Der fluchtartige Rückzug von Sebastian Kurz und seinen engsten Kumpanen aus der österreichischen Politik hat, wie das Platzen einer Eiterbeule, den Modergestank und die Fäulnis der Demokratie in der Alpenrepublik und ganz Europa an die Oberfläche gebracht.
Es besteht kein Zweifel mehr, dass das Land vier Jahre lang von einer kriminellen Gang regiert wurde, die vor keinem Mittel zurückscheute, um sich den Weg an die Macht zu bahnen. Staatsanwaltliche Ermittlungen, die Veröffentlichung interner Chats und andere Enthüllungen haben gezeigt, welch skrupelloser Methoden sie sich dabei bediente.
Diskreditiert ist nicht nur die konservative ÖVP, die Kurz zu ihrem Führer und zum Bundeskanzler kürte und ihm unbeschränkte Vollmachten einräumte, diskreditiert sind auch alle anderen Parteien, die ihm den Weg an die Macht bahnten und – im Falle der Grünen – seine Macht auch dann noch sicherten, als das Ausmaß der Kriminalität längst bekannt war.
Kurz war am 9. Oktober als Bundekanzler zurück – oder, wie er es nannte, „zur Seite“ – getreten, nachdem die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Ermittlungen wegen des Verdachts der Korruption gegen ihn aufgenommen und seine Diensträume durchsucht hatte. Er behielt aber alle Hebel der Macht in der Hand. Er blieb Vorsitzender der ÖVP und ließ sich zusätzlich zum Klubobmann, d.h. Fraktionsvorsitzenden im Nationalrat wählen. Bundeskanzler wurde sein enger Vertrauter Alexander Schallenberg, der bisherige Außenminister.
Am Donnerstag gab Kurz nun bekannt, dass er alle seine politischen Ämter niederlege und sich vollständig aus der Politik zurückziehe. Als fadenscheinige Begründung führte er die Geburt seines ersten Sohnes vor wenigen Tagen an, dem er sich nun vermehrt widmen wolle.
Nun folgten die Rücktritte Schlag auf Schlag. Nur zwei Stunden nach Kurz gab auch Schallenberg seinen Rücktritt bekannt und bestätigte damit, dass er nie mehr als ein Schattenkanzler von Kurz‘ Gnaden gewesen war. Es folgte Finanzminister Gernot Blümel, der mit sofortiger Wirkung alle seine Ämter, auch das des Wiener ÖVP-Vorsitzenden niederlegte. Der 40-jährige Blümel, gegen den die Staatsanwaltschaft ebenfalls wegen des Verdachts der Korruption und Bestechlichkeit ermittelt, gehörte von Anfang an zu Kurz‘ engstem Freundeskreis.
Der mittlerweile 35-jährige Sebastian Kurz wurde von den österreichischen und internationalen Medien lange Zeit als politisches Wunderkind gefeiert. Der abgebrochene Jura-Student war mit 25 Jahren jüngster Staatssekretär, mit 27 Jahren jüngster Außenminister und mit 31 Jahren jüngster Bundeskanzler des Landes.
Inzwischen weiß man, mit welchen Methoden Kurz und sein verschworener Freundeskreis sich den Weg nach oben bahnten: Mit Intrigenin Partei und Regierung, wobei angebliche Parteifreunde gemobbt und als „Arsch“ tituliert wurden; mit gefälschten Umfragen und gekauften Medienberichten, die über Steuergelder finanziert wurden; und mit dem gegenseitigen Zuschieben lukrativer Posten in Staatsbetrieben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Falschaussage, Postenschacher, Untreue und Bestechlichkeit gegen sie.
Kurz und sein Kreis verkörpern eine Clique macht- und geldversessener Aufsteiger, die nach der Auflösung der Sowjetunion aufgewachsen sind, nie größere Klassenkämpfe erlebt haben und deshalb keine sozialen Skrupel kennen und glauben, sie könnten sich alles erlauben. Zu Kurz‘ näherem Umfeld gehören auch der 44-jährige Immobilienspekulant und Multimillionär René Benko sowie die Wirecard-Manager Markus Braun (52) und Jan Marsalek (41), die einen milliardenschweren betrügerischen Bankrott hingelegt haben.
Intrigen und Betrug allein hätten allerdings nicht ausgereicht, um Kurz den Weg ins höchste österreichische Regierungsamt zu ebnen. Er erwies sich vielmehr als nützliches Instrument, um einen politischen Rechtsruck zu vollziehen, der von allen Teilen der herrschenden Klasse befürwortet wird. Deshalb wurde er international gefeiert und 2017 von Time zum „Next Generation Leader“ gekürt. Der „Staatsmann der neuen Art“ habe einen neuen Weg gefunden, um mit der Flüchtlingskrise umzugehen, der von anderen europäischen Politikern übernommen werde, lobte das US-Magazin.
Kurz, der nach außen stets ruhig, höflich und wie aus dem Ei gepellt auftrat, verstand es, den Bodensatz der Gesellschaft für die reaktionärsten Ziele zu mobilisieren. Als 2015 zahlreiche Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten Zuflucht in Europa suchten, schwang er sich zum Vorreiter jener brutalen Abschottungspolitik auf, die heute in ganz Europa gängige Praxis ist und Zehntausende das Leben gekostet hat.
Nachdem er 2017 den Vorsitz der ÖVP übernommen hatte, schloss Kurz ein Bündnis mit der rechtsextremen FPÖ und ließ sich von dieser zum Kanzler wählen. Von nun an bestimmte deren faschistischer Kurs die Migrationspolitik der Regierung. „Kurz lässt den Koalitionspartner FPÖ die schlimmen Dinge sagen, aber schweigt selbst dazu,“ beschrieb der Spiegel damals die Arbeitsteilung zwischen dem Kanzler und den Rechtsextremen.
Das Innenministerium überließ Kurz dem FPÖ-Politiker Herbert Kickl, einem notorischen Rassisten, der für eine entsprechende Ausrichtung der Polizei sorgte. Auch gegen die Arbeiterklasse ging das Bündnis von ÖVP und FPÖ scharf vor. So beschloss es eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, die tägliche Schichten bis zu zwölf Stunden erlaubt.
Erst im Mai 2019, als das sogenannte Ibiza-Video die Käuflichkeit der FPÖ entlarvte, platzte das Bündnis mit der FPÖ. Kurz musste ihren Führer Heinz-Christian Strache und Innenminister Kickl entlassen und verlor danach ein Misstrauensvotum im Parlament. Vorübergehend führte eine Übergangsregierung unter der parteilosen Juristin Brigitte Bierlein die Amtsgeschäfte.
Doch schließlich kamen die Grünen Kurz zu Hilfe. Ausgerechnet die Partei, die sich stets als Gegenpol zur FPÖ ausgegeben hatte, bildete Anfang 2020 eine Regierungskoalition mit Kurz und führte die rechte Politik der FPÖ in allen wesentlichen Fragen fort.
Kurz‘ Karriere konnten allerdings auch die Grünen nicht mehr retten. Immer neue Korruptionsvorwürfe, wachsende soziale Spannungen und vor allem die verheerenden Folgen ihrer mörderischen Corona-Politik ließen die Umfragewerte der ÖVP in den Keller sinken.
Die Weigerung der Regierung, effektive Maßnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen, machte Österreich zu einem der Länder mit den weltweit höchsten Infektionsraten. Ende November stieg die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz über 1000, in einigen Regionen erreichte sie Spitzenwerte von 1800.
Dagegen entwickelte sich heftiger Widerstand. Am 10. November protestierte das Gesundheitspersonal in den Krankenhäusern unter dem Motto „5 nach 12“ bundesweit gegen die „Untätigkeit der Regierung“. Die 400.000 Beschäftigten seien körperlich und psychisch am Limit.
In Meinungsumfragen sprach sich eine überwiegende Mehrheit für härtere Maßnahmen aus. Unique Research ermittelte in der dritten Novemberwoche, dass nur 6 Prozent der Befragten der Ansicht waren, die vorhandenen Maßnahmen seien ausreichend. Die Stimmung in der Bevölkerung sei „längst gekippt, und zwar in Richtung klare und rasche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung“, kommentierte die Zeitung Heute, die die Umfrage in Auftrag gegeben hatte.
Bundeskanzler Schallenberg, der mit der festen Absicht zu einem Treffen der Landeschefs nach Tirol fuhr, keinen Lockdown für Geimpfte zuzulassen, konnte sich nicht durchsetzen. Um die explosive Situation zu beruhigen, einigte man sich auf einen Teil-Lockdown, der auch für Geimpfte gilt. Betriebe und Schulen blieben aber weitgehend offen.
Nun rückten auch die Landesfürsten der ÖVP von Kurz und seinen engsten Vertrauten ab. Nach ihrem Rücktritt bestimmte der ÖVP-Parteivorstand am Freitag den bisherigen Innenminister Karl Nehammer zum neuen Parteivorsitzenden und Regierungschef. Alexander Schallenberg wird wieder Außenminister.
Nehammer, ein ehemaliger Berufssoldat, gilt als innenpolitischer Hardliner, der die Linie seines Amtsvorgängers Kickl nahtlos fortgesetzt hat. Er ist für seine harte Haltung gegenüber Migranten und Muslimen bekannt und hat Kurz nach eigenen Angaben „bewundert“. Seine Ernennung zum Regierungschef dient der Vorbereitung einer massiven Konfrontation mit der Arbeiterklasse.
Nehammer verfügt im Gegensatz zu Kurz auch über gute Verbindungen zu den Sozialdemokraten. Die Grünen haben aber bereits versichert, dass sie die Koalition mit der ÖVP fortsetzen werden. Grünen-Chef Werner Kogler lobte die stets gute Zusammenarbeit mit Nehammer, auch wenn man sich manchmal über Asylfragen gestritten habe.
Die rasche Bildung einer neuen Regierung wird die tiefe Krise der österreichischen Politik nicht lösen. Unter den ständigen Erschütterungen an der Oberfläche verbergen sich tiefgehende tektonische Verschiebungen in der sozialen Basis der Gesellschaft. Während sich die sozialen Gegensätze unter den verheerenden Folgen der Pandemie weiter verschärfen, sind alle etablierten Parteien zutiefst diskreditiert. Das gilt nicht nur für die Konservativen und die Grünen, sondern auch für die Sozialdemokraten, die sich in Österreich wie in allen anderen europäischen Ländern in eine rechte, bürgerliche Partei verwandelt haben. Zwischen 2015 und 2020 regierten sie im Burgenland mit der FPÖ, d.h. den gleichen rechten und faschistischen Kräften, die Kurz auf Bundesebene in die Regierung holte.
Die scharfe Rechtswende der gesamten herrschenden Klasse kann nur durch eine unabhängige Offensive der Arbeiterklasse gestoppt werden. Die große Mehrheit der österreichischen Bevölkerung steht, wie in Europa und auf der ganzen Welt, weit links von der offiziellen Politik. Sie sucht nach Wegen, gegen soziale Ungleichheit, Militarismus, Staatsaufrüstung und Durchseuchungspolitik zu kämpfen. Dazu braucht sie ihre eigene Partei, eine österreichische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, und eine internationale, sozialistische Perspektive.