Obwohl die Corona-Infektionen dramatisch ansteigen und Wissenschaftler und Mediziner eindringlich vor einer Überlastung des Gesundheitssystems warnen, setzten die Bundes- und Landesregierungen ihre skrupellose Profite-vor-Leben-Politik fort. Selbst die völlig unzureichende Bundesnotbremse wird gezielt verwässert und hinausgezögert. Nun stehen die Kliniken unmittelbar vor der Überlastung.
Besonders dramatisch ist die Lage in Thüringen. Die Krankenhäuser in Jena und dem Hotspot Greiz, wo die Inzidenz seit Wochen über 500 liegt, können die Corona-Patienten, die intensivmedizinisch versorgt werden müssen, nicht mehr behandeln. Zunächst sollen fünf schwer an Covid-19 erkrankte Patienten auf Intensivstationen in anderen Bundesländern verlegt werden, wie Professor Michael Bauer, Chefarzt der Jenaer Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, bekannt gab.
Laut Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) liegen derzeit 220 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen von Thüringer Krankenhäusern. Davon werden mehr als die Hälfte (128) invasiv beatmet. 638 von 701 Intensivbetten sind belegt. 63 Betten sind frei, von denen nur 29 spezifisch für die Behandlung von Covid-19-Kranken ausgestattet sind, und täglich steigt die Zahl der Einweisungen.
Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Freitag für Thüringen weitere 1190 Neuinfektionen und ein Ansteigen der Inzidenz auf 259. Bereits zum Jahresende 2020 mussten mehrere Covid-19-Patienten aus Thüringen verlegt werden. Die steigenden Zahlen sind das Ergebnis der Öffnungspolitik der Landesregierung unter Bodo Ramelow (Die Linke). Trotz der absehbaren Entwicklung hatte sie vor Ostern weitere Lockerungen beschlossen.
Auch in Bayern herrscht bereits jetzt an der Mehrzahl der Kliniken Notbetrieb. Im Schnitt hat sich der Anteil der Covid-19-Patienten in den bayerischen Krankenhäusern in den letzten drei Wochen verdoppelt. Roland Engehausen, der Geschäftsführer der bayerischen Krankenhausgesellschaft (BKG), erklärte, dass Ende des Monats ein neuer Höchststand in den Kliniken mit Sicherheit zu erwarten sei. Weiter warnte er: „Wenn die Zahl der Neuinfizierten nicht runtergeht, dann werden wir ab Mai in einem Bereich sein, den wir nicht kennen.“
Aktuell werden in Bayern mehr als 2500 Covid-19-Patienten stationär behandelt, 700 werden intensivmedizinisch versorgt. Vor einer Woche waren es noch fast 200 weniger gewesen. Im gesamten Bundesland gibt es nur noch 340 Intensivbetten mit der Möglichkeit zur invasiven Beatmung.
Selbst eine Sprecherin des Ministeriums musste eingestehen, dass bei einem weiteren Anstieg „eine Beeinträchtigung der Krankenhausversorgung, insbesondere der regulären Notfallversorgung“, bevorsteht. Eine Sprecherin des Klinikums Nürnberg erklärte am Freitag, dass am Donnerstagabend für kurze Zeit alle Intensivbetten in der Region belegt gewesen seien.
Die Krankenpflegerin Rali Guemedji, die auf der Intensivstation im Klinikum Nürnberg arbeitet, berichtete in einem Video über die dortigen Arbeitsbedingungen. „Jeden Tag, jede Stunde arbeitet das Personal des Klinikums – die Reinigungskräfte, die Pflegekräfte, die Ärzte – am Limit. Viele haben schlaflose Nächte, weil sie sehen, dass auch junge Menschen ohne jegliche Vorerkrankung leiden und sterben“, so Guemedji.
Die Folgen eines weiteren Anstiegs der Patientenzahlen in den Kliniken sind recht klar. Michael Hallek vom Kölner Universitätsklinikum sagte dem Kölner Stadtanzeiger, dass man von einer „harten Triage“ im Uniklinikum nicht mehr weit entfernt sei. Bei der Triage müssen Ärzte aufgrund mangelnder Ressourcen entscheiden, welcher Patient eine möglicherweise lebensrettende Behandlung erhält und welcher nicht. „Wenn die Zahlen zu schnell steigen, lässt es sich womöglich nicht mehr vermeiden. In den nächsten Wochen könnte es passieren. Das System ist am Anschlag“, erklärte der Mediziner.
Andere Ärzte haben berichtet, dass die sogenannte „weiche Triage“ infolge der hohen Auslastung bereits gang und gäbe sei. Durch das notwendige Ablehnen von Patienten oder das Verschieben von Operationen entständen häufig massive gesundheitliche Nachteile auch für Nicht-Covid-Patienten. Notfälle könnten „nicht immer umfassend bei uns versorgt werden“, sagte Hallek. Selbst Covid-Patienten, die lebensbedrohlich erkrankt sind, könne nicht mehr in allen Fällen geholfen werden. „Das hatten wir noch nie.“
Steffen Weber-Carstens von der Berliner Charité verwies darauf, dass in vielen Regionen nur noch 10 Prozent oder weniger freie Kapazitäten auf den Intensivstationen zur Verfügung stehen. Für eine Intensivstation mit zwölf Betten bedeute dies gerade Mal ein Bett. Er warnte davor, „sehenden Auges in eine Spitzenbelastung“ zu gehen und ein „Absaufen“ des Gesundheitssystem zu riskieren.
Von den knapp 30.000 am Donnerstag gemeldeten Infizierten würden in spätestens vierzehn Tagen rund 300 bis 600 schwer erkranken und müssten auf Intensivstationen behandelt werden, warnte Gernot Marx vom DIVI.
Wegen der Ausbreitung der Virus-Mutanten und dem langsamen Fortschreiten des Impfens müssen nicht mehr nur, wie im letzten Jahr, vorwiegend betagte und vorerkrankte Menschen auf den Intensivstationen behandelt werden, sondern deutlich jüngere, die meist keine nennenswerte Vorerkrankungen haben.
Laut Martin Kreis von der Charité liegt die Altersspanne hier zwischen 30 und 60 Jahren. In Berlin allein müssen derzeit wöchentlich 40 neue Intensivbetten bereitgestellt werden, um die Patienten versorgen zu können. Deutschlandweit kommen täglich 50 bis 100 Patienten zusätzlich auf die Intensivstationen. Jeder zweite Patient, der beatmet werden muss, verstirbt.
Der Regierungsberater Rolf Apweiler sagte ntv, er gehe von weit höheren Corona-Fallzahlen aus, als derzeit gemeldet würden. Wegen des Rückgangs der Testungen über die Osterferien müsse man eigentlich von einer 30-40 Prozent höheren Inzidenz ausgehen. Man stehe noch immer am Anfang der flächendeckenden Ausbreitung der Virusmutante B.1.1.7. „Vielen Kreisen steht das Schlimmste erst bevor. Diese Gefährdungslage kann man nicht wegdiskutieren“, sagte Apweiler.
Der Leiter des DIVI-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, appellierte erneut an die Regierungen, endlich wirksame Maßnahmen gegen eine weitere Ausbreitung zu treffen. „Wir sind den Tod gewohnt, aber so etwas hat es noch nicht gegeben“, sagte er dem Tagesspiegel. Selbst nach einer drastischen Verschärfung der Maßnahmen werde es mindestens zwei Wochen dauern, bis die Patientenzahl in den Kliniken zurückgehe.
Die Beschäftigten in den Kliniken arbeiten seit über einem Jahr am Limit. Das bleibt nicht ohne Folgen. Schon jetzt können bei weitem nicht alle verfügbaren Betten in deutschen Kliniken betrieben werden, weil es an qualifiziertem Personal mangelt.
Zwischen April und Juli verließen laut Bundesagentur für Arbeit 9000 Krankenpflegekräfte den Beruf. Einer Umfrage des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe ergab, dass 32 Prozent von knapp 3600 Befragten häufiger darüber nachdenken, den Beruf aufzugeben. Fast ein Drittel der Befragten arbeiten auf einer Intensiv- oder Covid-19-Station. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, hat bereits vor „katastrophalen Folgen“ gewarnt.
Trotz dem drohenden Kollaps des Gesundheitssystems halten die Bundes- und Länderregierungen an ihrer Durchseuchungspolitik fest. Weiterhin werden mit allen Mitteln Betriebe und Schulen offen gehalten, um die Profite von Unternehmen und Superreichen zu sichern. Dieser kriminellen Politik kann nicht mit Appellen an die Politiker begegnet werden, die dafür verantwortlich sind. Nur die breite Mobilisierung der Arbeiterklasse auf einem internationalen, sozialistischen Programm kann dem entgegenwirken.