Obwohl die Lebenshaltungskosten explodieren, hat sich der Chef der IG Metall öffentlich verpflichtet, in der Tarifrunde für die 4 Millionen Beschäftigten der Metallindustrie im Herbst maximal sieben Prozent mehr Lohn zu fordern, verteilt auf zwei Jahre. Das wäre die größte Reallohnsenkung seit der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre.
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung versicherte Jörg Hofmann, seine Gewerkschaft werde das Inflationsziel der EZB von zwei Prozent „und nicht die aktuelle Inflation von fast acht Prozent“ zum Maßstab ihrer Tarifforderung nehmen.
„Nach der bewährten Lohnformel veranschlagen wir zwei Prozent Zielinflation der Europäischen Zentralbank und die Steigerung der Produktivität, die 1,1 Prozent beträgt. Und das für zwei Jahre,“ sagte der IGM-Chef. „Nur auf Basis dieser Formel kommen wir also auf eine Forderung über sechs Prozent mehr Lohn. Hinzu kommt zwingend eine Umverteilungskomponente, weil die Firmen gerade so hohe Gewinne erzielen.“
Selbst wenn die Gewerkschaft diese Forderung voll durchsetzt – in der Regel tut sie dies höchstens zur Hälfte –, hätte dies einen dramatischen Einkommensverlust zur Folge. Die Tariflöhne in der Metallindustrie sind seit 2018 nicht mehr gestiegen. Die IGM hat seither lediglich Einmalzahlungen vereinbart, die zwar den Kaufkraftverlust kurzfristig dämpften, aber nicht auf den Sockelbetrag angerechnet werden, auf dem die nächste prozentuale Erhöhung beruht.
Geht man in diesem und im nächsten Jahr von jeweils 8 Prozent Inflation aus – viele Experten rechnen sogar mit einer Inflationsrate im zweistelligen Bereich –, dann läge der offizielle Verbraucherpreisindex Ende 2023 rund 23 Prozent höher als 2018. Die Tariflöhne wären aber bei voller Durchsetzung der IGM-Forderung nur um 7 Prozent gestiegen. Der Reallohn eines Metallarbeiters läge also um 16 Prozent niedriger als vor fünf Jahren!
Dabei gibt der offizielle Index die tatsächliche Inflation nur unzureichend wieder. Vor allem die Preise für Lebensmittel, Heizung, Mieten und Energie, die untere und mittlere Einkommen besonders stark belasten, sind um ein Mehrfaches gestiegen. Die Weltbank geht in diesem Jahr von einem Anstieg der internationalen Lebensmittelpreise um 22,9 Prozent aus. Für viele Arbeiterinnen, Arbeiter und ihre Familien ist dies existenzbedrohend. Sie sind schlicht nicht mehr in der Lage, mit ihrem Monatsgehalt über die Runden zu kommen.
Hinzu kommen unerträglicher Arbeitsstress, drohender Arbeitsplatzverlust und die Folgen der rücksichtslosen Corona-Politik, die allein in Deutschland 140.000 Todesopfer gefordert und 3,6 Millionen infiziert hat, von denen jeder Zehnte an Langzeitfolgen leidet.
Überall auf der Welt gelangen Arbeiter zum Schluss, dass sie kämpfen müssen, wenn sie ihre Rechte und Errungenschaften verteidigen wollen. Die Zahl der Streiks und Proteste hat weltweit deutlich zugenommen – von den USA über Europa und Asien bis nach Afrika. Darauf reagieren Hofmann und seinesgleichen, indem sie noch enger als bisher mit den Unternehmen und den Regierungen zusammenarbeiten.
In der Süddeutschen begründet Hofmann seine Absage an einen Inflationsausgleich damit, dass die IG Metall „vernünftig“ handle und „das Wohl des ganzen Landes im Blick“ habe. „Wir lösen keine Lohn-Preis-Spirale aus,“ fügte er hinzu.
Mit dem „ganzen Land“ meint er die herrschenden Eliten, die sich in den vergangenen Jahren maßlos bereichert haben. Was er wirklich „im Blick“ hat, sind die Börsenkurse und die Profite der Konzerne. Er spricht dabei nicht nur für die IG Metall, sondern für alle deutschen und internationalen Gewerkschaften.
Allein in Deutschland stehen in diesem Jahr Tarifverhandlungen für 10 Millionen Beschäftigte an – neben den knapp 4 Millionen der Metall- und Elektroindustrie sind dies unter anderem 92.000 der Eisen- und Stahlindustrie und 580.000 der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Hier hat die IG BCE die Tarifverhandlungen vom April auf den Herbst vertagt und eine einmalige Brückenzahlung von 1.400 Euro vereinbart, die von den Betrieben auf 1.000 Euro reduziert werden kann.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat für die Druckindustrie, das Versicherungsgewerbe, das private Bankgewerbe und die Tageszeitungen bereits Tarifverträge unterzeichnet, die noch weit unter den Forderungen der IG Metall liegen. Sie laufen jeweils über zwei Jahre und setzen sich aus einer oder zwei Einmalzahlungen von 500 Euro und jährlichen Tariferhöhungen von 1,5 bis 3 Prozent zusammen.
Ende des Jahres laufen die Tarifverträge für 2,7 Millionen Beschäftigten des Bundes und der Kommunen, für den Einzelhandel, das KfZ-Gewerbe und das Bauhauptgewerbe aus.
Früher bezeichnete man Gewerkschaften, die den Arbeitern in den Rücken fielen und die Interessen des Kapitals vertraten, als „gelbe Gewerkschaften“. Heute sind alle Gewerkschaften gelb. Sie haben sich in eine Betriebs- und Lohnpolizei der Unternehmen verwandelt.
Sie versuchen den international operierenden Konzernen und Finanzinvestoren jeden Tag von neuem zu beweisen, dass sie in „ihrem“ Land kostengünstiger und profitabler produzieren können als anderswo. Dafür opfern sie Löhne, Arbeitsbedingungen und soziale Errungenschaften der Arbeiter, während sie sich selbst als Gewerkschaftssekretäre, Aufsichtsräte und Betriebsräte eine goldene Nase verdienen.
Die „Lohn-Preis-Spirale“, die Hofmann zur Begründung der Lohnzurückhaltung ins Feld führt, ist eine üble kapitalistische Propagandalüge. Danach sind die Lohnforderungen der Arbeiter für die steigenden Preise verantwortlich. Um den Preisanstieg zu stoppen, bleibt Arbeitern nichts anderes übrig, als die Hände in den Schoß zu legen und zuzusehen, wie die Inflation ihre Einkommen wegfrisst.
Tatsächlich ist die Inflation die Form, in der die gewaltigen Summen aus der Arbeiterklasse zurückgeholt werden, die Regierungen und Notenbanken in den vergangenen Jahren auf die Konten der Banken und Reichen gepumpt haben.
Allein die Europäische Zentralbank hat in den letzten sieben Jahren 5,1 Billionen Euro in öffentliche und private Anleihen investiert. Diese unvorstellbare Summe würde reichen, um jedem der 342 Millionen Einwohner der Eurozone, vom Säugling bis zum Greis, 15.000 Euro in bar auszuzahlen, ganz zu schweigen von den unzähligen Krankenhäusern, Schulen und Infrastrukturprojekten, die damit finanziert werden könnten. Stattdessen haben diese Billionen eine Bereicherungsorgie finanziert, die laut Oxfam allein während der Corona-Pandemie alle 30 Stunden einen neuen Milliardär hervorgebracht hat.
Die Unterbrechung der Lieferketten während der Corona-Pandemie und die Folgen des Ukrainekriegs und der Sanktion gegen Russland haben die so entstandene, gewaltige Spekulationsblase erschüttert. Nun wird alles getan, damit die Arbeiterklasse die Rechnung bezahlt.
Hinzu kommen die gewaltigen Kosten für die militärische Aufrüstung, mit der sich alle imperialistischen Mächte – allen voran Deutschland – auf eine gewaltsame Neuaufteilung der Welt vorbereiten, die mit dem Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland und den Drohungen gegen China bereits begonnen hat. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr nur der Anfang sind. Auch dafür soll die Arbeiterklasse die Kosten tragen.
Die Zinserhöhungen der Notenbanken dienen dazu, den Druck auf die Arbeiterklasse weiter zu erhöhen. Sie soll durch einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in die Knie gezwungen werden, während die Profite weiter sprudeln.
Die Unternehmen in den USA verzeichneten im zweiten Halbjahr 2021 trotz wachsender Krisen mit fast 15 Prozent nach Steuern die höchste Profitquote seit Anfang der fünfziger Jahre. Auch die deutschen Dax-Konzerne erzielten neue Gewinnrekorde. Im ersten Quartal 2022 lagen ihre Profite um 21 Prozent höher als im selben Quartal des Vorjahres. Trotzdem soll die Arbeiterklasse bluten.
Das wird allerdings nicht gelingen. Immer mehr Betroffene setzten sich zur Wehr und rebellieren gegen das Spardiktat der Regierungen und Konzerne. Doch damit diese Bewegung Erfolg hat, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein.
Die erste ist ein Bruch mit den Gewerkschaften, die – wie Hofmanns Interview in der Süddeutschen unterstreicht – uneingeschränkt auf der Gegenseite stehen. Es müssen unabhängige Aktionskomitees aufgebaut werden, die den Kampf für höhere Löhne und den Ausgleich der Lebenshaltungskosten organisieren.
Die zweite Voraussetzung ist, dass der Kampf nicht im Rahmen eines Unternehmens oder Landes geführt werden kann. Arbeiter müssen sich über alle Betriebe, Branchen und Länder hinweg zusammenschließen, um ihre volle Kampfkraft zu entfalten.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat vor einem Jahr die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) ins Leben gerufen, um diesen Kämpfen eine organisatorische Form und eine politische Orientierung zu geben.
„Damit sich die Arbeiterklasse zur Wehr setzen kann, muss ein Weg geschaffen werden, um ihre Kämpfe in verschiedenen Fabriken, Branchen und Ländern in Opposition zur herrschenden Klasse und den korporatistischen Gewerkschaften zu koordinieren,“ heißt es im Gründungsaufruf. „Die IWA-RFC wird sich dafür einsetzen, einen Rahmen für neue Formen unabhängiger und demokratischer Kampforganisationen von Arbeitern in Fabriken, Schulen und Betrieben auf internationaler Ebene zu schaffen.“
Der Kampf gegen Lohnraub, Militarismus und Pandemie erfordern ein Kampfprogramm. Die Löhne müssen drastisch erhöht und die Lebenshaltungskosten voll ausgeglichen werden. Die Verwirklichung dieser und weiterer Maßnahmen erfordert ein sozialistisches Programm. Die gesellschaftlichen Bedürfnisse und nicht der private Profit müssen zur Grundlage der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft werden.