Urteil im Lübcke-Mordprozess: Die Mär vom „Einzeltäter“

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat am Donnerstag das Urteil im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke gesprochen. Es folgte demselben Muster wie das Oberlandesgericht München vor zweieinhalb Jahren im NSU-Prozess: Der Hauptangeklagte erhielt die Höchststrafe, sein Komplize eine milde Verwarnung; die rechtsterroristischen Netzwerke, die hinter dem Mord stehen und tief in den Staatsapparat hineinreichen, wurden gedeckt und ausgeblendet.

Das Gericht verurteilte den 47-jährigen Neonazi Stephan Ernst zu lebenslanger Haft, weil er in der Nacht zum 2. Juni 2019 den CDU-Politiker Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen hat. Die Richter stellten zudem die besondere Schwere der Schuld fest, was eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren so gut wie ausschließt. Am Ende der Haftzeit kann das Gericht außerdem eine anschließende Sicherungsverwahrung anordnen.

An Ernsts Schuld bestanden keine Zweifel. Er war zwei Wochen nach dem Mord aufgrund von DNA-Spuren am Tatort identifiziert worden. Nach seiner Verhaftung hatte er die Tat gestanden und die Polizei zum Versteck der Mordwaffe geführt. Zwischendurch hatte er sein Geständnis zwar auf Anraten eines rechten Szene-Anwalts wiederrufen, dann aber ein neues Geständnis abgelegt. Auch während des Prozesses bekannte er sich zur Tat.

In einem weiteren Anklagepunkt wurde Ernst freigesprochen. Obwohl die Staatsanwaltschaft zahlreiche Beweise vorlegte (darunter eine DNA-Spur, die auf einem Messer in Ernsts Haus gefunden wurde), hielt es das Gericht nicht für erwiesen, dass er am 6. Januar 2016 versucht habe, Ahmed I. zu ermorden. Der irakische Asylbewerber war in der Nähe von Ernsts Haus mit einem Messer angegriffen und niedergestochen worden.

Ernsts Komplize, der bekennende Neonazi Markus H., wurde lediglich wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Er war bereits im Oktober aus der U-Haft entlassen worden und verließ den Gerichtssaal als freier Mann. Die Bewährungszeit beträgt drei Jahre.

Die Bundesanwaltschaft hatte H. wegen Beihilfe zum Mord angeklagt und eine Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten gefordert. Sie beschuldigte ihn, Ernst in seiner Mordabsicht bestärkt, seinen Hass mit ihm geteilt, ihn radikalisiert und ihm das Schießen beigebracht zu haben. Lübckes Familie, die als Nebenklägerin auftrat, ging noch weiter und warf H. eine direkte Beteiligung am Mord vor. Sie stützte sich dabei auf die Aussage von Ernst, der seinen Komplizen im Prozess beschuldigte, er sei in der Mordnacht mit am Tatort gewesen.

Die Richter wiesen sowohl den Vorwurf der Beihilfe wie den der Mittäterschaft mit der Begründung zurück, sie seien nicht zweifelsfrei erwiesen. Die Beschuldigungen Ernsts erachteten sie als unglaubwürdig, weil er die Rolle H.s mehrmals unterschiedlich dargestellt hatte.

Dabei ist offensichtlich, dass es „ohne H. den Mord an Walter Lübcke nicht gegeben“ hätte, wie der Anwalt der Familie Lübcke, Holger Matt, in seinem Schlussplädoyer sagte.

Ernst und H. kannten sich seit den 1990er Jahren aus gemeinsamen Aktivitäten in Neonazi-Organisationen. Im Oktober 2015 besuchten sie gemeinsam die Veranstaltung in Lohfelden, auf der Lübcke die Unterbringung von Flüchtlingen in seinem Regierungsbezirk verteidigte und Pegida-Anhängern entgegentrat. H. veröffentlichte anschließend ein Video der Veranstaltung im Internet, das Lübcke zum Ziel einer rechten Hetzkampagne machte, an der sich von Neonazis über die AfD bis hin zu Teilen seiner eigenen Partei, der CDU, alles beteiligte.

Seither hatten Ernst und H. den Mord gemeinsam vorbereitet. Sie trainierten zusammen das Schießen, legten ein Waffenarsenal an, besuchten AfD-Demonstrationen und kommunizierten über verschlüsselte Chats, die sie nach dem Mord löschten. Vieles deutet darauf hin, dass H. dabei die treibende Kraft war. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung wurden neben zahlreichen Schusswaffen und Munition eine Hitlerbüste sowie rechtsextreme Literatur gefunden. Seine Stifte bewahrte er in einer alten Zyklon-B-Dose auf; mit dem Giftgas hatten die Nazis die Juden ermordet.

All das war bekannt. Doch weder die Ermittler noch die Richter zeigten Interesse, tiefer nachzuforschen. Das hätte das Augenmerk unweigerlich auf die rechtsradikalen Netzwerke gelenkt, in denen Ernst und H. aktiv waren. Sie reichen tief in den Sicherheitsapparat hinein und werden von höchster Stelle gedeckt. Deshalb versteifte sich das Gericht auf die These vom Einzeltäter und ließ H. laufen.

Bereits im September 2019 schrieben wir im Artikel „Das rechtsextreme Netzwerk des Lübcke-Mörders“: „Alles deutet darauf hin, dass Ernst und H. – wie bereits der NSU – Teil eines weit größeren rechtsterroristischen Netzwerks sind. … Es ist inzwischen bekannt, dass die Neonazi-Szene in Kassel enge Kontakte zum NSU unterhielt, der im April 2006 in Kassel mit Halit Yozgat sein neuntes Opfer ermordete.“

Laut dem Politikwissenschaftler Hajo Funke, einem führenden Experten für Rechtsextremismus, agierte der mehrmals vorbestrafte Ernst in einer rechtsterroristischen Szene, zu der „das who´s who der C 18 und NSU- Unterstützerszene“ gehört. Die Rechercheplattform Correctiv hat kürzlich die zahlreichen Verbindungen zwischen Ernst, der Kasseler Neonazi-Szene und dem Unterstützerkreis des NSU aufgelistet, in dem sich auch zahlreiche Informanten des Verfassungsschutzes bewegen.

Ernst selbst war mit dem V-Mann Benjamin Gärtner (Deckname „Gemüse“) befreundet, der unter der Führung des Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme als V-Mann arbeitete. Temme saß im Internet-Café von Halit Yozgat, als dieser ermordet wurde, und wechselte später ins Regierungspräsidium von Walter Lübcke.

Die Informationen über diese Verschwörung werden von staatlicher Seite mit eiserner Hand unterdrückt. Die Akten des hessischen Verfassungsschutzes, die über die Hintergründe des Lübcke-Mordes Aufklärung geben könnten, bleiben nach dem Willen der schwarz-grünen Landesregierung noch jahrzehntelang unter Verschluss. Daran wollten weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft rütteln.

Rechtsanwalt Alexander Hoffmann, der im Lübcke-Prozess Ahmed I. vertrat und auch im Münchener NSU-Prozess als Nebenkläger tätig war, sagte in einem Interview mit dem Spiegel: „Ich bin nicht mehr erstaunt: Wir haben im Laufe des NSU-Prozesses erlebt, dass die Ermittlungsbehörden sich weigern, strukturelle Probleme und grundsätzliche Fehler anzuerkennen und einzugestehen.“

„Ich dachte, dass Politiker den Angriff auf Walter Lübcke als Angriff auf sich selbst betrachten würden und damit ein direktes, unmittelbares Interesse an diesem Prozess hätten,“ ergänzte er. „Aber davon hat man nichts gemerkt.“ Die Politik tue „sich insgesamt schwer, sich eindeutig und vollständig nach rechts abzugrenzen – selbst gegenüber Neonazis. Weil man sich dann auch inhaltlich vollständig abgrenzen müsste, beispielsweise in der Flüchtlingspolitik.“

Die WSWS hatte bereits zwei Wochen nach der Ermordung Lübckes gewarnt: „Lübckes Ermordung ist nicht das Ergebnis staatlicher Schwäche, sondern der systematischen Unterstützung rechtsextremer Kräfte durch den Staat und die herrschenden Eliten. Darin besteht das schmutzige Geheimnis der deutschen Politik. Diese Unterstützung reicht von der systematischen Verharmlosung rechtsextremer Gewalttaten und der buchstäblichen Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge, über die gezielte Förderung der AfD und die Beschönigung der Verbrechen der Nazis an den Universitäten, bis zur Duldung und Förderung rechtsterroristischer Gruppen durch Teile des Sicherheitsapparats.“

Das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt hat diese Warnung bestätigt. Stephan Ernst wurde als „Einzeltäter“ verurteilt, die rechtsterroristischen Netzwerke, die den Mord erst ermöglicht haben, werden gedeckt und arbeiten weiter. Wie in der Weimarer Republik, als paramilitärische Gruppen mit staatlicher Deckung die Arbeiterklasse terrorisierten, werden sie gebraucht, um den wachsenden Widerstand gegen soziale Ungleichheit, Staatsaufrüstung und Militarismus zu unterdrücken.

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