Es gibt keine Ehre unter Dieben, lautet ein englisches Sprichwort. Das gilt auch für die Nato und ihre Kriegsvorbereitungen gegen Russland. Während sich die Regierungen dies- und jenseits des Atlantiks mit Anschuldigungen und Drohungen an die Adresse Moskaus überbieten, eine gewaltige Kriegsmaschinerie mobilisieren und sich gegenseitig ihre Übereinstimmung versichern, haben sie hinter dem Rücken längst die Messer gezückt.
Wie in den Kriegen des 20. Jahrhunderts spielt die Kontrolle über strategische Rohstoffe auch in der jetzigen Konfrontation mit Russland eine bedeutende Rolle. Ging es im Ersten Weltkrieg um die Kohle der Ruhr und das Erz Elsass-Lothringens, trat während und nach dem Zweiten Weltkrieg das Öl als wichtigste Energiequelle in den Vordergrund.
Inzwischen hat auch Erdgas große Bedeutung erlangt, das etwas umweltfreundlicher ist als Öl und Kohle. In den letzten 30 Jahren hat sich die weltweite Gasproduktion verdoppelt, während die Ölproduktion nur um ein Viertel gestiegen ist. Derzeit werden rund 30 Prozent des Weltenergiebedarfs durch Öl, 27 Prozent durch Kohle und 24 Prozent durch Erdgas gedeckt. Russland ist hinter den USA zweitgrößter Erdgas- und Ölproduzent der Welt. Es ist mit Abstand größter Exporteur von Erdgas und, hinter Saudi-Arabien, zweitgrößter Exporteur von Öl.
Seit der Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion vor drei Jahrzehnten ist die Nato immer näher an die Grenzen Russlands herangerückt. Das größte imperialistische Militärbündnis wird keine Ruhe geben, bis es unbeschränkten Zugang zu seinen gewaltigen Bodenschätzen erlangt, das Land unterjocht und als militärischen Rivalen ausgeschaltet hat.
Das – und die unlösbare innenpolitische Krise – sind die Gründe, weshalb weder die USA noch die europäischen Mächte bereit sind, Russlands Verlangen nach Sicherheitsgarantien entgegenzukommen, und rücksichtslos auf einen dritten Weltkrieg zusteuern. Doch über die Frage, wer die Lasten der Konfrontation trägt und wem am Ende die Beute zusteht, gibt es in der Nato heftige Spannungen.
Das steckt hinter dem Konflikt über die Gaspipeline Nord Stream 2. Die USA bestehen seit langem darauf, dass sie nicht in Betrieb genommen wird. Präsident Biden hat beim Antrittsbesuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington sogar unverhohlen gedroht, er wolle ihr „ein Ende setzen“. Scholz selbst hat lange gezögert, Nord Stream 2 auf die Liste möglicher Sanktionen gegen Russland zu setzen, und weicht der Frage weiterhin aus.
Die 10 Milliarden Euro teure Nord Stream 2 wurde im vergangenen Jahr trotz amerikanischer Sanktionen fertiggestellt, wartet aber noch auf die endgültige Betriebsgenehmigung. Die 1250 Kilometer lange Pipeline verbindet Russland unter der Ostsee direkt mit Deutschland. Sie umgeht die Ukraine, Belarus, Polen und andere osteuropäische Länder, die hohe Transitgebühren kassieren und im Konfliktfall den Gashahn zudrehen könnten.
Nord Stream 2 verdoppelt die Kapazität der 2011 eingeweihten, parallel verlaufenden Nord Stream 1 auf 110 Milliarden Kubikmeter im Jahr. Das ist deutlich mehr als der derzeitige deutsche Jahresverbrauch von knapp 90 Milliarden Kubikmeter. Der deutsche Gasverbrauch wird aber in den nächsten zehn Jahren wegen des Auslaufens der Nuklear- und Kohleenergie und dem wachsenden Strombedarf für Elektromobilität erheblich zunehmen. Die Pipeline versorgt über das weitverzweigte europäische Gasleitungsnetz auch andere Länder, wie Österreich, Tschechien oder Frankreich. Ganz Europa bezieht derzeit 160 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr aus Russland.
Die Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 würde zwar den Energiebedarf Deutschlands, das derzeit 55 Prozent seines Gas- und 42 Prozent seines Ölbedarfs über die bestehenden Leitungen aus Russland bezieht, nicht unmittelbar gefährden. Dies wäre aber der Fall, wenn es wegen der Zuspitzung des Ukrainekonflikts zur Stilllegung bestehender Pipelines oder zum völligen Erliegen der russischen Lieferungen käme. Ein solcher Lieferstopp könnte auch dann eintreten, wenn Russland aus dem SWIFT-System ausgeschlossen wird und keine internationalen Zahlungen mehr abwickeln kann.
In diesem Fall säßen nicht nur Hunderttausende deutsche Haushalte buchstäblich im Kalten, auch Teile der Industrieproduktion kämen wegen Energiemangels zum Erliegen. Die Industrie ist mit einem Anteil von 35 Prozent der größte Gasverbraucher in Deutschland. In vielen Prozessen lässt sich Erdgas nur schwer ersetzen. Zweitgrößter Verbraucher sind mit 30 Prozent Privathaushalte, jede zweite deutsche Wohnung wird mit Erdgas geheizt.
Die Bundesregierung und die EU-Kommission suchen fieberhaft nach Ersatz. Da die bestehenden Gasspeicher nur schwach gefüllt und die nach Russland wichtigsten Lieferanten Norwegen und Niederlande am Rande ihrer Kapazität sind, kommt dafür nur Flüssiggas (LNG) in Frage. Dieses ist aber erheblich teurer als Pipeline-Gas, da es auf minus 160 Grad heruntergekühlt, in gesonderte Terminals ver- und entladen und von Spezialtankern transportiert werden muss. Deutschland verfügt bisher über kein eigenes LNG-Terminal.
Katar, der weltgrößte LNG-Exporteur, hat sich anerboten, Europa stärker zu beliefern, was zu Lasten von asiatischen und Entwicklungsländern geht, die auf Lieferungen aus Katar angewiesen sind.
Auch die USA zeigen sich hilfsbereit. Laut Handelsblatt schalten sich derzeit fast täglich „Spitzenbeamte der EU-Kommission über abhörsichere Verbindungen mit den Experten des Nationalen Sicherheitsrats in Washington zusammen“, um darüber zu beraten.
Die USA handeln dabei nicht ohne Eigennutz. Das Land, das über ein Fünftel des weltweiten Erdgases verbraucht, ist dank der Fracking-Technologie zu einem wichtigen LNG-Exporteur aufgestiegen. Ein äußerst lukratives Geschäft, da der Gaspreis – nicht zuletzt wegen der Ukraine-Krise – Rekordwerte erreicht. Laut einem Bericht von Reuters werden LNG-Schiffe aus den USA schon jetzt nach Europa umgeleitet, da der Marktpreis hier wesentlich höher liegt als in Asien.
Das Handelsblatt rechnet im Fall eines Krieges in der Ukraine mit „Schockwellen an den Märkten“: „Europäische Aktien würden um bis zu zehn Prozent einbrechen, Öl der Marke Brent auf 100 Dollar je Barrel steigen, der Gaspreis noch stärker um bis ein Fünftel zulegen.“ Markus Krebber, Chef des Energieriesen RWE, warnt: „Ich habe Angst, dass die hohen Industriepreise dazu führen, dass wir schleichend de-industrialisieren und es kaum einer merkt.“
Der Bezug großer LNG-Mengen aus den USA würde Deutschland zudem langfristig in größere Abhängigkeit von den USA bringen. Der Import von Öl und Gas aus Russland geht bis auf die Ostpolitik Willy Brandts Anfang der 1970er Jahre zurück. Deutsche Stahlwerke lieferten damals die Röhren für die Pipelines nach Russland, die dann durch Gasexporte bezahlt wurden. Deutschland sicherte sich damit mitten in der ersten großen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit eine größere Unabhängigkeit von den USA.
Nach dem Ersten Weltkrieg, als Amerika in Europa erstmals als führende Weltmacht auftrat, schrieb Leo Trotzki, es werde das kapitalistische Europa „auf Ration“ setzen: „Es wird die allen zukommenden Gebiete des Absatzmarktes zuschneiden, es wird die Tätigkeit der europäischen Finanziers und Industriellen normieren... Das bedeutet, dass Amerika Europa sagen wird, wie viel Tonnen, Liter oder Kilogramm es von dieser oder jener Ware kaufen oder verkaufen darf.“ (Leo Trotzki, Europa und Amerika, Essen 2001, S. 245)
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Das bestätigt sich auch jetzt wieder. Washington drängt darauf, dass sich alle Nato-Mitglieder in die Kriegsfront gegen Russland einreihen, und achtet sorgfältig darauf, dass Deutschland und die Europäische Union nicht zu stark werden. Trotzdem gibt es in den deutschen Medien und Parteien keine Stimme von Gewicht, die sich gegen den Kriegskurs wendet.
2003 hatten sich die deutsche und die französische Regierung noch deutlich gegen den Überfall der USA auf den Irak ausgesprochen, der ihre eigenen imperialistischen Interessen in der Region berührte. Der französische Außenminister Dominique de Villepin, ein konservativer Gaullist, hielt damals vor der UNO eine Brandrede gegen die US-Kriegspläne. Rund um die Welt gingen Millionen gegen den Irakkrieg auf die Straße.
Heute werden Politiker und Medien nicht müde, der US-Regierung ihre Unterstützung und ihre Bereitschaft zu versichern, dafür einen Preis zu zahlen. Die Friedensbewegung ist völlig zusammengebrochen.
Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock versicherte im Bundestag, Deutschland müsse zu Sanktionen bereit sein, auch wenn diese wirtschaftliche Nachteile brächten. Die CDU applaudierte. „Wenn Putin weiß, dass wir Sanktionen nur akzeptieren, wenn sie uns nicht wehtun, dann weiß er auch, dass sie auch ihm nicht wehtun werden,“ betonte CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter.
Diese Haltung hat sowohl innen- wie außenpolitische Gründe.
Das Letzte, was die herrschende Klasse will, ist eine Antikriegsbewegung, die sich unweigerlich mit der wachsenden Opposition gegen ihre Durchseuchungspolitik, soziale Ungleichheit und Sozialabbau verbinden würde. Wie die herrschende Klasse der USA nutzt auch die deutsche den Krieg als Mittel, um innere Spannungen nach außen zu lenken.
Der Osten war zudem immer traditionelle Expansionsrichtung des deutschen Imperialismus, wobei sich friedliche mit gewaltsamen Methoden abwechselten. In beiden Weltkriegen besetzte Deutschland die Ukraine und versuchte, Russland bzw. die Sowjetunion zu erobern. Nun schließt es sich den USA an, weil es fürchtet, bei der Aufteilung der Beute außen vor zu bleiben.
Das mindert allerdings die transatlantischen Spannungen nicht. Zwei Jahre Pandemie, in denen Millionen Menschenleben dem Profit geopfert wurden, beispiellose soziale Ungleichheit und ein Finanzsystem, dessen Implosion nur eine Frage der Zeit ist, spitzen alle Widersprüche des Kapitalismus wieder zu, die das letzte Jahrhundert zum blutigsten der Menschheitsgeschichte gemacht haben. Nur eine sozialistische Bewegung der internationalen Arbeiterklasse kann den Rückfall in die Barbarei verhindern.