bezeichnung „Bauernarmee“, und jeder dieser Streikbrecher erhält von der Regierung eine Pistole. Der Politiker schreibt nach der Schießerei an seinen Bruder und gratuliert ihm: „Du hast dich sehr gut geschlagen, und deine Familie ist sehr stolz auf dich. Der Streikende hat wohl Pech gehabt, was ich jedoch durchaus bezweifle.“

Der Streik beginnt Anfang August in den Eisenbahn- und Straßenbahnwerkstätten von Sydney. Er richtet sich gegen die Einführung von Stechkarten und die Steigerung der Arbeitshetze. Er weitet sich in wenigen Wochen rasch aus und bezieht bald 100.000 Arbeiter an der ganzen australischen Ostküste ein. Die Bewegung steht unter starkem Einfluss von Sozialisten, linken Gewerkschaftern und Kriegsgegnern. Premierminister Billy Hughes von der Nationalpartei und seine Kollegen in NSW und Viktoria verurteilen den Streik als das Werk von „Revolutionären“ und „unloyalen Elementen“, und sie ermutigen aktiv die Anwendung von Gewalt durch Streikbrecher und die Polizei.

An dem Gedächtnismarsch für Flanagan Anfang September nehmen mehrere tausend Arbeiter teil. Sie ziehen vom Gewerkschaftshaus zu einem nah gelegenen Bahnhof. Ein Teilnehmer schreibt später: „ Die weinenden Menschen, die trauernde Witwe, diese verletzten Männer, diese kleinen Baby-Gesichter haben mich sehr berührt und machen die Tragödie des Despotismus sichtbar, die unser ehrliches Land ergriffen hat und ein Opfer nach dem anderen fordert.“

Wearne wird wegen Totschlags angeklagt, aber mithilfe einer Verteidigung freigesprochen, die massiv von Großgrundbesitzern, Rechtsanwälten, Politikern und Geschäftsleuten unterstützt und finanziert wird. Stattdessen werden Flanagans Bruder und der andere verletzte Streikende Henry Williams verurteilt, weil sie Wearne gewaltsam daran gehindert hätten, „seiner legalen Beschäftigung nachzugehen“.

Flandern, 31. August: Fortsetzung des Gemetzels an der Westfront

Seit einem Monat erleiden beide Seiten tagtäglich schwere Verluste. Bei Ypern werden mehrere sinn- und ergebnislose Schlachten geschlagen, seitdem Großbritannien am 31. August die Dritte Ypernschlacht eröffnet hat.

Am 10. August hält ein deutscher Offizier fest, dass zwei Wochen nach Beginn der Schlacht die Deutschen täglich 1.500 bis 2.000 Mann verlieren. Spätere Schätzungen gehen davon aus, dass vom 22. bis 25. August die Deutschen bei erfolglosen Angriffen der Briten 3.000 Männer verloren haben. Der britische Historiker J.E. Edmonds nimmt an, dass die Briten vom 31. Juli bis zum 28. August 68.000 Kriegsopfer zu beklagen hatten, darunter 10.266 Tote.

Ein deutscher Soldat, der am 24. August mit dem 413. Württembergischen Infanterieregiment an der Front eintrifft, beschreibt die ihn umgebende Szenerie so:

Ringsum eine schreckliche Öde, in der Hölle kann es nicht trostloser aussehen. Granattrichter neben Granattrichter, fast alle bis an den Rand mit Wasser gefüllt, der ganze Boden zerfetzt. Man konnte nicht mehr unterscheiden, war hier früher Wiese oder Acker, hatte ein schön angelegter Garten das Herz erfreut oder war der Boden noch nie angepflanzt gewesen, so viele Löcher hatten die Granaten gerissen.

Eine größere britische Operation in diesem Monat ist die Schlacht von Langemarck vom 16.–18. August. Trotz anfänglicher Erfolge zwingen deutsche Gegenangriffe die 5. britische Armee zum Rückzug, und die deutsche 4. Armee behält die Kontrolle über das strategisch wichtige Gheluvelt-Plateau.

Eine französische Offensive bei Verdun am 20. August ist dagegen für die Kräfte der deutschen Armee eine große Herausforderung. Sie ist zu keinem Gegenangriff in der Lage, weil viele Divisionen zum Kampf gegen die Briten nach Ypern verlegt worden sind.

Petrograd, 2. September (20. August): Sieg der Bolschewiki in den Wahlen zur Stadtduma

In den Wahlen zur Petrograder Stadtduma gewinnen die Bolschewiki 33 Prozent der Stimmen, gegenüber 20 Prozent im Mai, bei im Ganzen rund 550.000 Stimmen. Dieser Erfolg ist umso bemerkenswerter, als die Presseorgane der Bolschewiki nach wie vor unterdrückt werden, viele Parteiführer im Gefängnis sitzen und Lenin sich verstecken muss. Aber der neue Aufschwung für die Bolschewiki erfolgt nicht nur trotz der Repression, sondern teilweise gerade wegen ihr. Seit Lenins Rückkehr nach Russland und den April-Thesen stehen die Bolschewiki für die beständigste und unversöhnlichste Feindschaft gegen die Provisorische Regierung und ihre Politik.

Vor den Wahlen bringt die bolschewistische Zeitung Proletari einen ausführlichen Wahlaufruf, in dem es heißt:

Jeder Arbeiter, Bauer und Soldat muss für unsre Liste allein stimmen, weil nur diese Liste, nur unsere Partei unerschütterlich und mutig gegen die wütende konterrevolutionäre Diktatur der Bourgeoisie und Großgrundbesitzer kämpft. [Nur unsere Partei] kämpft gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe, die Zerstörung der Arbeiter- und Soldatenorganisationen und die Unterdrückung sämtlicher Freiheiten, die mit dem Blut und Schweiß des Volks errungen wurden.

Ihr müsst für unsere Partei stimmen, weil nur sie mutig mit den Bauern gegen die Großgrundbesitzer kämpft, mit den Arbeitern gegen die Fabrikbesitzer, mit den Unterdrückten überall gegen die Unterdrücker. Nur unsere Partei setzt sich entschieden und mutig für das schnellstmögliche Ende des Kriegs ein, für den Friedenschluss der Völker, für die Übergabe des Landes an die Bauern und für die Einführung von Arbeiterkontrolle über die Produktion … Wir allein sagen: wir müssen eine neue Umgebung für die Menschen schaffen … Es muss den Menschen, allen Menschen, möglich sein, in sauberen, sicheren und wohl unterhaltenen Straßen zu leben.

Genossen Arbeiter, Soldaten und Bauern, versteht, dass die Frage des städtischen Wohlergehens eng mit der Frage von Russlands Wohlergehen verbunden ist. Petrograds Versorgungsproblem, seine Finanzprobleme und anderen Probleme können nicht gelöst werden, ohne dass diese Probleme für ganz Russland gelöst werden. Versteht das und stimmt nur für die Partei, die dafür kämpft, dass all diese Probleme gelöst werden, die für die Arbeiter, Soldaten und armen Bauern kämpft. Jeder, der gegen die Todesstrafe ist, und der Schießereien, Chaos und Verhaftungen ablehnt, jeder, der für die Revolution und gegen die Konterrevolution ist – muss für Liste 6 stimmen.

Zu den Bezirksduma-Wahlen im nahegelegenen Peterhof heißt es im bolschewistischen Wahlaufruf:

Die Bolschewiki sind die einzige Partei, die nicht mit den Volksfeinden zusammenarbeiten und jene ablehnen, für welche die „Rettung der Revolution“ in Kosakenpeitschen liegt. Zeigt mit eurer Stimme, dass das Einkerkern und die Schließung von Zeitungen den linken Flügel der revolutionären Demokratie nicht töten können. Jeder muss eine Stimme für Liste 2 in die Urne legen …

Denn sie sind die einzigen, die sich einsetzen, nicht nur in Worten, sondern auch in Taten

GEGEN

die Todesstrafe für Soldaten
den Aggressionskrieg
die kapitalistische Plünderung

FÜR

die Machtübertragung auf die Arbeiter und armen Bauern
die sofortige Konfiszierung des Landes
die Einrichtung von Arbeiterkontrolle über die Produktion
die Beschränkung des kapitalistischen Profits

(Michael C.Hickey, „Fighting Words: Fighting Voices From the Russian Revolution“, 2011, S. 380–381, aus dem Englischen.)

Die Unterstützung der Massen wächst, und die Bolschewiki werden immer stärker. In seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ erzählt Trotzki von einer Szene im Petrograder Sowjet am 31. August (18. August, greg. Kalender). Auf der Tagesordnung steht die erneute Abschaffung der Todesstrafe in der Armee, nachdem die Kerenski-Regierung diese vor kurzem wiedereingeführt hat.

Vor der Abstimmung über die Resolution fragt Zeretelli herausfordernd: „Und wenn eurem Beschluss die Abschaffung der Todesstrafe nicht folgen wird, werdet ihr etwa die Menge auf die Straße rufen, um den Sturz der Regierung zu fordern?“ – „Ja“, rufen als Antwort die Bolschewiki, „ja, wir werden die Menge aufrufen und werden den Sturz der Regierung herbeizuführen suchen.“ – „Ihr tragt jetzt den Kopf hoch“, sagt Zeretelli. Die Bolschewiki trugen mit den Massen den Kopf hoch. Die Versöhnler ließen den Kopf hängen, wenn die Massen ihn erhoben. Die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe wird mit allen Stimmen, etwa 900, gegen vier Stimmen angenommen. Diese vier sind: [die Menschewiki] Zeretelli, Tschcheïdse, Dan, Liber! Vier Tage später, auf dem Vereinigungskongress der Menschewiki und der ihnen nahestehenden Gruppen, wo, bei Opposition Martows, in den grundlegenden Fragen Zeretellis Resolutionen durchgingen, wurde die Forderung nach sofortiger Abschaffung der Todesstrafe ohne Debatte angenommen: Zeretelli schwieg, bereits ohnmächtig, sich dem Ansturm zu widersetzen.

(Leo Trotzki, „Geschichte der Russischen Revolution“, Bd. 2, Essen 2010, S. 165.)

Washington D.C., 1. September: US-Senat lehnt Steuern auf Kriegsprofite ab

Ein Zusatz zu einem Gesetz zur Billigung von Kriegskrediten soll eine Sondersteuer von 72 Prozent für übermäßige Kriegsprofite der großen US-Konzerne einführen. Der Zusatzantrag des kalifornischen Senators Hiram Johnson wird im US-Senat mit großer Mehrheit (62 zu 17) abgeschmettert. Auch den Vorschlägen anderer Senatoren für geringere Steuersätze werden keine Chancen eingeräumt. Um die Wirkungslosigkeit auch der geringfügigsten Steuerpläne sicherzustellen, schlagen die Verfasser des Steuergesetzes Geldstrafen von kümmerlichen zwanzig bis eintausend Dollar für die Steuerhinterziehung von Unternehmen vor.

Der Republikanische Senator Robert La Follette aus Wisconsin warnt die amerikanische herrschende Klasse im Plenum des Senats vor den Gefahren einer Kriegspolitik, die nicht „alle gleich belastet“.

Es würde unsere heutige Zivilisation beschädigen, wenn wir zulassen würden, dass eine Klasse unserer Bürger, und zwar eine relativ kleine Klasse, sich enorm am Krieg bereichert, während die andere, viel größere Klasse durch den Krieg verarmt … Sorgen wir im Namen des Anstands dafür, dass die Strafen für Steuerhinterziehung genauso hart sind, wie die für die Flucht vor der Wehrpflicht.

Ostfront, 1.-3. September ( In der Schlacht von Riga durchbrechen deutsche Truppen die russischen Linien

Am 1. September (19. August) führen die deutschen Truppen einen Überraschungsangriff im heutigen Lettland, überqueren die Düna und schließen Riga ein. Die russischen Truppen in der Region bilden die letzten Verteidigungslinien auf dem Weg nach Petrograd.

Dem Angriff über die Düna in der Region Uexküll (heute: Ikšķile, Ort landeinwärts von Riga) geht ein plötzlicher, heftiger Artilleriebeschuss voraus. Fast 1200 deutsche Geschütze stehen 66 russischen gegenüber. Gleichzeitig fahren deutsche Kriegsschiffe in den Golf von Riga ein. Die russische Seite wird vollkommen unvorbereitet erwischt. Die Kommunikation bricht zusammen, und notwendiger Nachschub bleibt aus. Soldaten und Matrosen spüren die Gefahr für Petrograd und kämpfen verzweifelt. Einige Einheiten sind mit ungünstigsten Bedingungen konfrontiert und erleiden schreckliche Verluste. Unter Einsatz von Flugzeugen, Giftgas und Flammenwerfern durchstoßen deutsche Kräfte in mehreren schnellen taktischen Manövern die zweite Verteidigungslinie.

Kornilow begrüßt den Fall von Riga, weil er seinen verräterischen Plänen entgegenkommt, sich selbst als militärischen Diktator in Petrograd zu etablieren. „Zur Durchführung des Marsches auf Petrograd brauchte Kornilow die Übergabe Rigas …“, wird Trotzki später schreiben. “Die Rigaer Positionen verstärken, ernste Verteidigungsmaßnahmen treffen, hätte bedeutet, den Plan einer anderen, für Kornilow unermesslich wichtigeren Kampagne zu stören.“ Am selben Tag, an dem die deutsche Armee ihren Angriff auf Riga durchführt, schickt Kornilow ein Telegramm an Kerenski: „Erkläre dringend für notwendig, den Petrograer Bezirk mir zu unterstellen.“

Gleichzeitig macht Kornilow ein „Nest“ bolschewistischer Propagandisten und „deutscher Spione“ in der Armee für den Fall von Riga verantwortlich. Als Reaktion auf die Niederlage erteilt Kornilow den Offizieren telegrafisch den Befehl, willkürlich einige Soldaten wegen allgemeiner Feigheit als warnendes Exempel am Straßenrand zu erschießen. Dabei haben sich die Soldaten tapfer geschlagen. Selbst Kornilows führende Offiziere protestieren gegen diesen Befehl. Kornilow droht in einem Wutanfall, seine eigenen Offiziere wegen Befehlsverweigerung vors Kriegsgericht zu stellen.

Russische Kräfte erleiden Verluste in Höhe von etwa 25.000 Mann. Die deutschen Verluste werden mit 5.000 Mann angegeben. Wegen des Durchbruchs der Deutschen wird ein genereller Befehl zur Evakuierung der Region gegeben. Nach heftigem Beschuss fällt Riga am 3. September an die 8. deutsche Armee unter dem Kommando von General Oskar von Hutier. Die russische 12. Armee kann zwar der Einkreisung entgegen, aber der Weg nach Petrograd ist jetzt offen. Die russischen Eliten und ihre imperialistischen Verbündeten diskutieren inzwischen darüber, ob es nicht besser sei, Petrograd den Deutschen zu überlassen, die Regierung nach Moskau zu verlegen und es dem deutschen Kaiser zu überlassen, mit den unruhestiftenden Arbeitern und ihren Sowjets fertig zu werden.

Königsberg (heute: Kaliningrad), 2. September: Gründung der Deutschen Vaterlandspartei

In Königsberg wird die rechtsextreme Deutsche Vaterlandspartei gegründet.

In den führenden Zirkeln der Heeres- und Marineführung, der Konzernzentralen und Staatsverwaltung wachsen den ganzen Sommer 1917 Ärger und Wut über die zunehmend rebellische Opposition in der Bevölkerung gegen Krieg und die „lasche Haltung“ der Reichsregierung ihr gegenüber. Die drohende Gefahr einer Ausweitung der proletarischen Revolution von Russland auf Deutschland treibt sie zum Handeln.

Den letzten Anstoß zur Gründung einer eigenen Partei hat die von der Reichstagmehrheit im Juli beschlossene Friedensresolution gegeben. Nicht wegen ihres Inhalts, der völlig nichtssagend ist, sondern weil sie „unter dem Druck der Straße“ zustande gekommen ist.

Wochenlang haben seither Admiral Alfred von Tirpitz und Wirtschaftskapitäne wie Carl Duisberg (Bayer AG, IG Farben) in der nationalistischen und patriotischen Presse gegen den in der Resolution geforderten „Verständigungsfrieden“ gehetzt, ihn als „Verzichtfrieden“ oder „Judenfrieden“ denunziert und gegen „Schlappheit“ und „Verrat“ an der „Heimatfront“ gewettert. Um jeden Preis soll stattdessen ein „Siegfrieden“ mit weitest gehenden Annexionen erreicht werden. Dazu gehören:

• Die Annexion Belgiens
• Die Annexion des Erzbeckens von Briey und Longwy in Frankreich
• Die Annexion der französischen Kanalküste unter Einschluss der Normandie
• Die Annexion Luxemburgs
• Eine Unterwerfung der Niederlande unter die deutsche Politik (bis hin zur Annexion)
• Ein geschlossenes Kolonialreich in Afrika unter Einschluss Belgisch-Kongos
• Die Schaffung eines von Deutschland abhängigen polnischen Staates
• Annexion der russischen Ostseegouvernements und Litauens (und eine umfassende „Germanisierung“ dieser Gebiete)
• Die Annexion von Teilen des westlichen Weißrusslands und der westlichen Ukraine
• „Freiheit der Meere“ – in dem Sinne, dass die deutsche Flotte in der Lage sein müsse, weltweit „deutsche Interessen“ zu sichern
• Die Abtretung von Gibraltar und Zypern durch Großbritannien
• Zahlung gewaltiger Entschädigungssummen durch die Feindmächte

Die Parteigründer fordern die Einführung der Diktatur eines „starken Mannes“ und die Auflösung des Reichstags, weil dieser das Parteiinteresse über das Wohl des Vaterlands stelle. Statt einer Zusammenarbeit von Militär mit Regierung mit Gewerkschaften und SPD im Rahmen des „Burgfriedens“ wollen sie ein „rücksichtsloses militärisches Eingreifen“ gegen Protestdemonstrationen, Streiks und Versammlungen der Arbeiterklasse. Sogar Kaiser Wilhelm II. ist ihnen zu nachgiebig. Sie würden eine Person wie den militaristischen Kronprinzen oder den Generalfeldmarschall von Hindenburg bevorzugen.

Antisemitismus, extremer Nationalismus und völkische Ideologie gehören selbstverständlich zu ihrem Waffenarsenal. Damit wollen sie eine außer- und antiparlamentarische Massenbewegung als soziale Basis einer Diktatur gegen die Arbeiterklasse aufbauen.

Als Vorsitzende werden gewählt: Admiral Alfred von Tirpitz und der Verwaltungsbeamte Wolfgang Kapp, der drei Jahre später den nach ihm benannten Putsch gegen die Republik organisieren wird. Den Ehrenvorsitz erhält Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg.

Der Partei gehören praktisch alle führenden Industriellen an wie Max Roetger (ehemals Krupp, dann Interessenvertreter der Industrie), Carl Duisberg (Bayer AG, IG Farben), Wilhelm von Siemens, Carl Ziese (Werftindustrie), Ernst von Borsig (Metallindustrie), Hugo Stinnes (Bergbau- und Elektroindustrie), Emil Kirdorf (Montanindustrie), Alfred Hugenberg (Medien), Freiherr von Wangenheim (Landwirtschafts- und Gutsbesitzervertreter), Johann Christian Eberle (Sparkassen) und Hermann Röchling (Völklinger Hütte). Dem kurz darauf gegründeten bayerischen Landesverband gehören der Schriftsteller Ludwig Thoma und Cosima Wagner, die Witwe von Richard Wagner an.

Hauptgeldgeber der neuen Partei sind die Kapitäne der Schwerindustrie. Dennoch hat die Partei kaum mehr als ein Jahr Bestand. Sie zerbricht in den Tagen der Novemberrevolution 1918–1919, doch werden aus ihr viele Befehlshaber und Angehörige der konterrevolutionären Freikorps-Truppen und auch viele der ersten Mitglieder der NSDAP hervorgehen.

England, 3. September: Fast 150 Menschen bei Luftangriffen getötet

Nachts um halb elf beginnen die Angriffe von Gotha-Bombern auf Chatham, Sheerness und Umgebung. Dabei kommen mindestens 131 Seeleute und Soldaten ums Leben und 90 werden verletzt. Offizielle Regierungsquellen berichten über nur ein ziviles Opfer, andere Quellen erwähnen bis zu zwanzig.

Die Deutschen haben ihre Strategie auf Nachtangriffe verlagert, um der britischen Luftverteidigung zu entgehen. Es ist das erste Mal, dass Gotha-Bomber Nachtangriffe fliegen. Ein weiterer Angriff in der folgenden Nacht auf London wird 16 Zivilisten töten. Die britische Luftverteidigung agiert erratisch. Zwar schießt sie einige deutsche Flugzeuge ab, aber Berichten zufolge werden bis Ende September durch herabfallende Schrappnel von dem britischen Abwehrfeuer auch acht Menschen am Boden getötet und über sechzig verletzt.

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