Die „MeToo-Kampagne“ hat Deutschland erreicht. Die Ausgabe der Zeit der letzten Woche beschuldigt den bekannten Fernsehregisseur Dieter Wedel (75), Schauspielerinnen sexuell belästigt und sogar gewaltsam zu Geschlechtsverkehr gezwungen zu haben.
Das Zeit-Magazin breitet auf quälenden zwanzig Seiten die Schilderungen von ehemaligen, teils anonymen Schauspielerinnen aus, die sich angeblich an schlimme sexuelle Vergehen Wedels vor über zwanzig Jahren erinnern. Zahlreiche Stellungnahmen von Zeit-Mitarbeitern am Ende des subjektiv gefärbten Berichts fordern, die MeToo-Kampagne auch in Deutschland auszuweiten und zu einer „Massenbewegung“ zu machen.
Anfang Oktober letzten Jahres hatte die New York Times die Kampagne mit Missbrauchsvorwürfen gegen den Hollywood-Filmproduzenten Harvey Weinstein losgetreten. Inzwischen nimmt die Hexenjagd wegen „sexueller Belästigung“ hysterische Formen an und sucht sich immer neue Opfer vor allem in der Kultur- und Medienbranche. Neben Harvey Weinstein gerieten anerkannte Künstler wie der Musikdirektor der Metropolitan Opera in New York, James Levine, oder die Schauspieler Dustin Hoffman, Kevin Spacey und Geoffrey Rosh ins Visier; auch der demokratische US-Senator Al Franken wurde öffentlich stigmatisiert und ist inzwischen zurückgetreten.
In Deutschland blieb es bisher relativ still. Volker Schlöndorff wies die Anschuldigungen gegen Dustin Hoffman seitens einer ehemaligen Praktikantin, die sich auf einen angeblichen Vorfall im Jahr 1985 (!) bezogen, schon im November als „lächerliche Anklage“ zurück.
Die Zeit will dies nun unbedingt ändern. Die der SPD nahestehende Wochenzeitung hat Redakteurinnen und Redakteure ausgesandt, um möglichst viel Schmutz über den Regisseur und Theatermann Dieter Wedel zusammenzutragen. Nicht nur veranlasste sie die ehemaligen Schauspielerinnen Jana Tempel und Patricia Thielemann sowie eine anonyme „Zeugin“ dazu, möglichst ausführlich über schlüpfrige Details zu berichten und ihre über die Jahre verblassten Emotionen aufzufrischen. Ihre Redakteure spielten auch aktiv die Rolle des Ermittlers.
Sie befragten Freunde, Bekannte und Casting-Agenten, die aus jener Zeit aufzutreiben sind –eine Casting-Agentin war im Monat vor der Zeit-Recherche verstorben –, und eine Psychotherapeutin, bei der Jana Tempel in Behandlung war. Sie sammelten Statements und sogar Kalendereinträge, die die Mutter des damaligen Lebensgefährten von Tempel über die Treffen mit Dieter Wedel gemacht hatte. Die Zeit hat sich diese Recherche sicher einiges kosten lassen.
Dieter Wedel hat die Beschuldigungen in einer eidesstattlichen Erklärung zurückgewiesen. Weder habe er, wie von Tempel behauptet, sie bei einem Casting-Gespräch im Hotelzimmer „im Bademantel“ empfangen. Dieser Frau gegenüber „war ich definitiv nie gewalttätig, ich habe sie nicht ‚gepackt‘, ‚an die Wand gepresst‘ und auch nicht ‚mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr‘ gezwungen“, erklärt er. Ebenso lehnt er die Schilderung von Thielemann ab, er habe sich 1991 beim Vorsprechen in seiner Hamburger Hotelsuite „auf sie gestürzt, ihr die Bluse aufgerissen und sie auf die Couch geworfen“.
Der Regisseur ist für seine sexuellen Eskapaden bekannt. Er selbst macht keinen Hehl daraus und prahlt in seiner Autobiographie von erotischen Szenen mit Schauspielerinnen. Er hat sechs Kinder von sechs Frauen, darunter von Hannelore Elsner, und führte lange eine Dreiecksbeziehung. Man muss solche Dinge nicht gut finden – sie sind aber seine Privatsache, solange er nicht Straftaten begeht, die gerichtlich geahndet werden müssen. Die interviewten ehemaligen Schauspielerinnen haben aber derartige Vergehen nie angezeigt.
Doch die Zeit wischt jeden demokratischen Grundsatz beiseite. Ohne Anklage oder Gerichtsverhandlung stellt sie, wie im finstersten Mittelalter, einen anerkannten Regisseur öffentlich an den Pranger, der für seine Fernsehserien Auszeichnungen wie den Grimme-Preis, die Goldene Kamera und Bambi erhielt und seit vielen Jahren die Theaterfestspiele Bad Hersfeld leitet.
Die Unschuldsvermutung, die jedem mutmaßlichem Schwerverbrecher bis zur Urteilsfindung zusteht, kümmert die Zeit ebenso wenig wie Verjährungsfristen. Immerhin handelt es sich um angebliche Vorfälle aus den 90er Jahren, die somit weit über zwanzig Jahre zurückliegen.
Die Bemühung, MeToo hierzulande in Schwung zu bringen, erhält vor allem Unterstützung in Kreisen der Kultur- und Unterhaltungsbranche, in Medien, Politik und unter Akademikern. Sogar liberalere Kommentatoren wie Heribert Prantl lassen sich davon beeindrucken, der am 22. Dezember in der Süddeutschen Zeitung allen Ernstes die biblische Mutter Maria, die „nicht die demütige heilige Hausfrau“ gewesen sei, als Beispiel anführte für „den Mut der Frauen, die sich heute unter MeToo outen“.
„Klima einer totalitären Gesellschaft“
Es regt sich jedoch auch immer mehr Widerstand. Bekannte Schauspielerinnen wie Jutta Speidel und Sonja Kirchberger stellen sich hinter Dieter Wedel. Kirchberger beschreibt den 75-jährigen Regisseur als „Frauenliebhaber“, dem „das weibliche Geschlecht jedoch ebenso wenig abgeneigt“ sei. Am Set hätten sich Frauen „bisweilen äußerst aggressiv an ihn rangemacht“, so Kirchberger gegenüber Bild. „Die standen Schlange – und es waren viele namhafte Schauspielerinnen dabei.“
Jutta Speidel erklärte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Ich finde, ‚Me Too‘ ist ein schwieriges Thema.“ Vergewaltigung und Belästigungen seien nicht zu entschuldigen, aber es müsse einem als Frau schon klar sein, „dass es falsch ist, eine Rolle über das Bett zu bekommen. Und Racheakte 20 Jahre später, wie jetzt bei Dieter Wedel, finde ich auch grenzwertig.“
Tagesspiegel-Redakteur Jost Müller-Neuhof fragt, ob nun die Filme von Wedel „auf den Index kommen“, und klagt, dass Anekdoten, die „ein hässliches Bild vervollständigen ... bei vielen für den Schuldspruch“ reichen. Hier würden „Charakterzüge statt Tatbestände verhandelt“, mit dem Unterschied, „dass ein Urteil nicht begründet werden muss, dass Richter fehlen und statt des Staatsanwalts die Opfer anklagen, während das Publikum die Strafe vollstreckt“.
Auch die Kriminologin Monika Frommel verurteilt in einem Artikel auf Legal Tribune Online („Die Vermarktung von Empörung“) die MeToo-Kampagne gegen Wedel. Hier würde „nicht mehr zwischen beweisbaren und erfundenen Geschichten“ unterschieden. Dass dabei „rechtsstaatliche Grundsätze wie die Unschuldsvermutung nicht nur jede Bedeutung verlieren, sondern geradezu in ihr Gegenteil, zur ‚Schuldvermutung‘ verkehrt werden, das ist leider evident“, so die Professorin, deren Arbeitsschwerpunkt die Kriminologie aus feministischer Perspektive, besonders das Sexualstrafrecht und seine Reformen, ist. Die Leidtragenden seien „echte, schwer geschädigte Opfer“.
Am Dienstag erschien in der französischen Le Monde eine Erklärung von rund hundert Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen um die berühmte Schauspielerin Catherine Deneuve und die französische Schriftstellerin Catherine Millet, die vor einem „Klima einer totalitären Gesellschaft“ in der MeToo-Debatte warnen. „Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Aber hartnäckiges oder ungeschicktes Flirten ist kein Delikt, und eine Galanterie auch keine chauvinistische Aggression“, heißt es in dem Gastbeitrag, der in kürzester Zeit nicht nur in den sozialen Medien Frankreichs, sondern auch in Deutschland riesige Unterstützung erhielt.
MeToo habe eine „Kampagne der Denunziation und öffentlichen Anschuldigungen“ ausgelöst und die Beschuldigten auf eine Stufe mit sexuellen Aggressoren gestellt, ohne dass diese sich verteidigen können. „Dieses Fieber, die ‚Schweine‘ zur Schlachtbank zu führen (...), dient in Wahrheit den Interessen der Feinde sexueller Freiheit, der religiösen Extremisten, der schlimmsten Reaktionäre ...“, schreiben die Autorinnen auf Le Monde.
Protest der oberen Zehntausend für mehr Macht und Einfluss
Die deutsche MeToo-Debatte wird nicht zufällig von einem SPD-nahen Magazin forciert. Es ist vor allem die SPD, die nach ihrer krachenden Wahlniederlage diese Kampagne aufgegriffen hat. Schon im letzten Oktober erklärten die ehemalige Arbeitsministerin Andrea Nahles und Familienministerin Katarina Barley öffentlich, MeToo sei „immens wichtig“.
„Bei Übergriffen wie Hand aufs Knie legen, sollten wir juristisch schärfer werden“, so Barley am 22. Oktober auf Zeit online. Als solche Taten wie „Hand aufs Knie“ jedoch nicht die erhoffte öffentliche Empörung auslösten, hakte Barley nach. In einem Interview mit der taz am 28. November beklagt sie die „nachsichtigere Mentalität“ in Deutschland und schwärmt von Schweden, wo es MeToo-Demonstrationen gegeben habe und die Gleichstellung schon weiter sei als in Deutschland.
„Schauen Sie sich nur mal die Regierung dort an, die Hälfte der Ministerien ist in weiblicher Hand. In der Wirtschaft sind Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen dort eine Selbstverständlichkeit.“ Wenn Frauen mehr Führungsfunktionen hätten, sei man für Themen wie MeToo „sensibler“. Und Barley fasst zusammen: „Ich denke, wir müssen den Sprung über das Voyeuristische hinaus schaffen. Wer hat wann was getan – am Ende geht es nicht um eine Hand auf einem Knie, sondern es geht um Macht.“
In der Tat: Der SPD geht es nicht um Rechte für Frauen, auch nicht um Schutz vor sexueller Gewalt. Die Partei der Agenda 2010 und Hartz-Gesetze hat Hunderttausende Frauen in Billiglohnjobs und Teilzeitarbeit gedrängt und die Altersarmut für Frauen massiv erhöht. Dass es heute Frauen gibt, die ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können und auf der Straße leben, wo sie tatsächlich sexueller Gewalt ausgesetzt sind, kümmert diese Partei schon lange nicht mehr.
Sicher gibt es Verwirrung über die MeToo-Kampagne, weil sie im Gewand von mehr Frauenrechten daher kommt. Doch ist dies genauso verlogen, wie die einstige Behauptung von SPD und Grünen, der Bundeswehreinsatz in Afghanistan diene Menschenrechten und dem Bau von Schulen für afghanische Mädchen.
Das Kriegselend, das in diesem und anderen Ländern, in denen die Bundeswehr mittlerweile aktiv ist, Hunderttausende Frauen in die Flucht und in den Tod getrieben hat, kümmert die MeToo-Inquisitorinnen in der Zeit-Redaktion und der SPD allerdings nicht, ebenso wenig die deutsche Abschiebepolitik, die ganze Flüchtlingsfamilien ins Unglück stürzt.
In Wahrheit versucht die einstige soziale Reformpartei SPD, die längst zur Partei von Staatsbeamten, Gewerkschaftsbürokraten und Managern verkommen ist, mit der MeToo-Debatte eine antidemokratische Hysterie unter oberen Mittelschichten und Akademikern anzuzetteln, um eine außen- und innenpolitische Rechtswende gegen die Opposition in der Bevölkerung durchzusetzen.
Schon das massive Aufbauschen sexueller Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015 im SPD-geführten Nordrhein-Westfalen diente diesem Ziel, ebenso die massive Polizeigewalt beim G20-Gipfel letzten Sommer im SPD-regierten Hamburg.
Fortschrittliche Bewegungen sehen anders aus. Am 11. Dezember schrieb die WSWS zur MeToo-Kampagne in den USA: „Progressive soziale Bewegungen zeichnen sich durch ganz bestimmte Merkmale aus, vor allem durch ihre weitgehend egalitären und demokratischen Vorstellungen. In der modernen Welt sind sie stets untrennbar mit dem Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung verbunden. ... Widerstand gegen tatsächlichen sexuellen Missbrauch und gegen alle Formen unmenschlicher Grausamkeit und Ausbeutung ist eine Klassenfrage und erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Das Motto des Kampfs für den Fortschritt der Menschheit ist nicht ‚Me Too‘, sondern: ‚Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!‘“
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