Gegenwärtig vergeht kaum ein Tag, an dem keine neuen Massenentlassungen angekündigt werden. Die Hiobsbotschaften aus den Chefetagen der Konzerne und Banken überschlagen sich. Die Unternehmen nutzen die Corona-Krise und die Milliardensummen aus der Staatskasse, um massenhaft Arbeitsplätze abzubauen und drastische Sozialkürzungen durchzusetzen, die seit langem geplant waren.
Diese kapitalistische Offensive gegen die Arbeiter stützt sich auf eine enge Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und ihren Betriebsräten. Viele Rationalisierungsprogramme, die mit einem umfassenden Arbeitsplatz- und Sozialabbau verbunden sind, werden von den Gewerkschaften ausgearbeitet und von ihren Funktionären im Betrieb durchgesetzt. Wer dagegen protestiert, wird eingeschüchtert und mundtot gemacht. Wer aufmuckt, findet sich schnell auf den Entlassungslisten wieder, die die Betriebsräte im Rahmen der Mitbestimmung erstellen.
„Sozialpartnerschaft“ und „Mitbestimmung“, die in Deutschland wie in kaum einem anderen Land gesetzlich verankert sind, haben schon immer Verzicht auf den Klassenkampf und Unterordnung der Arbeiterinteressen unter die Interessen des Kapitals bedeutet. Während des Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegsjahrzehnte ließ sich das noch mit Lohnerhöhungen und sozialen Verbesserungen verbinden. Teilweise organisierten die Gewerkschaften sogar größere Streiks; auch wenn sie sorgfältig darauf achteten, die kapitalistische Herrschaft nicht zu gefährden.
Doch das ist lange her. Spätestens seit den 1980er Jahren haben die Gewerkschaften eine Runde sozialer Angriffe nach der anderen mitgetragen. Sie haben die Stilllegung ganzer Industriezweige, wie der Kohle- und der Stahlindustrie, organisiert, die Hartz-Gesetze mit ausgearbeitet und dafür gesorgt, dass Widerstand gegen die Schließung von Betrieben, wie bei Opel in Bochum, ohnmächtig und isoliert blieb. Größere Streiks, bei denen Hunderttausende Arbeiter wochenlang die Produktion stilllegen, haben sie seit Jahrzehnten nicht mehr geführt.
Mit der Corona-Pandemie, die zur tiefsten internationalen Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahre geführt hat, nimmt die Rolle der Gewerkschaften als Werkzeug der Konzerne eine neue Dimension an. Bei Lufthansa überbieten sich die DGB-Gewerkschaft Verdi und die Spartengewerkschaften UFO und Cockpit mit Angeboten, die Löhne um 20, 30 oder sogar 45 Prozent zu senken und mehrere Zehntausend Stellen abzubauen. In der Auto- und Zulieferindustrie, bei den Banken oder bei Galeria Kaufhof Karstadt ist es ähnlich.
Die Gewerkschaften als „Arbeiterorganisationen“ zu bezeichnen, wäre absurd. Sie sind Organe der Unternehmen mit der besonderen Aufgabe, die Arbeiter zu disziplinieren, für den reibungslosen Ablauf der Produktion zu sorgen und die Ausbeutung zu steigern. Es gibt zwar noch Arbeiter, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, aber zu sagen haben sie nichts. Oft werden sie Gewerkschaftsmitglied, weil sie sonst nicht eingestellt werden oder bei Entlassungen als Erste rausfliegen, oder weil die Gewerkschaften besondere Vorteile nur für Mitglieder aushandeln.
Die Verwandlung der Gewerkschaften in eine Betriebspolizei ist nicht das Ergebnis der –reichlich vorhandenen – Korruptheit einzelner Funktionäre.
Sie ergibt sich erstens aus der gewerkschaftlichen Perspektive, die das kapitalistische Privateigentum und den erbitterten Kampf um Märkte und Profite akzeptiert und unterstützt. Je stärker der Weltmarkt von Monopolen beherrscht wird, je erbitterter sich der Kampf zwischen ihnen gestaltet, desto enger rücken die Gewerkschaften mit „ihren“ nationalen Konzernen zusammen.
Aus ihrer Sicht sind die Interessen von Gewerkschaft und „Wirtschaft“ identisch. Sie sprechen stets von der Verteidigung des Wirtschaftsstandorts, nie von der Verteidigung der Arbeiterklasse. Im Namen der Standortverteidigung opfern sie Arbeitsplätze, Löhne und Sozialleistungen – wobei am Ende oft nichts übrigbleibt. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse über die Standorte und nationalen Grenzen hinweg, lehnen sie dagegen mit unverhohlener Feindschaft ab.
Zweitens gilt auch für Gewerkschaftsfunktionäre: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Sie bilden eine privilegierte Gesellschaftsschicht. Konzerne und Regierung geben mehrstellige Millionensummen aus, um ein Heer von Funktionären zu unterhalten, die das Vielfache eines einfachen Arbeiters verdienen. Die Gewerkschaften betreiben eigene Schulen und Thinktanks – auch sie direkt oder indirekt von Staat und Konzernen finanziert –, die die Vertrauensleute und Betriebsräte ideologisch schulen und die Konzerne bei Entlassungen und Kürzungen beraten.
Es lohnt sich, einen Blick auf dieses Geflecht von Institutionen, Beziehungen und Geldern zu werfen, das sorgfältig vom Blick der Öffentlichkeit abgeschirmt wird. Es macht deutlich, weshalb es nicht möglich ist, die Gewerkschaften im Sinne der Arbeiter zu reformieren, und weshalb neue, unabhängige Kampforgane – Aktionskomitees – aufgebaut werden müssen.
Einer der wichtigsten Mechanismen, über den Konzerngelder in die Gewerkschaften geleitet werden, ist deren Einbindung in die Aufsichtsräte, die in Deutschland gesetzlich geregelt ist. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 verpflichtet Kapitalgesellschaften mit mehr als 2000 Beschäftigen zu einer paritätischen Besetzung der Aufsichtsräte, das heißt: Arbeitnehmer und Kapitaleigner entsenden jeweils die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder. Das Gesetz sichert gleichzeitig die Vormacht der Kapitaleigner, denn im Streitfall hat der Vorsitzende, der von den Kapitaleignern gestellt wird, ein Doppelstimmrecht. Die Zahl der in dieser Form mitbestimmten Betriebe schwankt zwischen 640 und knapp 700.
Zeitgleich mit dem Mitbestimmungsgesetz wurde die gewerkschaftseigene Hans-Böckler-Stiftung (HBS) gegründet. Sie ist gemeinnützig, das heißt steuerbegünstigt, und finanziert sich aus zwei Quellen: Aus den Tantiemen der gewerkschaftlichen Aufsichtsratsmitglieder, die diese laut einem Gewerkschaftsbeschluss zu einem großen Teil an die Stiftung abführen müssen, und aus Millionenzuschüssen der Bundesregierung.
Laut dem Geschäftsbericht der IG Metall bilden „die 7000 Förderinnen und Förderer, insbesondere Aufsichtsratsmitglieder, die den Großteil ihrer Tantiemen an die HBS abführen“, das Fundament der Stiftung. Im Haushaltsjahr 2017/18 überweisen sie insgesamt 47,1 Millionen Euro. Mehr als die Hälfte stammte von Mandatsträgern der IG Metall. Zusätzlich erhielt die HBS Mittel in Höhe von 28,6 Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
2018 flossen also mehr als 75 Millionen Euro von den Konzernen und der Bundesregierung über die Hans-Böckler-Stiftung direkt in Arbeit der Gewerkschaften. Mit diesem Geld finanziert die HBS die Schulung und Ausbildung von Gewerkschaftsfunktionären sowie mehrere Sozial- und Wirtschaftsinstitute, die für die Aufsichtsräte und Unternehmensvorstände Wettbewerbsanalysen, Rationalisierungsprogramme, Innovationsmaßnahmen und Sparprogramme aller Art ausarbeiten.
Das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.), das seine Arbeit Anfang 2018 aufnahm, befasst sich mit „Beratung, Qualifizierung und Forschung für die Mandatsträger der Mitbestimmung“. Hier werden die Gewerkschaftsfunktionäre geschult, die den Sozial- und Arbeitsplatzabbau gegenüber den Arbeitern rechtfertigen und durchsetzen.
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut (WSI) entwickelt die Tarifpolitik der Gewerkschaften, die auf das engste mit den Unternehmen abgestimmt wird. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) entwickelt Marktanalysen und erforscht gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge.
Neuerdings gehört auch das Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeitsrecht (HSI) zur Hans-Böckler-Stiftung. Es konzentriert sich auf die Entwicklung des nationalen und internationalen Arbeits- und Sozialrechts, das Streiks und Arbeitskämpfen enge Grenzen setzt.
Die Gewerkschaften und die Hans-Böckler-Stiftung beraten nicht nur die Unternehmen, sie können sich auch auf ein Heer von Funktionären in den Betrieben stützen. Alleine die IG Metall verfügt über 50.000 Betriebsräte und 80.000 Vertrauensleute. Insgesamt wurden 2018 in 28.000 deutschen Unternehmen Betriebsräte gewählt, von denen jeweils einer pro 500 Beschäftigten auf Kosten des Unternehmens von der Arbeit freigestellt wird. Das ist oft mit einem höheren Gehalt, diversen Nebeneinkünften und anderen Privilegien verbunden.
Die Hauptaufgabe der Betriebsfunktionäre besteht darin, den „Betriebsfrieden“ zu wahren, d.h. jede Form von Opposition zu unterdrücken. So hat die IG Metall bereits im März für die vier Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie einen Lohnstopp bis Ende des Jahres vereinbart. Jetzt setzt sie sich intensiv für die Wiederaufnahme der Produktion ein, obwohl in vielen Betrieben die Sicherheitsmaßnahmen schlecht sind und die Ansteckung mit Covid-19 droht.
Die Hans-Böckler-Stiftung brüstet sich ganz offen damit, dass die Mitbestimmung den Profit der Unternehmen steigert. In einer neueren Studie zur Bedeutung der Mitbestimmung heißt es: „Unternehmen mit mehr Mitbestimmung schneiden bei wichtigen wirtschaftlichen Kennziffern meist überdurchschnittlich ab: Ihre Gesamtkapitalrentabilität ist im Durchschnitt um rund 65 Prozent höher als bei Unternehmen mit schwacher oder ganz ohne Mitbestimmung. Der operative Gewinn liegt bei stärker mitbestimmten Unternehmen im Mittel um knapp 11 Prozent höher, der Cashflow pro Aktie ist sogar mehr als dreimal so hoch wie in Firmen mit wenig Mitbestimmung.“
Das lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Es geht um „Cashflow pro Aktie“ und um „Kapitalrentabilität“. Zu diesem Zweck werden die so genannten „Arbeitnehmervertreter“ in den Aufsichtsräten fürstlich bezahlt, um nicht zu sagen „fett geschmiert“.
Die gewerkschaftlichen Vertreter in den Aufsichtsräten behaupten oft, sie würden davon nicht persönlich profitieren und ihre Tantiemen vollständig an die HBS abführen. Doch das ist gelogen.
Zum einen können sie selbst dann, wenn sie die gewerkschaftlichen Regeln befolgen – wozu sie gesetzlich nicht verpflichtet sind –, mindestens zehn Prozent der Einkünfte für sich behalten. Was sie in die eigene Tasche stecken können, ist leicht nachzurechnen. Im Internet findet sich ein „Abführungsrechner“ des DGB.
Ein Betriebsratsfürst wie Michael Brecht, der als stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats von Daimler 2019 insgesamt eine halbe Million Euro erhielt, könnte demnach 60.000 Euro plus einen Teil der Sitzungsgelder für sich behalten. Hinzu kommen diverse Spesen und Vergütungen für Aufgaben, die er in seiner Funktion als Aufsichtsrat wahrnimmt. Nach Medienangaben bewegt sich das Jahresgehalt von Brecht um die 200.000 Euro. Man kann also mit Fug und Recht davon ausgehen, dass er zusammen mit dem Aufsichtsratsgehalt jährlich weit eine Viertelmillion Euro kassiert.
Andere Betriebsratsfürsten verdienen zum Teil noch besser. So kassiert der Gesamt- und Konzern-Betriebsratschef von VW, Bernd Osterloh, nach eigenen Angaben „in einem guten Jahr“ bis zu 750.000 Euro. Der frühere Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück soll bis zu 500.000 Euro im Jahr erhalten haben.
In anderen Gewerkschaften ist es nicht besser. Frank Werneke (SPD), der letztes Jahr den langjährigen Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske ablöste, ist Mitglied des Aufsichtsrats des Versicherungskonzerns AXA Leben. Seine Stellevertreterin im Verdi-Vorstand, Andrea Kocsis, ist stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Post AG, und Verdi-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger, die bei dem Karstadt-Kaufhof-Kahlschlag eine Schlüsselrolle spielt, sitzt im Aufsichtsrat des Handelskonzerns Rewe.
Christine Behle, ebenfalls Vorstandsmitglied von Verdi, hat von Frank Bsirske den lukrativen Posten des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden bei der Deutschen Lufthansa AG geerbt. Außerdem sitzt sie im Aufsichtsrat der Hapag Lloyd AG, der Bremer Lagerhaus-Gesellschaft und der Dortmunder Stadtwerke AG. Die Liste der Gewerkschaftsfunktionäre, die sich im Rahmen der Mitbestimmung hemmungslos bereichern, ist lang.
Arbeiter können ihre Arbeitsplätze, Löhne und Lebensbedingungen nur verteidigen, indem sie mit den Gewerkschaften brechen, ihre nationalistische Standortpolitik zurückweisen, unabhängige Aktionskomitees aufbauen, sich international zusammenschließen und für ein sozialistisches Programm kämpfen.