Stalins Großer Terror: Ausgrabungen an Hinrichtungsstätte abgeschlossen

Am 20. Mai eröffnete das Staatliche Museum der Geschichte des Gulag sein neues Informationszentrum „Kommunarka“. Kommunarka ist ein Stadtteil von Russlands Hauptstadt Moskau. Berüchtigt ist der Ort, weil hier unter Stalins Großem Terror Massenhinrichtungen stattfanden. Besucher können die Stätte erkunden und einen Überblick über ihre Geschichte und die Ausgrabungsarbeiten gewinnen.

Archäologen und Historiker haben erst vor Kurzem ihre Arbeit beendet, die sterblichen Überreste der 6.609 Menschen zu finden und freizulegen, die hier zwischen 1937 und 1941 hingerichtet wurden. Die meisten waren Opfer des Großen Terrors von 1936–1938. In diesem Zeitraum liquidierte die stalinistische Bürokratie praktisch den gesamten Kader der bolschewistischen Partei, der an der Oktoberrevolution von 1917 beteiligt gewesen war. Sehr viele Mitglieder der Dritten, Kommunistischen Internationale (Komintern), die 1919 unter Führung der Bolschewiki gegründet worden war, wurden ebenfalls getötet.

Die Bürokratie, die diese Verbrechen beging, war eine privilegierte Kaste innerhalb des Arbeiterstaates. Sie entstand aufgrund der internationalen Isolation des Landes und seiner relativen ökonomischen Rückständigkeit. Stalin war der Führer dieser parasitären Elite, die in immer direkteren Gegensatz zu dem internationalistischen und egalitären Programm der Oktoberrevolution geriet und die sozialistischen Bestrebungen der sowjetischen Arbeiterklasse aufgegeben hatte. Die Parteifraktion um Stalin vertrat das nationalistische Programm des „Sozialismus in einem Land“, und damit verriet sie eine Arbeiterrevolution nach der anderen, was besonders in Deutschland und China verheerende Folgen hatte.

Leo Trotzki, zusammen mit Lenin Führer der Oktoberrevolution, widersetzte sich dem nationalistischen Verrat an der Weltrevolution durch den Stalinismus. Er gründete 1923 die Linke Opposition. In Deutschland führte die verheerende Politik der stalinisierten Komintern dazu, dass 1933 die Nazis an die Macht kamen, und die deutsche Arbeiterklasse eine furchtbare Niederlage erlitt. Daraufhin gründete Trotzki 1938 die Vierte Internationale.

In den drei Moskauer Prozessen von 1936–1938 wurden prominente Führer der Revolution unter falsche Anklagen gestellt. Durch harte Folter erzwang man in diesen Schauprozessen falsche Geständnisse über ihre angeblich „konterrevolutionären“ Aktivitäten.

Die Geschichte von „Kommunarka“

An der Hinrichtungsstätte „Kommunarka“ starben einige der bekanntesten Opfer der Prozesse. Sie vermittelt einen Eindruck von der Größenordnung des Terrors, der wenigstens 700.000 Opfer forderte. Zu den hier Erschossenen und Begrabenen gehören:

Nikolai Bucharin (1888–1938) und Alexander Rykow (1881–1838), beide bereits vor 1917 Führer der bolschewistischen Partei; später, 1928–1929, gehörten sie der kurzlebigen „Rechten Opposition“ gegen die Stalin-Fraktion an. Als Angeklagte im dritten Moskauer Prozess 1938 wurden sie zum Tod verurteilt.

Lew Lewin (1870–1938), ein Kreml-Arzt, der prominente sowjetische Politiker und Kulturschaffende behandelt hatte, unter ihnen Wladimir Lenin, Felix Dzershinski und der Schriftsteller Maxim Gorki. Auch Lewin war Angeklagter im dritten Moskauer Prozess.

Nikolai Krestinski (1883–1938), Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees 1917 und einer der ersten Sekretäre des Zentralkomitees nach der Revolution. Krestinski unterstützte die Linke Opposition von 1923–1928. Auch er war Angeklagter im dritten Moskauer Prozess.

Wladimir Antonow-Owsejenko (1883–1938), leitete die Erstürmung des Winterpalais im Oktober 1917. Wie Krestinski war er ein bekanntes Mitglied der Linken Opposition in den 1920er Jahren und einer der Unterzeichner ihres Gründungsdokuments, der Erklärung der 46. Im Dezember 1927, nach seinem Ausschluss aus der bolschewistischen Partei, kapitulierte Antonow-Owsejenko vor Stalin. Später, 1936–1937, spielte er im spanischen Bürgerkrieg als ausführendes Organ von Stalins Politik eine unrühmliche Rolle. Er wurde nach Moskau zurückbeordert und am 10. Februar 1938 hingerichtet.

Walerian Osinski-Obolenski (1887–1938), Bolschewik seit 1907, Ökonom, wurde nach der Machteroberung 1917 erster Vorsitzender des VSNKh, des Obersten Rats für Volkswirtschaft. Als „demokratischer Sozialist“ unterstützte er 1923–1924 die Linke Opposition, sagte sich aber bald von ihr los und spielte dann in verschiedenen staatlichen Wirtschaftsinstitutionen eine führende Rolle. Später arbeitete er als Direktor des Instituts für Geschichte der Naturwissenschaft und Technik an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Im dritten Moskauer Prozess musste er als „Zeuge“ auftreten, ehe er 1938 hingerichtet wurde.

Boris Malkin (1891–1938), früher ein Führer der Linken Sozialrevolutionäre, schloss sich 1918 den Bolschewiki an. Er arbeitete an der Produktion der ersten Tonaufnahmen von Lenins Reden mit und wurde eine wichtige Figur des kulturellen Lebens der Sowjetunion. Er arbeitete mit dem Regisseur Sergei Eisenstein zusammen, war mit dem Dichter Wladimir Majakowski befreundet, gab mehrere Zeitschriften heraus und war an der Leitung des Theaters von Wsewolod Meyerhold in den 1920er Jahren beteiligt.

Turar Ryskulow (1894–1937) und Kaikhasiz Sardarowitsch Atabayew (1887–1938), zwei führende Kommunisten aus Turkmenistan.

Hryhorij Hrynko (1890–1938), ein Kommunist der Ukraine, der zuvor Mitglied der Ukrainische Partei der sozialistisch–revolutionären Borotbisten (Kommunisten) war. Von 1930–1937 war er Volksminister für Finanzen der UdSSR.

Pawel Tswetkow (1906–1938), ein bulgarischer Kommunist, der in der Führung der kommunistischen Jugendbewegung (Konsomol) mitarbeitete. Später emigrierte er in die Sowjetunion und arbeitete in einer Fabrik in Moskau.

Zu den Opfern zählen auch Mitglieder der Kommunistischen Parteien Chinas und Koreas, Studenten der Moskauer Universitäten, Arbeiter aus verschiedenen Fabriken in Moskau und Umgebung, Wissenschaftler, Wirtschaftsfachleute und literarische Persönlichkeiten. Auch viele Opfer der Säuberungen in der Roten Armee, unter ihnen Dutzende hingerichtete hochrangige Militärführer, wurden hier an der „Kommunarka“ vergraben. Viele von ihnen waren während des Bürgerkriegs von Trotzki ausgebildet worden. Die Enthauptung der Roten Armee zeitigte verheerende Auswirkungen, als die Nazis wenige Jahre später, 1941, die Sowjetunion überfielen und einen Krieg begannen, der mindestens 27 Millionen Sowjetbürger das Leben kostete.

Die „Kommunarka“-Hinrichtungsstätte befand sich auf dem Boden des Luxusanwesens von Genrich Jagoda, der viele Jahre den sowjetischen Geheimdienst NKVD leitete. Er spielte eine finstere und führende Rolle im Großen Terror, ehe er und seine Untergebenen 1938 diesem selbst zum Opfer fielen. Auch Jagoda ist hier begraben. Die Stätte selbst unterlag bis zum Herbst 1991, nur wenige Monate vor der Auflösung der Sowjetunion, völliger Geheimhaltung.

Ihre genaue Lage, und die vieler anderer Massenhinrichtungsstätten aus der Zeit des Großen Terrors, blieben jahrzehntelang unbekannt. Die NKVD-Order zu „antisowjetischen Elementen“, die den Auftakt zum schlimmsten Wüten des Großen Terrors bildete, hatte betont, dass die Erschießungen „bei gleichzeitiger vollständiger Geheimhaltung von Zeit und Ort“ erfolgen sollten. Die Lage dieser und anderer Massenhinrichtungsstätten war ein Staatsgeheimnis, und relevante Dokumente darüber wurden systematisch vernichtet.

Seit 2012 stellten Freiwillige und Historiker Nachforschungen in der Umgebung an, doch die exakte Lage der Massengräber blieb noch Jahre im Dunkeln. Die professionelle Erforschung unter Beteiligung von Archäologen und Historikern begann erst 2018 auf Initiative des Gulag-Museums. Erst als Historiker im US-Nationalarchiv Luftaufnahmen von Aufklärungsflugzeugen der deutschen Luftwaffe vom 26. August 1942 entdeckten, konnten sie die Massengräber eindeutig identifizieren.

Das politische und kulturelle Klima, in dem diese Forschungen stattfinden, ist durch den Versuch des russischen Staats geprägt, die Geschichte der Oktoberrevolution zu fälschen, den Stalinismus zu verherrlichen und üble antisemitische Verleumdungen gegen die Führer der Revolution, vor allem gegen Leo Trotzki, zu verbreiten. Die russische Regierung hat auch Archivdokumente über die Opfer der Säuberungen unter Geheimhaltung vernichtet.

Die Öffnung des Museums fällt mit dem dritten Prozess gegen Juri Dmitriew zusammen, der in Sandarmoch in Karelien eine Hinrichtungsstätte entdeckt hat. Der 65jährige Dmitriew wurde auf Basis von aufgebauschten Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Der staatliche Rachefeldzug gegen ihn soll jeden einschüchtern, der die Wahrheit über die Verbrechen des Stalinismus aufdecken will.

Die politische Orientierung des Museums ist antikommunistisch. Die Dauerausstellung lässt die Linke Opposition nahezu unerwähnt und tendiert dazu, den politischen Charakter der stalinistischen Unterdrückung jeder Opposition in der Sowjetunion zu verbergen. Stattdessen stellt sie den Terror als natürliches Ergebnis der Oktoberrevolution dar. Auf der Website des neuen Informationszentrums gibt es zu den Namen der Ermordeten nur kürzeste Angaben zu ihrer Biografie, die ihre Beteiligung (oder Nichtbeteiligung) an der Oktoberrevolution und der Linken Opposition ignorieren.

Die Ursprünge des Großen Terrors

Diese Herangehensweise verdunkelt die tatsächlichen historischen Ursprünge und die Bedeutung des Großen Terrors. Der Terror stand nicht in der Kontinuität der Oktoberrevolution, sondern bildete den Höhepunkt der stalinistischen und nationalistischen Reaktion gegen die Oktoberrevolution. Die Wucht der Säuberungen erfasste mehrere zehntausend Trotzkisten. Diese Säuberungen stellten im Wesentlichen, in den Worten des sowjetischen Historikers Wadim Rogowin, einen „politischen Völkermord“ dar. Hauptangeklagter in den Moskauer Prozessen war Leo Trotzki, der wie kein anderer die sozialistische Opposition gegen den Stalinismus und das Programm der sozialistischen Weltrevolution verkörperte. Die Beschuldigung „konterrevolutionäre trotzkistische Aktivität“ stand im Zentrum der mörderischen Säuberungen.

Die Dewey-Kommission von 1937 sprach Leo Trotzki und seinen Sohn Leo Sedow von allen Anschuldigungen der stalinistischen Bürokratie frei und definierte die Prozesse als Schauprozesse. In seinem Schlusswort vor der Dewey-Kommission erläuterte Trotzki die dem Terror zugrundeliegenden Motive und die monströsen Justizkomplotte, bei denen sich Führer der Oktoberrevolution selbst als Saboteure und „Konterrevolutionäre“ anklagen mussten:

Die Lage der privilegierten Bürokratie in der Gesellschaft, die sie selbst sozialistisch nennt, ist nicht nur widerspruchsvoll, sondern auch falsch. Je schärfer der Sprung von der Oktoberrevolution, die die soziale Lüge bis auf den Grund enthüllte, zur heutigen Lage, die eine Kaste von Parvenüs zwingt, die sozialen Wunden zu maskieren – umso tiefer die thermidorianische Lüge. Es handelt sich folglich nicht um eine individuelle Lasterhaftigkeit der einen oder der anderen Person, sondern um das Lasterhafte einer ganzen sozialen Gruppe, für die die Lüge eine politische Lebensfunktion geworden ist. Im Kampfe um ihre neuen Positionen hat sich diese Kaste selbst ganz neu erzogen und parallel damit hat sie ihre Führer erzogen oder richtiger demoralisiert. Sie hat auf ihren Schultern jenen hochgehoben, der am besten, am entschiedensten und am erbarmungslosesten ihre Interessen ausdrückt. So wurde Stalin, der einstmals ein Revolutionär war, zum Führer der thermidorianischen Kaste.

Die Formeln des Marxismus, die die Interessen der Massen ausdrücken, haben die Bürokratie immer mehr behindert, insofern sie sich unvermeidlich gegen die Interessen dieser Bürokratie wenden. Seit ich mich in die Opposition zur Bürokratie gestellt habe, begannen deren Hoftheoretiker das revolutionäre Wesen des Marxismus Trotzkismus zu nennen… Die ununterbrochenen Säuberungen der Partei waren vor allem auf die Ausrottung des Trotzkismus gerichtet, wobei als Trotzkisten nicht nur unzufriedene Arbeiter bezeichnet wurden, sondern auch alle jene Schriftsteller, die gewissenhaft historische Tatsachen und Zitate anführten, die dem letzten offiziellen Standard widersprachen. Dichter und Künstler unterwarfen sich dem gleichen Regime. Die geistige Atmosphäre des Landes wurde durch und durch vom Gift der Konvention, der Lüge und der direkten Fälschung erfüllt.

Alle Möglichkeiten auf diesem Wege waren jedoch bald erschöpft. Theoretische und historische Falsifikationen erfüllten nicht mehr den Zweck: man gewöhnte sich zu sehr an sie. Man musste den bürokratischen Repressalien eine massivere Begründung geben. Den literarischen Falsifikationen kamen Beschuldigungen kriminellen Charakters zu Hilfe… Um die Repressalien zu rechtfertigen, brauchte man falsche Beschuldigungen. Um den falschen Beschuldigungen Gewicht zu verleihen, musste man sie durch noch schärfere Repressalien bekräftigen. So stieß die Logik des Kampfes Stalin auf den Weg der blutigen Prozessamalgame.

Mit den Säuberungen konsolidierte die Bürokratie ihre Stellung als eine Kaste und bewies dem Imperialismus, dass sie die sozialistische Revolution ablehnte, auch in jedem anderen Land der Welt. Darüber hinaus versuchte die Bürokratie, die Oktoberrevolution in den Augen von Millionen Arbeitern weltweit zu diskreditieren, indem sie ihre Führer beschmutzte, ehe sie sie ermordete, und das historische und sozialistische Bewusstsein der Arbeiterklasse in der UdSSR und international zerstörte. Die stalinistische Auflösung der Sowjetunion 1991, vor dreißig Jahren, aus der das Putin-Regime hervorging, kann man nur in diesem breiteren Zusammenhang verstehen.

Leo Trotzki berät sich mit seinem Anwalt Albert Goldman während der Anhörungen der Dewey-Kommission in Coyoacan, Mexiko. Links von Trotzki seine Frau Natalia

Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Bemühungen, die Massengräber zu lokalisieren und biografische Informationen über die Ermordeten zu sichern, ein wichtiger und unersetzlicher Beitrag zur Erforschung der Geschichte. Wer die vollständige historische Wahrheit wiederherstellen und diese wichtige Erfahrung in der Geschichte der internationalen Arbeiterklasse ganz verstehen will, muss den Kampf studieren, den Trotzki und die Linke Opposition gegen den Stalinismus geführt haben.

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