Am Montag erklärten Ärzte der Berliner Charité, es gäbe Hinweise, dass Alexei Nawalny, der Führer der Nato-freundlichen liberalen Opposition in Russland, vergiftet worden sei. Ihre Befunde wiesen auf eine „Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin“, so die Charité. Die genaue Substanz habe allerdings noch nicht identifiziert werden können. Berichten zufolge wird Nawalny mit dem Gegenmittel Atropin behandelt.
Berlin und die Europäische Union (EU) griffen den Fall sofort begierig auf. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas (SPD) erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme: „Angesichts der herausgehobenen Rolle von Herrn Nawalny in der politischen Opposition in Russland sind die dortigen Behörden nun dringlich aufgerufen, diese Tat bis ins Letzte aufzuklären – und das in voller Transparenz. Die Verantwortlichen müssen ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden. Wir hoffen, dass Herr Nawalny wieder ganz genesen kann. Unsere guten Wünsche gelten auch seiner Familie, die eine schwere Prüfung durchmacht.“
Auch die EU forderte eine Untersuchung. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, erklärte am Montagabend: „Es ist unerlässlich, dass die russischen Behörden unverzüglich eine unabhängige und transparente Untersuchung einleiten.“ Das französische Außenministerium verurteilte am Dienstag den „kriminellen Anschlag auf eine wichtige Persönlichkeit des politischen Lebens in Russland“ und forderte eine „schnelle und transparente Untersuchung“.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte, Moskau bereite kein Ermittlungsverfahren wegen Nawalnys Krankheit vor: „Die medizinischen Analysen unserer Ärzte und derjenigen in Deutschland stimmen völlig überein. Allerdings kommen sie zu unterschiedlichen Schlüssen. Wir verstehen nicht, warum unsere deutschen Kollegen solche Eile an den Tag legen.“ Er erklärte, es gebe „viele andere medizinische Erklärungsmöglichkeiten“ für Nawalnys Krankheit. Russische Ärzte hatten anfangs eine Stoffwechselstörung bei Nawalny diagnostiziert.
Was Nawalny tatsächlich zugestoßen ist, als er am 20. August an Bord eines Flugzeugs von Tomsk nach Moskau plötzlich erkrankte, ist weiterhin unklar.
Klar ist jedoch, dass Washington, Berlin und andere imperialistische Nato-Mächte versuchen, Russland zu isolieren und einen Regimewechsel durchzusetzen. Diese Kampagne begann mit dem Nato-gestützten Putsch in Kiew im Jahr 2014 und hat jetzt ein neues und kritisches Stadium erreicht. In Belarus ist nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 9. August eine schwere Krise ausgebrochen. Als plötzlich die belarussische Arbeiterklasse aktiv wurde, ist diese Krise vom Standpunkt der imperialistischen Politik komplizierter geworden.
Im Februar 2014 unterstützte die Nato einen rechtsextremen Putsch in Kiew, nachdem die von Russland unterstützte Regierung mit Gewalt gegen EU-freundliche Proteste vorgegangen war. Während dieser Operation erschossen bewaffnete oppositionelle Scharfschützen ukrainische Bereitschaftspolizisten, um das Regime durch das anschließende Vorgehen der Polizei zu diskreditieren und zu stürzen. Die Folge war nicht nur ein Bürgerkrieg in der Ukraine, sondern eine brisante militärische Konfrontation zwischen der Nato und Russland entlang der russischen Grenze in Osteuropa. Mittlerweile sind Nato-Truppen und Militärberater in allen baltischen Republiken, Polen und der Ukraine stationiert.
Als die Oppositionskräfte diesen Monat Proteste gegen den angeblichen Wahlsieg des amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko organisierten, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden, kam es zu Streiks in Fabriken und Arbeitsstätten in ganz Belarus. Das Ausmaß der Kämpfe der Arbeiterklasse in der ehemaligen Sowjetrepublik erschütterte die bürgerlichen Kräfte jeder Couleur. Während sich der Kreml hinter Lukaschenko stellt, unterstützt die EU einen nicht gewählten Koordinationsrat, der von Oppositionsparteien gegründet wurde, die Lukaschenkos Rivalin Swetlana Tichanowskaja nahe stehen.
Die belarussischen Arbeiter wurden auch durch die soziale Ungleichheit und die katastrophale Reaktion der Regierung auf die Corona-Pandemie zum Handeln getrieben. Allerdings herrscht längst nicht nur in Belarus Wut über diese Zustände. Auch in Russland wächst sowohl in der herrschenden Elite als auch in der Arbeiterklasse die Unzufriedenheit mit Präsident Wladimir Putin, was sich letzten Monat in äußerst verzerrter Form bei den Protesten im ostrussischen Chabarowsk äußerte. Die Proteste richteten sich gegen die Absetzung des Regionalgouverneur Sergei Furgal von der rechtsextremen Liberaldemokratischen Partei Russlands (LDPR) durch den Kreml.
Die Proteste in Chabarowsk haben die zunehmenden zentrifugalen Tendenzen im russischen Staatsapparat deutlich gemacht. Am 13. September finden in 18 Regionen Russlands Regionalwahlen statt.
Wenn Nawalny tatsächlich vergiftet wurde, deutet das Timing des Anschlags eindeutig auf eine politische Operation hin. Allerdings bleibt unklar, wer sie durchgeführt hat und mit welcher Absicht. Es ergeben sich zwei grundlegende Möglichkeiten mit vielen zusammenhängenden Varianten. Eine davon lautet: Nawalny wurde von Elementen aus dem Putin-Regime vergiftet, die mit oder ohne Wissen und Unterstützung des Präsidenten handelten. Allerdings ist es fraglich, ob eine so leichtsinnige und offensichtliche Tat das Kreml-Regime stärken würde.
Eine andere Möglichkeit ist, dass oppositionelle Fraktionen in Russland oder ihre imperialistischen Hintermänner Nawalny im Rahmen eines weiteren „False Flag“-Anschlags eine vielleicht nichttödliche Dosis Gift verabreicht haben. Ihre Absicht könnte sein, das russische Regime durch eine Tat zu diskreditieren, von der sie annehmen, dass sie dem Kreml angelastet würde.
Ein solcher Anschlag könnte den politischen Vorteil haben, dass Nawalnys ramponiertes Image als Oppositionspolitiker verbessert wird. Nawalny, ein extrem immigrantenfeindlicher Politiker, soll 2006 über den Thinktank National Endowment for Democracy Gelder der US-Regierung erhalten haben, bevor er 2009 nach Amerika auswanderte, um an dem „Yale World Fellows“-Programm teilzunehmen. Derzeit gilt er unter breiten Schichten der russischen Bevölkerung als Werkzeug der Nato.
Der Verantwortliche für den angeblichen Giftanschlag auf Nawalny wurde zwar noch nicht identifiziert, doch europäische Politiker und Medien überschlagen sich schon jetzt mit lautstarken Anschuldigungen gegen das Putin-Regime.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des deutschen Bundestags, Norbert Röttgen (CDU), erklärte: „Obwohl ein starker Verdacht schon bestand, ist die Gewissheit der Vergiftung schockierend und eine abstoßende Politik der russischen Führung. Die Politik der Vergiftung besteht darin, Oppositionelle heimtückisch auszuschalten und eine klare Botschaft an alle russischen Bürgerinnen und Bürger zu senden: Wer demokratisch opponiert, lebt gefährlich. Jede Naivität und Verharmlosung, die immer wieder gerade auch in Deutschland gegenüber Russland empfohlen wird, ist deplatziert.“
Auch der außenpolitische Sprecher der Grünen, Omid Nouripour, gab Russland die Schuld: „Es ist nun für jeden offensichtlich, dass diese Art von Mordversuchen und Morden System hat.“ Über die Vorwürfe, Moskau habe die Familie Skripal im britischen Salisbury vergiftet und einen ehemaligen tschetschenischen Milizführer im Berliner Tiergarten erschossen, fügte er hinzu: „Die Briten haben nach dem Anschlag in Salisbury den EU-Rat angerufen, die Bundesregierung hat das nach dem Tiergarten-Mord nicht getan. Nun ist es dafür höchste Zeit und eine gute Gelegenheit – immerhin hat Deutschland gerade die Ratspräsidentschaft inne.“
Der Moskau-Korrespondent von Le Monde, Benoît Vitkine, zitierte in einer Kolumne mit dem Titel „Was die Nawalny-Affäre über das System Putin enthüllt“ dreist einen Twitter-Hashtag #WeKnowWhoIsGuilty, den die Anhänger der russischen Opposition benutzen, als Beweis, dass Putin verantwortlich für Nawalnys Erkrankung ist: „Ein französischer Botschafter, der für Menschenrechte zuständig ist, hat diese Forderung geteilt. Hinter diesen Worten verbirgt sich eine einfache Wahrheit: Politische Gewalt ist ein inhärenter Bestandteil des Systems Putin.“
Tatsächlich haben die 30 Jahre seit der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie – mit geopolitisch katastrophalen Folgen – gezeigt, dass reaktionäre Gewalt ein inhärenter Bestandteil des kapitalistischen Systems ist. Der Nato-Kriegskurs im Nahen Osten, Osteuropa und Zentralasien, der durch die Auflösung des wichtigsten militärischen Gegengewichts zu den imperialistischen Mächten möglich wurde, hat eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, mit Millionen Toten und Dutzenden Millionen Flüchtlingen. Seit dem Putsch in der Ukraine hat die Nato ihre Militärübungen und Vorbereitungen auf einen direkten Angriff auf die Atommacht Russland immer weiter forciert.
Das Wiederaufleben des Klassenkampfs auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stellt ein wichtiges neues Stadium dieser politischen Krise dar. Es sieht ganz danach aus, dass die Nato-Mächte Nawalny angesichts der zunehmenden Kriege und Klassenkämpfe als Werkzeug benutzen, um sich in die russische Politik einzumischen. Doch wenn die politischen Kräfte um Nawalny in Russland mehr Macht erhielten, würden sie der Arbeiterklasse als unerbittlicher Feind gegenübertreten.
Die Kriegsgefahr, die wachsende soziale Ungleichheit und die katastrophale Reaktion der Elite auf die Corona-Pandemie können nur auf fortschrittlichem Weg bekämpft werden, wenn die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines revolutionären sozialistischen und internationalistischen Programms in den Kampf eintritt. In Russland, Belarus und im Rest der Welt erfordert dies den Aufbau der trotzkistischen Bewegung gegen die kriminelle kapitalistische Oligarchie, die aus der stalinistischen Wiedereinführung des Kapitalismus hervorgegangen ist. Dies muss ein integraler Bestandteil einer internationalen Massenbewegung der Arbeiterklasse gegen Krieg und die mörderische Corona-Politik sein, die die kapitalistischen Regierungen weltweit ergriffen haben.