In einem Prozess, der letzte Woche vor dem Oberlandesgericht Celle begann, sind neue Hinweise aufgetaucht, dass ein bezahlter Informant des Landeskriminalamts (LKA) Nordrhein-Westfalen am Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt beteiligt war, der am 19. Dezember 2016 zwölf Todesopfer und 50 Verletzte forderte.
In Celle stehen Ahmad A., genannt Abu Walaa, und vier seiner Anhänger vor Gericht. Der Gruppe wird von der Bundesanwaltschaft vorgeworfen, einer terroristischen Vereinigung angehört und junge Muslime für den Islamischen Staat angeworben zu haben. Mehr als ein Dutzend Männer sollen mit ihrer Unterstützung in den Irak und nach Syrien gereist sein, um dort für den IS zu kämpfen.
Der 23-jährige Anis Amri, der den Lastwagen auf dem Breitscheidplatz in die Menge steuerte, hatte sich vor dem Attentat im Umfeld des salafistischen Predigers Abu Walaa aufgehalten. Zwei der Angeklagten, Hasan C. und Boban S., hatten ihm zeitweise Unterkunft gewährt.
Walaa und seine mutmaßlichen Komplizen waren bereits einen Monat vor dem Attentat, im November 2016 verhaftet worden, nicht aber Amri, der auf freiem Fuß blieb. Die Anklage gegen Walaa stützt sich auf die Aussagen eines IS-Aussteigers und auf die Berichte eines Informanten der Polizei, der vom LKA als „VP 01“ geführt wird und den Decknamen „Murat“ trägt.
Eine Zeugenaussage, die im Prozess bekannt wurde, legt nun nahe, dass „Murat“ als Agent Provocateur handelte und aktiv dafür warb, Anschläge in Deutschland zu verüben. Es ist sogar möglich, dass er Amri zu dem Anschlag anstiftete und ihn überzeugte, Deutschland nicht – wie ursprünglich geplant – zu verlassen, um sich dem Islamischen Staat im Nahen Osten anzuschließen.
Laut Süddeutscher Zeitung, der die Zeugenaussage vorliegt, meldete sich zwei Tage nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt ein Mann bei der Polizei in Duisburg, um Angaben zum Attentäter zu machen. Er nannte der Polizei den Namen Amris, nach dem zu dieser Zeit mit Bildern gefahndet wurde. Der Zeuge gab an, den Flüchtigen Ende 2015 am Bahnhof in Duisburg kennengelernt zu haben. Sie hätten gemeinsam in Gebetsräumen in Duisburg und Dortmund gebetet, der Kontakt sei im Februar 2016 abgebrochen.
Weiter berichtete der Zeuge, Amri sei dann nach Berlin gezogen. Gefahren habe „ihn ein Mann namens Murat, in einem Pkw mit Leverkusener Kennzeichen“. „Gegen diesen Murat müsse dringend ermittelt werden, er sei radikal“, zitiert ihn die Süddeutsche Zeitung. „Er habe immer wieder gesagt, dass man Anschläge in Deutschland verüben solle, dass man gute Männer brauche, die dazu in der Lage seien.“ Aufgrund des Verhaltens von „Murat“ hatte der Zeuge auch den Verdacht geäußert, dass dieser für die Polizei arbeite.
Dass Amri von einem V-Mann nach Berlin gefahren wurde, ist seit längerem bekannt, nicht aber dessen Rolle als möglicher Provokateur. Inzwischen weiß man, dass der LKA-Spitzel „Murat“ eineinhalb Jahre aus der Islamisten-Szene berichtete, zum Schluss auch aus der Gruppe um Abu Walaa. Dort hatte er offenbar Kontakt zu Anis Amri aufgenommen.
Der Strafverteidiger Walaas, Rechtsanwalt Peter Krieger, forderte nach der Anklageverlesung der Bundesanwaltschaft, dass die Rolle des LKA-Informanten „Murat“ näher beleuchtet wird. Dieser habe nicht nur berichtet, sondern womöglich selbst zu Anschlägen angestiftet.
Laut „Murats“ Bericht hatte die Gruppe um Walaa zunächst Amris Ausreise zum IS vorbereitet. Später berichtete „Murat“ dann der Polizei von Anschlagsplänen Amris in Deutschland. Die Verteidigung Walaas stellt nun die Frage, ob dieser Sinneswandel womöglich mit dem V-Mann selbst zu tun habe. Mit anderen Worten: Hat ein V-Mann in der Islamisten-Szene Anis Amri zu seinem mörderischen Anschlag bewogen?
Es ist bereits bekannt, dass die Polizei- und Geheimdienstbehörden Amri gewähren ließen, obwohl er seit seiner Einreise nach Deutschland im Sommer 2015 unter ihrer ständigen Beobachtung stand. Er war ihnen unter 14 verschiedenen Identitäten bekannt, sein Handy wurde überwacht, er selbst observiert. Doch dann beendete das nordrhein-westfälische LKA die Observierung Amris angeblich am 25. Mai 2016 und das Berliner LKA am 21. September 2016.
Die Polizei hätte Amri mehrmals verhaften können, wenn sie gewollt hätte. So Anfang 2016 wegen bandenmäßigen Drogenhandels in Berlin und Mitte Juli 2016 wegen der Beteiligung an einem Überfall auf eine Shisha-Bar in Berlin-Neukölln. Nach Amris Anschlag fälschte das LKA Berlin dann Akten, um die unterlassene Festnahme zu vertuschen.
Am 30. Juli wurde Amri sogar verhaftet – in einem Fernbus an der Grenze zur Schweiz, weil man bei ihm gefälschte Ausweisdokumente sowie Drogen fand. Nach zwei Tagen wurde er aber nach Rücksprache mit der Ausländerbehörde des Kreises Kleve und dem NRW-Innenministerium wieder aus der Justizvollzugsanstalt Ravensburg entlassen.
Auch andere Verfahren gegen Amri wurden fallengelassen, so z. B. ein Verfahren wegen Sozialbetrugs bei der Staatsanwaltschaft Duisburg. Wie der Spiegel in seiner vorletzten Ausgabe berichtete, wurde Amri sogar gewarnt, er werde überwacht. Laut dem Spiegel vorliegenden Akten hatte eine Mitarbeiterin der Stadt Oberhausen den späteren Attentäter im März 2016 gewarnt, er solle aufpassen, das LKA verdächtige ihn, Leistungen zu erschleichen. Der Hinweis in den Akten stammt von „Murat“, der Amri auf das Amt begleitet hatte.
Amri war auch siebenmal Thema im „Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum“ (GTAZ), in dem Vertreter von über 40 Sicherheitsbehörden Erkenntnisse austauschen und ihr Vorgehen koordinieren. Zuletzt befasste sich das GTAZ am 2. November 2016 mit Amri, keine sechs Wochen vor dem Anschlag. Obwohl die versammelten Polizeibeamten und Geheimdienstler immer wieder zur Auffassung gelangten, dass er als „Gefährder“ oder sogar als „Terrorist“ einzustufen sei, soll angeblich nie eine „konkrete Gefährdung“ erkennbar gewesen sein.
Selbst als Abu Walaa und seine Komplizen aufgrund der Aussagen von „Murat“ verhaftet wurden, blieb Amri auf freiem Fuß. Einen Monat später verübte er dann das Attentat in Berlin.
Trotz der Schlüsselrolle, die der V-Mann „Murat“ im Fall Amri und Abu Walaa spielte, ist es fraglich, ob er jemals vor Gericht befragt werden kann. Aus Sicherheitsgründen könnte er von den Behörden als Zeuge gesperrt werden. Als Mittäter wird er bislang nicht geführt.
Hier zeigt sich dasselbe Muster wie im Münchner Prozess gegen den rechtsterroristischen NSU, der zehn Morde und mehrere Attentate und Banküberfälle verübt hat. Auch hier erhielten zahlreiche V-Leute der Sicherheitsbehörden, deren Nähe zum NSU auf eine Beteiligung des Staats hindeuten, keine Aussagegenehmigung.
Fasst man die bisherigen Erkenntnisse zum Fall Amri zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Ein tunesischer Kleinkrimineller gerät in die salafistische Szene, radikalisiert sich dort und entscheidet sich, für den IS zu kämpfen, zunächst im Irak oder in Syrien – alles unter den Augen der Geheimdienst- und Polizeibehörden. Mehrere Gelegenheiten, ihn zu verhaften oder abzuschieben, werden sabotiert oder zumindest nicht genutzt. Später plant Amri einen Terroranschlag in Deutschland, womöglich auf Anraten eines V-Manns. Nun wird seine Überwachung eingestellt. Während sein Umfeld verhaftet wird, bleibt er auf freiem Fuß und kann seinen tödlichen Anschlag ausführen.
Der Fall Amri folgt einem internationalen Muster. Auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA, die Anschläge in Paris (2015) und in Brüssel (2016) wurden von Tätern ausgeführt, die den staatlichen Sicherheitskräften seit langem bekannt waren und von diesen überwacht wurden.
Die Anschläge wurden jeweils genutzt, um den Staatsapparat zu stärken und Flüchtlingsgesetze zu verschärfen. Das war auch nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt so. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) reagierte nur zwei Wochen später mit der Forderung nach einer Umstrukturierung und Zentralisierung des Sicherheitsapparats.