Am zweiten Jahrestag der Morde von Hanau beteiligten sich Tausende an Mahnwachen, Schweigemärschen und Demonstrationen.
In über 100 Städten fanden Veranstaltungen statt, um den staatlichen Rassismus und Rechtsextremismus anzuprangern, der den faschistischen Anschlag ermöglicht hatte, und endlich Aufklärung zu fordern. „Ein Staat, der nicht schützt, eine Polizei, die nicht hilft – Hanau ist überall!“ hatte eine Teilnehmerin in Frankfurt auf ihr Plakat geschrieben.
Unter dem Motto SayTheirNames hat sich eine bundesweite Bewegung entwickelt, damit die Opfer nicht in Vergessenheit geraten. Die neun jungen Hanauer hießen: Kaloyan Velkov (33), Fatih Saraçoğlu (34), Sedat Gürbüz (29), Vili Viorel Păun (22), Gökhan Gültekin (37), Mercedes Kierpacz (35), Ferhat Unvar (22), Hamza Kurtović (22) und Said Nesar Hashemi (21). Ein behördenbekannter Rassist hatte sie am 19. Februar 2020 ermordet, ehe er unbehelligt nachhause fuhr und seine Mutter und sich selbst erschoss.
Die Tat vor zwei Jahren ist bis heute nicht aufgeklärt. Zu den Ereignissen vor, während und nach diesen Morden stellen sich zahlreiche Fragen, die der hessische Staat bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet hat. Wieso war der Mörder, ein polizeibekannter Rechtsextremist, im Besitz mehrerer Waffen? Warum war der Notruf 110 lange Zeit nicht erreichbar, und wieso wurden die Familien stunden- und tagelang über das Schicksal ihrer Angehörigen im Ungewissen belassen?
Wie man heute weiß, war in der Tatnacht in Hanau eine Einheit der Spezialeinsatzkommando (SEK) der Frankfurter Polizei im Einsatz, die später, im Juni 2021, wegen rechtsextremer Betätigung aufgelöst wurde. Dennoch gilt der Mörder von Hanau offiziell als „Einzeltäter“.
Auch zwei Jahre nach alledem hat sich von Seiten des Staats im Umgang mit den Opferfamilien wenig geändert. Diese beklagten sich am Samstag bitter darüber, dass die Gestaltung der zentralen Trauerfeier auf dem Hanauer Hauptfriedhof über ihre Köpfe hinweg und teilweise gegen sie geplant worden sei. Das Land Hessen richtete dort eine Feier mit rund 100 geladenen Gästen aus. Unter ihnen befanden sich der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD), nicht jedoch viele Freunde und Unterstützer der Familien, die nicht zugelassen worden waren.
Emis Gürbüz, die Mutter des ermordeten Sedat, kritisierte, dass das Land Hessen das Gedenken auf dem Hauptfriedhof vereinnahmt habe und die Angehörigen über die Teilnehmer nicht mitbestimmen durften. „Die nehmen uns alles weg“, sagte sie. „Dass ich als Mutter nicht entscheiden kann, wer an der Trauerfeier teilnehmen kann – diese Entscheidung wurde uns weggenommen. Wer gibt ihnen das Recht dazu?“
Der „Initiative 19. Februar Hanau“, die zu den Gedenkaktionen aufgerufen hatte, schlossen sich auf Twitter in kurzer Zeit über 19.000 Follower an. Der Aufruf, „gegen das Vergessen und Verschweigen und gegen die Angst“ auf die Straße zu gehen, fand innerhalb weniger Tage Verbreitung in ganz Deutschland und darüber hinaus. Gedenkveranstaltungen fanden in Berlin, Bonn, Bochum, Duisburg, Düsseldorf, Erfurt, Frankfurt/Main, Freiburg, Fulda, Gießen, Göttingen, Halle, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Kassel, Köln, München, Nürnberg, Saarbrücken, Rostock, Wien und Basel statt, um nur einige von über 100 Städten zu nennen.
In Hanau versammelten sich am Samstagabend Hunderte an den zwei Tatorten, am Heumarkt (Innenstadt) und am Kurt-Schumacher-Platz (Hanau-Kesselstadt). Unter ihnen waren Freunde, Kollegen und Klassenkameraden der Opfer und Unterstützer der Familien, die sie nicht alleine lassen wollten. „Es hätte jeden von uns treffen können“, sagt einer in Kesselstadt. Am Fenster der Arena-Bar steht heute der Satz von Ferhat Unvar: „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst.“
In Frankfurt beteiligten sich rund 1.500 Menschen an einem Zug, der unter der Friedensbrücke begann, wo ein großes, schwarz-weißes Wandgemälde die Gesichter der Getöteten zeigt. Schon am Freitagabend hatten sich 700 Teilnehmer spontan an einer Demonstration durch das Gallusviertel beteiligt. Viele forderten vom Land Hessen, welches die NSU-Akten für 30 Jahre weggesperrt hat, endlich eine lückenlose Aufklärung. „Hanau war kein Einzelfall“, stand auf Plakaten, wie auch die Forderungen: „Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen“. Die Demonstrierenden skandierten: „Nazis morden, der Staat macht mit – der NSU war nicht zu dritt“.
In Berlin gab es mehrere Gedenkveranstaltungen, darunter eine Schweigeminute und Lightshow am Maxim-Gorki-Theater, bei der die Gesichter der Opfer an die Fassade projiziert wurden. In Wedding, Kreuzberg und Treptow-Köpenick versammelten sich derweil Hunderte zu Demonstrationen und Kundgebungen.
Eine kleinere, aber bewegende Gedenkfeier fand in Duisburg statt. Eine junge Frau las, selbst den Tränen nahe, die Schilderungen von Filip Goman vor, dem Vater von Mercedes Kierpacz, die im Kiosk in Hanau-Kesselstadt erschossen worden war. „Die Tat hätte verhindert werden können!“ ist ihr Vater überzeugt. Anschließend betonte eine Sprecherin, dass Hanau kein Einzelfall war, sondern sich in viele rechte Mordanschläge einreihe; die Neonazis seien tief in den Staat verstrickt, und die Ursache des Rassismus sei der Kapitalismus.
In Saarbrücken wurde ein Gedenken in der Europa-Galerie abrupt gestört, als ein Rechtsextremist an der Mahnwache eine Reichsflagge entfaltete und die Teilnehmer bewusst zu provozieren versuchte. In München war es die Polizei selbst, die eine Gedenkdemonstration und Kundgebung brutal störte.
Dort waren wegen der gleichzeitigen Münchner Sicherheitskonferenz riesige Sicherheitskontingente in der Stadt zusammengezogen worden. Auch den Münchner Königsplatz, auf dem das Gedenken an Hanau stattfand, hielt ein absurd großes Polizeiaufgebot besetzt. Schließlich ging die Polizei mit Pfefferspray und Knüppeleinsätzen gegen Teilnehmer vor, die vollkommen friedlich demonstrierten, und ließ auch nach Beendigung der Kundgebung nicht von ihnen ab. Videos zeigen, wie Polizisten in voller Kampfmontur, Helm mit geschlossenem Visier, gegen die Jugendlichen vorgehen und eine Gruppe regelrecht in die U-Bahn prügeln.