Die extreme Ausbeutung im Brief- und Paketdienst nimmt zu. Die Privatisierungspolitik von Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften hat dazu geführt, dass dieser harte Beruf heute trotz Überstunden und Stress zu den am schlechtesten bezahlten gehört.
Die Ausbeutungsbedingungen sind so dramatisch, dass die Medien in der Vorweihnachtszeit nicht darum herum kommen, über die harte Arbeit der Paketzusteller und Briefträger zu berichten. Die Titel lauten: „Im Paketfieber“, „Liefern am Limit“ oder „Ausgeliefert“. Einige Reportagen schildern anschaulich, was es für die Zusteller bedeutet, in der Adventszeit das Doppelte der üblichen Arbeitslast bewältigen zu müssen.
Eine halbe Million Menschen arbeiten mittlerweile im Post- und Zustelldienst. Nur ein kleiner Teil von ihnen, weniger als 30 Prozent, hat einen unbefristeten, tariflich bezahlten Vollzeitarbeitsplatz, während über 70 Prozent als Aushilfen, Minijobber und Niedriglöhner schuften. Mehr als jede zweite Aushilfe arbeitet unter der Geringverdiener-Grenze von 10,50 Euro pro Stunde, und viele bekommen nicht einmal den Mindestlohn von 8,84 Euro pro Stunde. Das wirkliche Ausmaß entzieht sich der Statistik, da zahlreiche kleine Subunternehmer gar nicht erfasst werden.
Die Zahlen stammen aus der Antwort der Bundesregierung von März 2018 auf eine Kleine Anfrage im Bundestag. Aus den darin enthaltenen Statistiken der Arbeitsagentur geht zum Beispiel hervor, dass der Medianlohn der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten dieser Branche zwanzig Prozent unter demjenigen in der Gesamtwirtschaft liegt, und dass er in den letzten zehn Jahren effektiv gesunken ist: Im Jahr 2008 betrug der Bruttomonatslohn noch rund 2900 Euro, und heute sind es nur noch 2500 Euro. (Median wird derjenige Messwert genannt, der genau „in der Mitte“ steht, wenn man alle Messwerte der Größe nach aufstellt. Es sind also in diesem Fall sehr viele Zusteller mit niedrigerem Lohn hinzugekommen, während die Zahl der höher Bezahlten abgenommen hat.)
Als Folge der Knochenarbeit und des dauernden Stresses sind überdurchschnittlich viele Post- und Paketzusteller krank. Laut Zahlen der Techniker Krankenkasse waren Zusteller im letzten Jahr durchschnittlich 25,2 Tage krank. Eine Studie der Berufskrankenkassen, welche die WirtschaftsWoche zitiert, zählt sogar durchschnittlich 30,6 Krankheitstage, währen der Durchschnitt aller bei diesen Kassen Versicherten bei 17,4 Fehltagen liegt.
Besonders häufig leiden die Paketzusteller unter Muskel- und Skeletterkrankungen. Mehr als ein Drittel all ihrer Fehltage gehen auf Rückenprobleme zurück. Einen Spitzenplatz nehmen auch die Arbeitsunfälle ein, und eine Statistik spricht von „mehreren tausend Arbeitsunfällen“ pro Jahr in dieser Branche.
Während einige Reportagen diese extremen Arbeitsbedingungen kritisieren, lenken sie von den wirklichen Ursachen ab. Manche machen in erster Linie die Kunden dafür verantwortlich, die nicht bereit seien, die Kosten für die rasante Ausbreitung des Onlinehandels zu tragen. So schreibt die Süddeutsche Zeitung: „Zusteller würden würdiger entlohnt, wenn Konsumenten anerkennen, dass ihre Leistungen etwas wert sind.“
Das ist Augenwischerei und Ablenkung. In Wirklichkeit sind die miesen Bedingungen das Produkt der Privatisierungspolitik der letzten zwanzig Jahre. Die Regierung, die Wirtschaft und auch die Gewerkschaften haben die Bedingungen für die heutige Katastrophe bewusst herbeigeführt.
Sie haben die deutsche Post vor zwanzig Jahren (ab 1995) in eine Aktiengesellschaft verwandelt und an die Börse gebracht. Post, Telekommunikation, Flug- und Bahnverkehr sowie andere gesellschaftlich unverzichtbare Bereiche wurden dereguliert, um einen gnadenlosen Wettbewerb zu entfesseln, der auf den Knochen der Beschäftigten ausgetragen wird.
Heute konkurriert die Post mit ihren Töchtern von der DHL Delivery gegen FedEx, UPS, Hermes, DPD, GLS und Konsorten, wobei jeder von ihnen noch zahlreiche Subunternehmen beschäftigt. Dieser Konkurrenz sind die Löhne und Arbeitsbedingungen der Briefträger und Paketzusteller in verheerender Weise zum Opfer gefallen.
Die meisten Medienberichte beziehen sich zurzeit auf einen Bericht des Bundestagsabgeordneten Pascal Meiser (Die Linke). Darin hat Meiser am 12. Dezember einige der schlimmsten Missstände aus der Antwort der Regierung vom März 2018 aufgelistet. In dem Zusammenhang hat er die Bundesregierung aufgefordert, „gegen die Schmutzkonkurrenz vor[zu]gehen, die die Löhne in dieser Branche immer mehr unter Druck setzt“.
Ähnlich fordert auch Verdi, der Staat müsse besser kontrollieren und die Paketunternehmer müssten dafür haften, dass auch ihre Subunternehmer nach Tarif bezahlen. Es ist aber nicht nur die „Schmutzkonkurrenz“, es sind auch die Post selbst und ihre Tochterfirmen, die mit Verdis freundlicher Unterstützung den Niedriglöhnen Vorschub leisten.
Die Gewerkschaft steht in dieser Entwicklung klar auf der Seite der Konzerne. So bezahlt die DHL Delivery GmbH längst nicht mehr nach dem alten Haustarif der Post, sondern nach regional unterschiedlichen Tarifverträgen der Logistikbranche, die rund zwanzig Prozent niedriger liegen. Die DGB-Gewerkschaft Verdi hat diese Tarife mit ausgehandelt.
Gleichzeitig sorgt Verdi dafür, dass die immer häufiger auftretenden Arbeitskämpfe voneinander isoliert bleiben, und dass sie das Geschäft nicht stören. Zum Beispiel trennt sie die Warnstreiks und Arbeitsniederlegungen der Postbeschäftigten gegen die Zerstörung ihrer Löhne und Bedingungen systematisch vom Arbeitskampf bei Amazon, bei dem es um die gleichen Probleme geht. Den militant geführten Streik bei der Post würgte Verdi vor anderthalb Jahren mit einem üblen Ausverkauf ab.
Im Aufsichtsrat der Deutschen Post AG sitzen zehn führende Verdi-Mitglieder. Sie teilen die Ziele der Regierung und der Aktienbesitzer, die Deutsche Post AG als weltführenden Logistikkonzern zu behaupten, und sie leben dabei gut. Stellvertreterin des Aufsichtsratsvorsitzenden ist zum Beispiel Andrea Kocsis, die auch stellvertretende Verdi-Bundesvorsitzende ist. Sie hat im letzten Jahr allein an Aufsichtsrats-Tantiemen über eine Viertelmillion Euro einkassiert.
Die Post verzeichnet heute einen Börsenwert von 50 Milliarden Dollar und einen Gewinn von über vier Milliarden Euro. Auch der Onlinehandel verzeichnet enorme Gewinnzuwächse. In Deutschland hat sich der Umsatz der Online-Shops in zehn Jahren von 12,6 auf über 53 Milliarden Euro mehr als vervierfacht. Gleichzeitig werden die Löhne der Zusteller systematisch abgesenkt. Diese Zustände tragen dazu bei, dass sich im gesamten Arbeitsmarkt eine immer drastischere Ausbeutung breitmacht.