In Griechenland wurden am Montag die Schulen wieder geöffnet, was zu einem erneuten Anstieg der Covid-Infektionen unter Kindern und in der Gesamtbevölkerung führen wird. Die Infektionsraten bei jungen Menschen sind bereits sehr hoch. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums vom Freitag treten 12,7 Prozent aller Fälle bei den unter 17-Jährigen und 38 Prozent bei den 18- bis 39-Jährigen auf.
Nachdem die Regierung unter Nea Dimokratia (ND) die Lockdownmaßnahmen Mitte Mai aufgehoben hatte, stiegen die Fälle auf ein Rekordniveau an. Die höchsten täglichen Infektionszahlen wurden im August verzeichnet, mit über 3.000 Fällen an mehreren Tagen und einem Rekordwert von 4.608 Neuinfektionen am 24. August. Im Durchschnitt werden immer noch 2.171 neue Corona-Fälle pro Tag gemeldet, wobei die Zahl stetig steigt. Am Montag, als die Schulen geöffnet wurden, waren es 2.279 Fälle, aber nur 24 Stunden später bereits knapp 3.000.
Diese Zahlen werden jetzt mit den Schulöffnungen in die Höhe schnellen. An den Universitäten wird ebenfalls der vollständige Präsenzbetrieb wieder aufgenommen. Bildungsministerin Niki Kerameos (ND) erklärte gegenüber Skai TV, die Priorität der Regierung sei Präsenzunterricht in allen Bildungseinrichtungen.
Die Regierung verlangt von Lehrern und Dozenten eine Bescheinigung über einen vollständigen Impfschutz, einen Nachweis der Genesung oder ein negatives Laborergebnis, das den Schulen zweimal wöchentlich vorgelegt werden muss.
Diese Maßnahmen werden die Ausbreitung der Delta-Variante aber nicht aufhalten, weil die Mutante die Wirkung der Impfstoffe teilweise abschwächt und wesentlich übertragbarer ist. Delta führt zu einer etwa 1.000-mal höheren Viruslast als das ursprüngliche Virus.
Die Regierung zwingt Schüler zurück in die Klassenräume und beendet alle Optionen für Distanzunterricht. „Es ist nicht gerechtfertigt, dass ein Schüler beim Unterricht fehlt, weil die Eltern Angst haben, ihn wegen eines Ausbruchs in der Klasse zur Schule zu schicken“, so Kerameos. Wie alle ihre Amtskollegen in Europa und weltweit weist sie erneute Schulschließungen kategorisch zurück.
„Früher hatten wir Schulklassen noch geschlossen, um die Familien der Schüler vor der Verbreitung des Virus zu schützen. Aber jetzt sind die meisten geimpft, und wenn nicht, haben sie die Möglichkeit, es sofort zu tun“, behauptet sie. Tatsächlich ging es ihr und ihresgleichen nie um den Schutz der Menschen vor dem Virus, sondern immer darum, die Wirtschaft am Laufen zu halten und den Eltern die Arbeit zu ermöglichen.
Dabei werden die grundlegendsten Quarantänemaßnahmen über Bord geworfen. Kerameos kündigte an, dass eine Klasse nur dann geschlossen werde, wenn mehr als die Hälfte der Kinder in der Klasse an Corona erkranken. „Die Kontakte des Infizierten werden nicht unter Quarantäne gestellt, sondern ein Labortest durchgeführt.“
Die Epidemiologin und Professorin an der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen, Athina Linou, reagierte auf diesen Vorstoß entsetzt. Das gehe „überhaupt nicht“, sagte sie gegenüber dem Sender ANT1. Bezogen auf ein Szenario von 20 Schülern in einer Klasse erklärt sie: „Wenn wir wissen, dass elf Kinder erkrankt sind, dann sind wahrscheinlich mindestens fünf weitere auch krank. Irgendwann werden diese 20 Kinder nach Hause gehen, das Virus an Geschwister, Eltern, Großeltern, Freunde, vielleicht eine Haushaltshilfe und einen Nachbarn weitergeben. Das bedeutet, dass eine Klasse weitere 100 bis 150 Personen anstecken kann, wenn man die Übertragbarkeit der neuen Variante berücksichtigt. Dazu kommen die Tutorien und Aktivitäten.“
Sie warnte: „Von den 100 Kindern, die krank werden, werden 10 Prozent sehr, sehr schwer erkranken. Und ein gewisser Prozentsatz, ob er nun ernsthaft erkrankt oder nicht, wird langfristige Nachwirkungen haben, ein Jahr lang, zwei Jahre lang. Das wird zu einer explosiven Situation im täglichen Leben der Familien führen.“
Angesicht der zu großen Klassen, zu kleinen Räume und noch ungeimpften Kinder hatte Linou die Öffnungen von Schulen und Kindergärten bereits zuvor als „kriminell“ bezeichnet. Gegenüber dem Sender Skai wies sie darauf hin, dass das Ministerium außer Acht lasse, „dass wir ein viel ansteckenderes Virus haben“ und die Schulen im letzten Schuljahr die meiste Zeit geschlossen waren. „Es ist furchtbar, dass wir nicht handeln. Dasselbe gilt für den öffentlichen Verkehr, am Arbeitsplatz muss das Thema Homeoffice erneut angesprochen werden. Es ist eine schwierige Situation“, warnte sie.
Nikos Tzanakis, Professor für Pulmonologie an der medizinischen Fakultät der Universität Kreta, rechnete diese Woche gegenüber der Website iatropedia.gr vor: „Wir gehen davon aus, dass 25 bis 30 Prozent der Kinder mit dem Virus in Berührung kommen werden. Wenn wir die spezifische Übertragbarkeit der Delta-Variante berücksichtigen, bedeutet das, dass sich ein Drittel dieser Kinder infizieren werden, d.h. etwa 30.000 bis 50.000 Kinder werden sich infizieren.“
Mathematische Modellrechnungen der Universität Kreta ergaben, dass von 50.000 infizierten Kindern in Griechenland 1,5 Prozent wahrscheinlich schwerere Symptome entwickeln und möglicherweise ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Tzanakis warnte: „Wir haben es mit einer Variante zu tun, die Kinder sehr hart trifft.“ Während der Pandemie sei die Zahl der Krankenhauseinweisungen in pädiatrischen Abteilungen noch nicht über 240 gestiegen. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass sie 300 erreichen und sich sogar auf 600 mehr als verdoppeln könnte.
Der Mediziner George Pavlakis, der am Krebsforschungszentrum in den USA arbeitet, hatte schon in der Woche vor der Rückkehr zum Präsenzunterricht geraten: „Die klügste Strategie wäre es, große Anstrengungen zu unternehmen, um die Zahl der Fälle zu senken, auch mit einem Lockdown. Eine andere Lösung wäre, die Schulen nächste Woche nicht zu öffnen oder den Unterricht draußen abzuhalten und die Kinder nicht in die Klassenzimmer zu schicken.“ Die Fälle könnten sonst einen Rekordwert von 4.000 pro Tag erreichen, sagte Pavlakis und warnte, dass „die Delta-Mutation aufgrund des enormen Unterschieds in der Infektiosität wie eine neue Pandemie behandelt werden sollte.“
Gleichzeitig ist die Lage im Gesundheitssystem bereits extrem angespannt. Ärzte klagen über die geringen Kapazitäten und den großen Personalmangel in der Pandemie. Am 31. August hatten alle fünf Intensivärzte des Krankenhauses Rethymno auf der Insel Kreta ihren Rücktritt eingereicht, weil sie überlastet sind. „Wir haben schon seit langem in mehreren Schreiben Alarm geschlagen, aber die Leitung ignoriert uns nicht nur völlig, sondern belastet uns auch täglich mit zusätzlichen Aufgaben.“
Bereits einige Tage zuvor hatten sich die Leiter der Intensivstation, der Notaufnahme, der Klinik für Pathologie und der Klinik für Pulmologie mit einem offenen Brief an die Direktoren und die Bevölkerung gewandt: „Wir befinden uns im zweiten Jahr der Pandemie und trotz der Zusicherungen der Leitung arbeiten wir mit demselben Personal.“ Ein paar Löcher seien von ungelerntem Personal „gestopft“ worden, was „aber nicht ausreicht“. Zusätzlich zu ihren Abteilungen sollen sie auch eine neue Covid-Klinik unterstützen und zugleich werden bei ihnen auf der Station ebenfalls Corona-Patienten behandelt, obwohl sie offiziell keine Covid-Betten haben.
Auch der Leiter der Intensivstation vom Krankenhaus Papanikolaou in Thessaloniki, Nikos Kapravelos, warnte vor einer Woche in einer Sendung von Open TV: „Der schwierige Teil liegt noch vor uns, die Krankheit schreitet diesmal schneller voran.“ Mehr als 95 Prozent der verfügbaren Covid-Betten auf seiner Intensivstation seien bereits belegt und es gebe nur noch wenige Betten für Patienten mit anderen Erkrankungen. „Wenn wir bedenken, dass noch die Urlauber zurückkehren, die Schulen geöffnet werden und viele ungeimpft bleiben, ist das keine gute Nachricht“, sagte Kapravelos
Die World Socialist Web Site und die Sozialistischen Gleichheitsparteien kämpfen weltweit für die Strategie zur Ausrottung von Covid-19 und den Aufbau von Aktionskomitees an allen Arbeitsplätzen und Schulen.
Nur die Schließung von Schulen und nicht lebensnotwendigen Unternehmen in Verbindung mit umfassenden Schutzmaßnahmen, Tests, Kontaktverfolgung und Impfungen kann der Pandemie ein Ende setzen. Dieses Programm steht im Gegensatz zur Agenda der kapitalistischen Parteien, die mit Hilfe der Gewerkschaften Kinder und Lehrer zurück in die Klassenzimmer getrieben haben, indem sie eine Politik der Herdenimmunität und der „Mitigation“ unterstützen, also eine Strategie der verlangsamten Ausbreitung, die vor allem auf Impfungen setzt. Der Kampf für die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen muss deshalb unabhängig von den Gewerkschaften entwickelt werden und erfordert die Gründung von Aktionskomitees unter Lehrern, Schülern und Eltern in ganz Griechenland.