GDL schiebt Bahnstreik auf die lange Bank

Der Streik der Lokführer und Zugbegleiter hat in der Arbeiterklasse große Sympathie hervorgerufen. Besonders Tram- und Busfahrer der öffentlichen und privaten Nah- und Fernverkehrsbetriebe haben ihn aufmerksam verfolgt. In Facebook- und WhatsApp-Gruppen reagierten viele von ihnen auf die Streikberichte der WSWS mit Daumen hoch und Kommentaren wie: „Endlich!“, „Meine Unterstützung haben sie“, oder: „Ich stehe voll und ganz dahinter“.

Nachdem sich 95 Prozent für einen Arbeitskampf ausgesprochen hatten, brachten die Lokführer und Zugbegleiter das Bahnsystem letzte Woche zwei Tage lang weitgehend zum Erliegen. Die Bahn will ihnen für das laufende Coronajahr eine Nullrunde aufoktroyieren, den Corona-Bonus verweigern und die Betriebsrente kürzen.

Zahlreiche Arbeiter haben in den letzten anderthalb Jahren sehr ähnliche Erfahrungen wie die Eisenbahner gemacht: Während 92.000 Menschen an Corona starben und Hunderttausende ihre Einkommen verloren, konnte sich die vermögende Oberschicht durch ihre „Profite-vor-Leben“-Politik massiv bereichern.

Viele Arbeiter würden sich einem prinzipiellen Arbeitskampf deshalb lieber heute als morgen anschließen. Aber die Lokführer stehen vor einem Dilemma, das den Erfolg ihres Streiks gefährdet: Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL), die den Streik führt, verfolgt eine Strategie, die den Arbeitskampf in eine Sackgasse lenkt.

Gerade weil der Streik sehr leicht um sich greifen könnte, hat die GDL-Führung ihn auf zwei Tage befristet und zögert nun ihn fortzusetzen. Es wird immer klarer, dass sie einen raschen Kompromiss der Ausweitung des Arbeitskampfs bei weitem vorziehen würde.

Hatte GDL-Chef Claus Weselsky letzte Woche noch den Eindruck erweckt, der Streik werde diese Woche fortgesetzt, rief die GDL stattdessen lediglich zu einer kleinen Kundgebung auf dem Potsdamer Platz in Berlin auf. Erst am heutigen Freitag um 11 Uhr will sie auf einer Pressekonferenz ihr weiteres Vorgehen bekannt geben. Da Weselsky auch längere Vorwarnzeiten angekündigt hat, wird es – wenn überhaupt – erst im Laufe der nächsten Woche zu weiteren Arbeitsniederlegungen kommen.

Zu der Kundgebung, die am Dienstag vor dem „Bahntower“, der Hauptzentrale der Deutschen Bahn AG in Berlin stattfand, mobilisierte die GDL so wenig wie möglich. Sie appellierte weder an Arbeiter in anderen Unternehmen noch an Eisenbahner in anderen Ländern, die sich – wie die Lokführer und Bahnbeschäftigte der britischen Eisenbahngesellschaften Hull Trains, East Midlands Railway und Abellio ScotRail – derzeit im Arbeitskampf befinden.

Stattdessen wendet sich die GDL an die konservativsten Schichten im deutschen Staatsapparat. Sie organisierte die Kundgebung gemeinsam mit dem Deutschen Beamtenbund (dbb), dem sie als Berufsverband der Lokführer angehört. Die Kundgebung hatte einen völlig andern Charakter als die Streikversammlungen der letzten Woche, über welche die WSWS berichtet hat.

Weil der Streik seit Freitag ausgesetzt ist und die GDL-Mitglieder aufgrund ihrer anstrengenden und langen Schichten bei der Arbeit bleiben mussten, zeigten sich auf dem Potsdamer Platz nur wenige aktive Lokführer, dafür umso mehr Post- und Staatsbeamte und selbst Polizisten.

Neben Claus Weselsky und dbb-Chef Ulrich Silberbach ergriff mit Rainer Wendt auch eine Galionsfigur der Rechten das Wort zu einer Grußbotschaft. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) vertritt politische Standpunkte, die jenen der AfD sehr nahe stehen.

Auf seiner Facebook-Seite forderte Wendt noch am 4. August aggressiv Abschiebungen nach Afghanistan. Derzeit lobt er dort den „Heldenmut“ der „tapferen Frauen und Männer, die als Rettungskräfte in dieses Land [Afghanistan] fliegen“, und unterstützt die ausländerfeindliche Kampagne, laut der „sich 2015 nicht wiederholen darf“, d.h. keine Flüchtlinge ins Land gelassen werden sollen.

Auf der Berliner Kundgebung erwähnte Wendt den Streik kaum und konzentrierte sich darauf, Weselsky gegen die „fürchterlichen persönlichen“ Angriffe der Medien in Schutz zu nehmen.

GDL-Chef Weselsky selbst wiederholte auf der Kundgebung vor der Bahnzentrale seine Appelle an den DB-Vorstand: „Wir brauchen einen Bahnvorstand, der endlich seiner Verantwortung gerecht wird.“ Zum Streik sagte er: „Ihr wisst, dass wir dieses letzte Mittel wieder zum Einsatz bringen müssen, wenn das Management, unterstützt vom Eigentümer, sich weiter so verhält“, ohne jedoch einen Termin für die Fortsetzung des Streiks zu nennen.

Dabei haben Eisenbahnerinnen und Eisenbahner jeden Grund, den Arbeitskampf auszuweiten und diesmal wirklich zum Erfolg zu führen. Ob Lokführer, Zugbegleiter, Arbeiter im Schienennetz oder Bahnangestellte – gemeinsam mit Krankenschwestern, Altenpflegern, Lehrern, Kita-Erzieherinnen, Paketzustellern oder Bus- und Straßenbahnfahrern tragen sie die Hauptlast der Pandemie.

Am Rande der Berliner Kundgebung bestätigte ein Lokführer der WSWS: „Wir mussten die ganze Zeit durcharbeiten, egal, ob alle zuhause waren oder nicht. Wir haben unsere Arbeit genau wie die Krankenschwestern und die Altenpfleger erledigt. Aber von irgendwelchen Corona-Hilfen haben wir gar nichts gesehen.“

Seine Arbeitsbedingungen beschrieb der Lokführer, der schon ein Leben lang bei der Bahn arbeitet, wie folgt: „Wir müssen oft um halb drei aufstehen und zur Arbeit gehen oder sind erst um drei Uhr im Bett. Das soll angeblich eine Spätschicht sein, aber es ist ja fast eine Nachtschicht. Und die Dienstpläne sind auch dementsprechend lang.“

Die Bahn hat für dieses Jahr eine Nullrunde und auch danach nur eine Tariferhöhung von 3,2 Prozent bis 2024 angeboten, was bei der aktuellen Inflationsrate von 4 bis 5 Prozent einer massiven Reallohnsenkung gleichkommt. Darüber hinaus stellt sie Betriebsrenten und Errungenschaften bei den Schichtplänen wieder in Frage.

Dazu erklärte der Lokführer: „40 Monate [Vertragslaufzeit], das ist kein Argument. Wir wollen dieses Jahr schon was und nächstes Jahr auch, und wir wollen, dass unsere kleine Betriebsrente gehalten wird. Das kann doch nicht sein: Ich bin jetzt fast 50 Jahre bei der Bahn, und damit soll ich mich abspeisen? Das kann nicht sein.“

Dies macht den Konflikt deutlich, in dem sich Bahnarbeiter jetzt befinden: Sie sind entschlossen, den Kampf zum Erfolg zu führen, aber dazu müssen sie die Konsequenzen ziehen und sich unabhängig von der GDL organisieren.

Die GDL hat bei früheren Streiks jedes Mal lieber einem faulen Kompromiss zugestimmt, als eine Ausweitung des Arbeitskampfs zuzulassen. Als sich ihr nach den Streiks von 2014/2015 zahlreiche Arbeiter aus anderen Transportbereichen anschlossen, unterzeichnete sie ein vierjähriges Stillhalteabkommen. Auch Anfang 2019 stimmte sie einem Tarifabschluss zu, der einen Streikverzicht bis 2021 enthielt und kaum die Inflationsrate ausglich. Auch jetzt liegt ihre Forderung weit unter der Inflationsrate und unterscheidet sich kaum von dem provokanten Angebot der Bahn.

Die GDL hat immer wieder bewiesen, dass sie bereit ist, den Arbeitskampf genau in dem Moment abzuwürgen, wenn er auf andere Arbeiterschichten übergreifen könnte. Trotz aller Differenzen mit der größeren Eisenbahn- und Verkehrs-Gesellschaft (EVG) verteidigt Weselsky wie diese die Sozialpartnerschaft.

Er akzeptiert sogar das Tarifeinheitsgesetz (TEG), dessen Anwendung alle früheren Errungenschaften der GDL in Frage stellen könnte. Das TEG besagt, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft wirksam ist, welche die meisten Mitglieder hat – was bisher in den meisten Bahnbetrieben die EVG wäre. Damit zielt das TEG darauf ab, kleine Gewerkschaften (GDL, Ufo, Cockpit, IGL, Marburger Bund, etc.) auszubooten und den DGB-Gewerkschaften, die mit dem Management in einem Boot sitzen, das alleinige Monopol zu verschaffen.

Es ist völlig klar: Die GDL ist nicht bereit, einen umfassenden Kampf zu führen, wie er für einen Erfolg des Streiks erforderlich wäre. Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) schlägt den Lokführern deshalb vor, unabhängige Aktionskomitees zu gründen, um den Arbeitskampf in die eigenen Hände zu nehmen und auszuweiten. Sie wird sie dabei unterstützen.

Im Bahnstreik bestätigt sich, was die Vierte Internationale in ihrem Aufruf zur Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitee geschrieben hat: „Die Arbeiterklasse ist bereit zu kämpfen. Aber sie wird von reaktionären bürokratischen Organisationen gefesselt, die jeden Ausdruck von Widerstand unterdrücken.“ Dieser Tatsache müssen die Lokführer jetzt ins Auge blicken.

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