Die britische Regierung und die Medien verschärfen ihre Kampagne gegen Russland. Die Ermittlungsbehörde der Krone hat am 5. September bekanntgegeben, dass sie im Fall Skripal nach zwei verdächtigen Männern fahndet. Die beiden werden des Giftanschlags auf den ehemaligen russisch-britischen Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter Julia beschuldigt.
Die Polizei veröffentlichte Fotos der Reisepässe und Aufnahmen aus Überwachungskameras, die die beiden Männer an verschiedenen Orten, u.a. am Flughafen Gatwick und in Salisbury, zeigen. Doch trotz der hysterischen Medienberichte und der Schlagzeilen über „russische Attentäter“ tappt die Öffentlichkeit über die Ereignisse von Sonntag, den 4. März, heute genauso im Dunkeln wie vor sechs Monaten.
Laut der juristischen Leiterin der Ermittlungsbehörde, Sue Hemming, reichten die Beweise der polizeilichen Terrorabwehr dafür aus, die russischen Staatsbürger Alexander Petrow und Ruslan Boschirow wegen versuchten Mordes an Sergei und Julia Skripal und dem Polizeibeamten Nick Bailey anzuklagen. Das sei „eindeutig im Interesse der Öffentlichkeit“, so Hemming.
Premierministerin Theresa May erklärte daraufhin vor dem Parlament, neben der Polizei hätten auch die Sicherheits- und Geheimdienste eigene Untersuchungen durchgeführt: „Die Regierung ist auf der Grundlage von Geheimdienstberichten zu dem Schluss gekommen, dass die beiden von der Polizei und der Ermittlungsbehörde der Krone genannten Individuen Offiziere des russischen Militärgeheimdienstes GRU sind.“
Sie fügte hinzu: „Das war keine nichtautorisierte Operation. Sie wurde höchstwahrscheinlich nicht von der GRU, sondern auf höchster Ebene des russischen Staates angeordnet.“
Das russische Außenministerium wies diese Behauptung Großbritanniens kategorisch zurück und erklärte, die beiden Personen seien ihm „völlig unbekannt“.
May ging nicht näher darauf ein, auf welche Geheimdienstinformationen sie sich bezog. Stattdessen bezeichnete sie Russland als den Hauptfeind des Westens, der bekämpft werden müsse: „Dieser Chemiewaffenangriff auf unserem Boden war Teil eines umfassenden Verhaltensmusters Russlands, das ständig versucht, unsere Sicherheit und diejenige unserer Verbündeten in aller Welt zu untergraben.“
May sagte dem Parlament: „Im März hat Russland versucht, Zweifel und Unsicherheit an den Beweisen zu säen, die wir hier vorgelegt haben. Mehrere Leute waren geneigt, ihnen zu glauben. Die heutige Veröffentlichung zeigt, dass wir recht hatten.“
Das stimmt jedoch nicht. Laut dem neuen Narrativ sind „Petrow“ und „Boschirow“ am Freitag dem 2. März auf dem Flughafen Gatwick eingetroffen. Dies sollen Bilder der Überwachungskameras belegen. Sie checkten in einem billigen Hotel im Ost-Londoner Stadtteil Bow ein. Am nächsten Tag reisten sie laut Angaben der Polizei nach Salisbury und kehrten nach einem Aufenthalt von mehreren Stunden nach London zurück.
Am Sonntag, den 4. März, fuhren die beiden erneut nach Salisbury. Die Polizei behauptet, sie seien um 11:58 Uhr, „kurz vor dem Anschlag“ auf Sergei Skripal, von einer Überwachungskamera auf der Wilton Road aufgenommen worden.
Die Polizei erklärt, es gebe noch zwei weitere Bilder, die „die Verdächtigen am Sonntag, dem 4. März, um 13:50 Uhr auf dem Bahnhof von Salisbury, kurz vor der Rückreise nach London zeigen“. Ein anderes Bild belege, wie „die Verdächtigen am Sonntag den 4. März um 19:28 Uhr abends die Passkontrolle am Flughafen Heathrow passieren. Auf dem Bild sieht man ,Petrow‘ vorne und ,Boschirow‘ hinten.“
Der nationale Chef der Terrorabwehr, Assistant Commissioner Neil Basu, widersprach Mays definitiver Behauptung, Russland sei für den Anschlag verantwortlich. Die Frage von Journalisten nach Beweisen, dass die beiden Männer im Dienste des russischen Staates stünden, beantwortete er mit „Nein“, und in seiner Stellungnahme sagte er: „Es ist wahrscheinlich, dass sie unter falschem Namen reisten.“
Der BBC-Korrespondent für Sicherheitsfragen, Gordon Corera, erklärte, er gehe davon aus, dass die Behörden das Paar „vor einiger Zeit“ identifiziert hätten und „möglicherweise auch ihre echten Namen kennen“. Doch warum geben sie sie nicht bekannt?
Der ehemalige britische Botschafter Craig Murray fragte: „Warum reisen zwei mutmaßliche GRU-Agenten unter falschem Namen und mit falschen Reisepässen, aber benutzen trotzdem russische Namen und russische Reisepässe? Wenn sie EU-Reisepässe benutzt hätten, zum Beispiel aus Litauen oder Estland, hätten sie aufgrund der Reisefreiheit innerhalb der EU kein Visum gebraucht und hätten weiterhin Russisch sprechen können, ohne Verdacht zu erregen.“
Murray teilte auf Twitter die Äußerung des freien Journalisten Neil Clark, in der es heißt: „Wenn diese beiden Männer bei der Ankunft in Gatwick identifiziert wurden, ist es unmöglich, dass die Polizei nicht wusste, mit welcher Art von Visum sie einreisten. Hier stimmt etwas überhaupt nicht. Dazu passt auch, dass die veröffentlichten Bilder [unscharfe Aufnahmen von Gesichtern auf dunklem Hintergrund] nicht dem britischen Standard für Visa-Fotos entsprechen.“
Eine Ungereimtheiten an der neuen Darstellung springt ins Auge: Die zwei veröffentlichten Fotos, die „Petrow“ und „Boschirow“ zeigen, wurden beide an der gleichen Stelle am Flughafen Gatwick und genau zur gleichen Sekunde (16:22:43 Uhr am 2. März 2018) aufgenommen. Murray bezeichnet das als technisch unmöglich und deutet an, die Bilder der Überwachungskamera könnten manipuliert sein. Die Polizei behauptet jetzt, die beiden seien an verschiedenen, aber ähnlichen Stellen gewesen, aber zur genau gleichen Zeit an Überwachungskameras vorbeigelaufen.
Das aktuelle Narrativ der Regierung stimmt nicht mit den Behauptungen überein, die seit Monaten verbreitet wird, dass die Skripals mit „Nowitschok“ am Griff der Eingangstür zu Sergeis Haus vergiftet worden seien.
Murray weist darauf hin, dass die Skripals ihr Haus am 4. März um 9:15 Uhr verließen und vermutlich nicht dorthin zurückgekehrt waren, bevor man sie bewusstlos auf einer Parkbank fand. „Doch die Metropolitan Police behauptet, Boschirow und Petrow seien am Tag des Anschlags erst um 11:48 Uhr in Salisbury eingetroffen. Das bedeutet, sie hätten den Nervenkampfstoff frühestens um die Mittagszeit am Türgriff der Skripals anbringen können.“
In einem Artikel auf der Website OffGuardian wird darauf hingewiesen, dass die Polizei nun behauptet, auch das Hotel Bow sei mit Nowitschok „kontaminiert“ worden, obwohl in den sechs Monaten seither kein Mensch in diesem Hotel erkrankt ist. Zudem müssten die Verdächtigen, um den Raum zu verseuchen „das Gift physisch verteilt haben. Und da sie das Land angeblich am 4. März, dem Tag des mutmaßlichen Anschlags, verlassen haben, hätte die Kontamination bereits VOR dem Anschlag auf Skripal stattfinden müssen.“
Zudem hatte die Metropolitan Police zuvor erklärt, es bestehe eine Verbindung zwischen dem Giftanschlag auf die Skripals und dem auf Dawn Sturgess und ihren Partner Charley Rowley. Dawn starb am 8. Juli im Krankenhaus, nachdem sie angeblich mit Nowitschok-Gift in Berührung gekommen war. Rowley befindet sich heute in gesundheitlich sehr schlechtem Zustand und soll, Berichten zufolge, an Meningitis erkrankt sein.
Dennoch erklärte Basu: „Wir wissen noch nicht, wo die Verdächtigen das Nowitschok entsorgt haben, das sie an der Tür angebracht haben; wo Dawn und Charlie die Flasche herhatten, durch die sie vergiftet wurden, oder ob bei beiden Giftanschlägen die gleiche Flasche benutzt wurde.“
Das Narrativ der Regierung ist völlig unglaubwürdig. Die „Beweise“, die ihre Version angeblich belegen, stammen von denselben Geheimdiensten, die auch schon die Existenz der Massenvernichtungswaffen „bewiesen“ hatten, mit denen der Präventivschlag gegen den Irak gerechtfertigt wurde.
Zudem ist das Timing der jüngsten Enthüllungen der Regierung äußerst suspekt. Am Donnerstag hatte die britische Regierung vor dem UN-Sicherheitsrat ihre neuen Vorwürfe gegen Moskau erhoben. Zuvor hatten die USA, Frankreich, Deutschland und Kanada in einer gemeinsamen Stellungnahme erklärt, die russische Regierung habe „fast mit Sicherheit“ die Erlaubnis zum Giftanschlag auf die Skripals gegeben.
Am gleichen Tag kündigte die Europäische Union an, sie werde die Sanktionen gegen 150 russische Individuen und 50 Unternehmen, die sie nach dem inszenierten Putsch in der Ukraine 2014 verhängt hatte, um weitere sechs Monate verlängern. Beschwerden über die russische Aggression auf der Krim werden als Rechtfertigung für ein massives Nato-Aufgebot an der russischen Grenze benutzt.
May will, dass die EU noch weitergeht und dem Beispiel der USA folgt, die am 27. August neue Sanktionen verhängte, weil Russland angeblich „tödliche Chemiewaffen gegen seine eigenen Staatsbürger eingesetzt und damit gegen internationales Recht verstoßen“ habe. Als Teil dieser Sanktionen wurden Hilfszahlungen (mit Ausnahme von dringenden humanitären Fällen) eingestellt, der Zugang zu amerikanischen Krediten und Finanzquellen eingeschränkt und Exporte von „Gütern oder Technologien, die den Einschränkungen unterliegenden“ nach Russland verboten. Russland soll Inspektoren der OPCW, der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, Zugang verschaffen, und wenn sie nicht innerhalb von 90 Tagen bestätigen, dass Russland keine Chemiewaffen besitzt, wird Washington weitere und noch schwerere Sanktionen verhängen.
Gleichzeitig mit der Umsetzung dieser Maßnahmen verschärfen die USA ihre Drohgebärden gegen das syrische Assad-Regime, weil dessen Regierungstruppen in der nordwestlichen Provinz Idlib gegen Al-Qaida-Ableger vorgehen. Die Trump-Regierung hat den „bevorstehenden Angriff des Assad-Regimes mit Unterstützung Russlands und des Iran“ scharf verurteilt und gedroht: „Die USA und ihre Verbündeten werden im Fall eines Chemiewaffenangriffs schnell und angemessen reagieren.“
Weder die Regierung in Washington, noch diejenige in London handeln aus humanitären Beweggründen. Sie haben die mit Al-Qaida verbündeten Terrorgruppen in Syrien finanziert und unterstützt. Ihr Ziel ist ein Regimewechsel in Syrien, der sich gegen Russland und den Iran richten würde. Genau wie bei früheren Vorfällen, zum Beispiel im April in Duma, beinhalten die Drohungen aus Washingtons implizit die Aufforderung an Al-Qaida, einen Vorfall zu inszenieren, der den USA und ihren Verbündeten als Rechtfertigung für eine Militärintervention dienen kann.