Bei der Wahl zum Europaparlament nutzten viele Wähler in Deutschland den Stimmzettel, um ihre Ablehnung der rechten Politik der Großen Koalition zum Ausdruck zu bringen. Doch die Wut über unerträgliche Arbeitsbedingungen, steigende Mieten und den wachsenden Militarismus fand keinen bewussten Ausdruck, sondern stärkte Grüne und eine Reihe kleinerer Parteien.
Zusammen verloren SPD und CDU knapp 18 Prozent der Stimmen und erzielten jeweils ihr historisch schlechtestes Ergebnis. Gegenüber der Europawahl vor fünf Jahren verlor die Union 6,4 Prozentpunkte und sackte auf 28,9 Prozent ab. Die SPD verlor 11,5 Prozent und erreichte nur noch 15,8 Prozent der Stimmen. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 verlor die SPD insgesamt 3,6 Millionen Wähler, die Union sogar 4,5 Millionen.
Unter den Jungwählern ist die Ablehnung der Regierungsparteien noch weitaus größer. In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen kam die SPD nur noch auf neun Prozent, die Union auf 13 Prozent und selbst bei den 30 bis 44-jährigen erzielte die SPD nur 12 Prozent.
Die Linkspartei konnte von der vehementen Opposition gegen die Regierungsparteien nicht im geringsten profitieren, sondern wurde ebenfalls abgestraft. Sie wird nicht als Opposition, sondern als Teil des politischen Establishments gesehen. Sie erhielt nur 5,5 Prozent der Stimmen und damit knapp zwei Prozentpunkte weniger als bei der Europawahl 2014 und sogar 3,7 Prozent weniger als bei der vergangenen Bundestagswahl.
Dort wo die Linke Regierungsverantwortung innehat, wie in Thüringen, wo sie mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt und aktiv ihr prokapitalistisches und arbeiterfeindliches Programm in die Tat umsetzt, waren die Verluste mit 8,7 Prozent besonders hoch.
Bei der Landtagswahl in Bremen, die zeitgleich mit der Europawahl stattfand, zeigte sich ein ähnliches Bild. 74 Jahre lang, seit Ende des Zweiten Weltkriegs, waren dort die Sozialdemokraten ununterbrochen an der Macht und die stärkste Partei. Nun verlor die SPD in ihrer Hochburg 8,2 Prozent und rutschte auf 23,9 Prozent hinter die CDU auf Platz zwei ab. Das war die Quittung für ein rabiates Sparprogramm, das die SPD im Bündnis mit den Grünen in den vergangenen vier Jahren durchgesetzt hat.
Der Aufstand gegen die Große Koalition bei den Europawahlen richtete sich auch gegen die AfD. Zwar konnte sich die rechtsextreme Partei gegenüber der Europawahl vor fünf Jahren, als sie erstmals angetreten war, von 7,1 auf 11 Prozent verbessern. Doch die AfD erhielt mehr als 1,2 Millionen Stimmen weniger als bei der Bundestagswahl 2017 (12,7 Prozent). Und das, obwohl die Medien die Rechtsextremen bewusst gehypt und ihnen einen deutlichen Stimmenanstieg prophezeit hatten.
Die Mobilisierung gegen die rechte Politik der Großen Koalition, die sich auch in der um 13,3 Prozentpunkte auf 61,4 Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung niederschlug, fand allerdings keinen bewussten politischen Ausdruck.
Profitieren konnten vor allem die Grünen, die ihren Anteil auf 20,5 Prozent fast verdoppelten. Bei den unter 30-Jährigen erreichten sie sogar 29 Prozent. In dieser Altersgruppe entfielen auch auf etliche kleinere Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, zusammen 27 Prozent der Stimmen (in allen Gruppen etwa 13 Prozent). So gewann z.B. die Satire-Partei Die Partei zwei Sitze. Im Wahlkampf hatte sie vor allem die Flüchtlingspolitik und die militärische Aufrüstung der EU kritisiert.
Viele Wähler gaben den Grünen ihre Stimme, weil sie die Klimafrage ins Zentrum stellten und als linke Alternative wahrgenommen wurden. Doch das ist eine Illusion. In den letzten Jahren sind die Grünen als die Partei des deutschen Militarismus aufgetreten und haben alle Auslandseinsätze der Bundeswehr unterstützt und mehr Aufrüstung gefordert. Die Partei ist an neun von 16 Landesregierungen beteiligt und stellt in Baden-Württemberg den Ministerpräsidenten. Überall, wo die Grünen regieren, zeigt sich, dass sie genauso wie alle anderen Bundestagsparteien für soziale Kürzungen, Staatsaufrüstung und die Abschiebung von Flüchtlingen stehen.
Am Wahlabend betonte die grüne Spitzenkandidatin Maike Schaefer, dass ihre Partei in Bremen dafür sorgen werde, die rechte Politik fortzusetzen: „Wir wollen an der Schuldenbremse festhalten, wir wollen Schulden tilgen“, erklärte sie gegenüber der ARD.
Auch die Parteien der Großen Koalition kündigten schon am Wahlabend an, dass sie die verhasste Politik, für die sie abgewählt wurden, noch weiter verschärfen werden.
Am deutlichsten sprach das der frühere SPD-Vorsitzende und Ex-Außenminister Sigmar Gabriel aus. In der Talkshow Anne Will betonte er, dass seine Partei ihr aggressives außenpolitisches Programm im Wahlkampf stärker hätte betonen sollen. Das Hauptthema sei „die Souveränität Europas in der Welt“. Es gehe um die „Selbstbehauptung Europas in einer völlig verrückten Welt“. Europa dürfe nicht zulassen, dass Amerika und China alleine verhandelten und die Dinge unter sich ausmachten, sondern müsse sich einmischen und dafür sorgen, dass nicht nur ein G2, sondern „wenigstens ein G3 mit uns stattfindet“.
Die Vorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, nutzte am Montag eine Pressekonferenz, um die Einschränkung der Meinungsfreiheit im Internet zu fordern. Sie warf einer Gruppe Youtubern, die sich vor den Wahlen kritisch über die CDU geäußert hatten, vor, „Meinungsmache“ zu betreiben, und forderte neue Regularien für den „digitalen Bereich“.
Mit anderen Worten reagiert die gesamte herrschende Klasse auf die enorme soziale und politische Opposition vor allem unter jungen Arbeitern und Studenten mit einem weiteren Rechtsruck und der Verschärfung ihrer Politik des Militarismus, der Sozialangriffe und der inneren und äußeren Aufrüstung.
Dadurch wird der Konflikt mit der großen Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung weiter vorangetrieben. Schon während des Europawahlkampfs protestierten 40.000 Menschen in Berlin gegen steigende Mieten und forderten die Enteignung von Immobiliengesellschaften und Hedgefonds. Im Frühjahr beteiligten sich Zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Diensts an Warnstreiks gegen die katastrophale Lage an Schulen, unerträgliche Arbeitsbedingungen und miserable Löhne. Im März streikten Tausende Verkehrsarbeiter der BVG in Berlin und brachten die Stadt zum Stillstand.
Die wachsende Radikalisierung ist Teil einer europa- und weltweiten Entwicklung. In Frankreich reißt die Gelbwesten-Bewegung nicht ab. Hunderttausende protestieren trotz massiver Polizeieinsätze und einer üblen Hetzkampagne in den Medien Woche für Woche gegen Niedriglöhne, soziale Ungleichheit und die Macron-Regierung.
In Polen streikten im vergangenen Monat über 300.000 Lehrer gegen die rechte PiS-Regierung. Es ist der erste nationale Ausstand in Polen seit Jahrzehnten. Dazu kommen Streiks von Auto- und anderen Industriearbeitern in Rumänien, Ungarn, Tschechien, Serbien und dem Kosovo sowie Massenproteste gegen das so genannte „Sklavengesetz“ des rechten Regimes von Viktor Orbán in Ungarn, das die Arbeiter zwingt, unbezahlte Überstunden zu machen, und von den deutschen Großkonzernen unterstützt wird.
Diese Streiks und Proteste sind erst der Anfang. Sie werden sich angesichts der rechten Politik der Regierung unweigerlich ausweiten und damit nicht nur in Konflikt mit der Großen Koalition in Deutschland, sondern dem gesamten politischen Establishment geraten.
Um diese Kämpfe vorzubereiten und mit einem revolutionären Programm auszustatten, nahm die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) an den Europawahlen teil. Auf zahlreichen Wahlversammlungen in Deutschland und ganz Europa stritt sie zusammen mit ihren europäischen Schwesterparteien für eine internationale sozialistische Perspektive, die jetzt entscheidende Bedeutung gewinnt. Auf dieser Grundlage erhielt sie unter Bedingungen eines Medienboykotts und der starken Zensur der World Socialist Web Site und der sozialen Medien knapp 5300 Stimmen und gewann wichtige neue Mitglieder und Kontakte.