Boris Johnson feiert „Sternstunde“ der Ukraine und verspricht weiteres Kriegsgerät

Der britische Premierminister Boris Johnson inszenierte sich bei einer per Videoschalte ins ukrainische Parlament übertragenen Rede im Stil von Winston Churchill und bezeichnete den Krieg mit Russland als eine „Sternstunde“ der Ukraine.

Johnson ist das erste Staatsoberhaupt, das seit Beginn des Kriegs im Februar vor dem ukrainischen Parlament spricht. Zuvor hatte er letzten Monat Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew auf einem Rundgang begleitet.

Um sich bei den USA anzubiedern, agiert Großbritannien weiterhin als treibende Kraft in Europa für eine Eskalation des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine. Am Abend vor Johnsons Auftritt hatte die Europäische Union über ein Embargo von russischem Öl diskutiert, das bis Ende des Jahres in Kraft treten soll. Zuvor hatten Johnson und die britische Presse monatelang gegen Deutschland gestichelt wegen dessen Energie-Abhängigkeit von Russland.

Der deutsche Oppositionsführer und CDU-Chef Friedrich Merz, der zuvor Bundeskanzler Olaf Scholz „Zögern, Zaudern und Ängstlichkeit“ in der Kriegshaltung vorgeworfen hatte, war während Johnsons Rede in der Ukraine zu Besuch.

Die Rede des britischen Premierministers war geprägt von nationalistischer Rhetorik. Er lobte „den unerschütterlichen ukrainischen Patriotismus und die Liebe zu ihrem Land“ und stellte die „ukrainische Demokratie der Tyrannei Putins“ entgegen. Am gleichen Tag hatte das ukrainische Parlament laut einer Meldung der Nachrichtenagentur Interfax die Aktivitäten von Parteien verboten, die „Russlands bewaffnete Aggression gegen die Ukraine rechtfertigen, anerkennen oder leugnen“.

Dass Johnson auf die Geschichte Großbritanniens im Zweiten Weltkrieg zurückgreift und die Formulierung „Das war ihre Sternstunde“ benutzt, die Churchill im Juni 1940 geprägt hatte, bekräftigt das verlogene Narrativ der Nato-Mächte. Russlands Invasion in der Ukraine – eine reaktionäre Antwort auf das bedrohliche Vorrücken der Nato an seine Grenzen – soll als heutige Version von Hitlers Vernichtungsfeldzug dargestellt werden.

Das ist in zweierlei Hinsicht Betrug.

Erstens kann die russische Invasion nicht ansatzweise mit dem NS-Völkermord verglichen werden. Ein derartiger Vergleich soll die Schrecken des Vernichtungskriegs der Nazis in Osteuropa verharmlosen, Hysterie gegen Russland schüren und von den Zerstörungen ablenken, die die USA und ihre Verbündeten in den letzten Jahrzehnten im Irak und in Afghanistan angerichtet haben.

Zweitens sind es die mit der Ukraine verbündeten Nato-Mächte, die das Land als Stellvertreter benutzen und auf einen noch größeren Krieg in Osteuropa drängen, mit dem Ziel, Russland zu zerstören und aufzuteilen. Der US-Verteidigungsminister, der US-Außenminister und die Sprecherin des Repräsentantenhauses haben das faktisch zugegeben, als sie erklärten, Washingtons Ziel sei es, „Russland in die Knie zu zwingen“, ihm militärisch „das Rückgrat zu brechen“ und den Konflikt „bis zum Sieg“ fortzusetzen.

Johnson klagte, die Nato-Mächte hätten im Jahr 2014, „als der Ukraine die Krim weggenommen wurde“, nicht die nötigen Sanktionen verhängt, und kündigte an: „Wir dürfen diesen Fehler nicht noch mal machen.“

Am Mittwoch erklärte die britische Außenministerin Liz Truss, Großbritannien und seine Verbündeten müssten „nachlegen“ und „Russland aus der gesamten Ukraine vertreiben“. Das würde auch die Eroberung der Krim beinhalten, die von Russland annektiert wurde und als wichtig für seine Sicherheit betrachtet wird. Unterstützung erhielt sie von Verteidigungsminister Ben Wallace.

Der Guardian veröffentlichte am Montag einen Artikel von Orysia Lutsevych, der Leiterin des Ukraine Forum des Chatham House. Sie unterstützt Truss und fragt: „Was würde ein Sieg für die Ukraine – und für Europa – wirklich bedeuten?“ Sie antwortet: „Jeder Ausgang muss entscheidend sein.“ Sie spricht von einem angeblichen „Konsens in der [ukrainischen] Bevölkerung hinsichtlich der Rückkehr der Krim und des Donbass unter die Kontrolle Kiews“ sowie des „Zusammenbruchs des Putinismus als Doktrin und ein Ende von Russlands Ansprüchen auf territoriale Dominanz in Osteuropa und Zentralasien“.

Lutsevych kommt zu dem Schluss, dass die Ziele der Ukraine „mit denen ihrer Verbündeten übereinstimmen“.

Um dieses Ziel zu erreichen, überschwemmen die USA und die europäischen Mächte die Ukraine mit Waffen. Viele davon gehen an rechtsextreme und faschistische Milizen wie das Asow-Regiment, das in Mariupol das belagerte Stahlwerk Asowstal besetzt hält. In seiner Rede kündigte Johnson die Entsendung von weiterem Kriegsgerät im Wert von 300 Millionen Pfund an, darunter Ausrüstung für elektronische Kriegsführung, ein Artillerieabwehr-Radarsystem, GPS-Störgeräte und Tausende von Nachtsichtgeräten.

Zuvor hatte das britische Parlament letzte Woche die Lieferung von Brimstone-Raketen und Stormer-Flugabwehrfahrzeugen an die Ukraine angekündigt. Es erwägt auch die Lieferung von Challenger-2-Panzern nach Polen als Ersatz für ältere Panzer, die Warschau Kiew geschenkt hat. Großbritannien ist bereits einer der größten Unterstützer bei den Kriegsanstrengungen der Nato und der Ukraine. Es hat der Ukraine Waffen im Wert von einer halben Milliarde Pfund geschickt, Tausende von ukrainischen Soldaten ausgebildet und Tausende seiner eigenen Soldaten, Panzer, Schiffe und Kampfflugzeuge nach Osteuropa entsandt, außerdem Spezialeinheiten in die Ukraine.

Die USA haben bisher erklärt, Militärhilfe im Wert von 3,7 Milliarden Dollar geliefert zu haben, weitere Lieferungen im Wert von 20 Milliarden sind in Planung.

Den Preis für den Krieg soll die Arbeiterklasse zahlen. Im Vorfeld seiner Rede zur Ukraine gab Johnson der Nachrichtensendung Good Morning Britain ein Interview. Als Antwort auf die Frage nach der Krise der Lebenshaltungskosten schloss er jede Unterstützung für die Familien aus, denen historische Einkommensverluste drohen. Er warnte vor einer „Inflationsspirale“ und erklärte: „Wir müssen vorsichtig sein.“

Johnson klagte: „Wir geben bereits 83 Milliarden Pfund pro Jahr für die Tilgung von Staatsschulden aus. Das ist eine riesige Summe, viel mehr als wir für unsere Verteidigung ausgeben.“

Am gleichen Tag kündigte BP sein bestes Quartalsergebnis seit zehn Jahren und Einnahmen in Höhe von 6,2 Milliarden Dollar an. Als Grund nannte es „außergewöhnliche“ Öl- und Gaserträge. Das britische Statistikamt gab derweil bekannt, dass 40 Prozent der Bevölkerung Probleme haben, ihre Gas- und Stromrechnung zu zahlen und gezwungen sind, weniger Lebensmittel zu kaufen.

Preisanstiege, Reallohnsenkungen und Sparmaßnahmen der Regierung wirken sich verheerend auf den Lebensstandard der Arbeiter aus und führen zu einem breiten Widerstand in der Arbeiterklasse, die den erklärten Zielen der Regierung und der Nato in der Ukraine ohnehin mit großer Skepsis gegenübersteht.

Die Financial Times veröffentlichte am Sonntag einen sorgenvollen Kommentar des Europa-Wirtschaftskommentatoren Martin Sandbu mit dem Titel „Die westlichen Führer müssen die Öffentlichkeit auf Kriegswirtschaft vorbereiten“, in dem es hieß: „Der Ausdruck ist hässlich und sein Inhalt noch hässlicher, aber in den westlichen Demokratien besteht die reale Gefahr einer ,Ukraine-Müdigkeit‘. ... Die Krise der Lebenshaltungskosten wird vermutlich noch viel schlimmer werden, bevor es wieder besser wird.“

Im politischen Mainstream findet die Stimmung der Bevölkerung keinen Ausdruck. Die Zeitungen, vor allem der Guardian, berichten begeistert darüber, dass Johnsons Tory-Regierung bei den Regionalwahlen mehr als 500 Sitze verlieren und das schlechteste Ergebnis seit den 1990ern erzielen könnte. Damit wird jedoch nur die Verantwortung für die Umsetzung der Sparpolitik von den Tories auf Labour oder auf die Liberal Democrats und Grünen übergehen.

Wenn morgen Parlamentswahl wäre und Labour gewinnen würde, dann würde die gleiche Außenpolitik fortgesetzt werden. Labour-Chef Sir Keir Starmer erklärte als Reaktion auf Johnsons Rede: „Wir unterstützen die Bereitstellung von Kriegsgerät.“ Er weigerte sich, auch nur das Timing – zwei Tage vor der Regionalwahl – zu kritisieren und erklärte: „Ich glaube nicht, dass Streit um das Timing viel bringt.“ Er wolle zudem nicht, dass die Parteien bei ihrer Unterstützung für die Ukraine „gespalten“ sind.

Starmer solidarisierte sich außerdem mit den Tory-Hinterbänklern, die höhere Militärausgaben fordern: „Ich glaube, die Regierung wird wieder ins Parlament zurückkehren und sich die Verteidigungsausgaben noch mal anschauen müssen. Ich weiß, dass viele Tory-Abgeordnete das auch so sehen.“ Er forderte die Regierung auf, die „Streitkräfte nicht um weitere 10.000 Mann zu verringern“.

Labour stimmt mit den Tories in allen grundlegenden politischen Fragen überein. Ihr einziger Kritikpunkt an Johnson ist, dass er den Kurs nicht umsetzen könne. Deshalb konzentrieren sie sich unablässig auf den „Partygate“-Skandal. Beispielhaft für die Absurdität der offiziellen politischen Debatte in Großbritannien war, dass Johnson während des Interviews mit Good Morning Britain gefragt wurde, ob er „ehrlich ist“. Doch statt auf Johnsons absurde Behauptung, Großbritannien gehe es in der Ukraine nicht um „geopolitische Veränderungen“, bezog sich diese Frage auf seine Alkoholpartys in der Downing Street während des Lockdowns.

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