Putins Rede zur Annexion ukrainischer Gebiete und der Bankrott des russischen Nationalismus

Der Autor des Artikels ist ein Vertreter der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten, einer trotzkistischen Organisation in Russland, die die Invasion der Ukraine und den Stellvertreterkrieg des US-Nato-Imperialismus gegen Russland auf Grundlage des sozialistischen Internationalismus ablehnt.

Am vergangenen Freitag hielt der russische Präsident Wladimir Putin eine lange Rede, mit der er versuchte, die Annexion vier ukrainischer Gebiete an Russland mittels Referenden zu rechtfertigen: Donezk, Lugansk sowie Saporischschja und Cherson, die im Osten bzw. im Südosten des Landes liegen.

Mit der Rede wurde erneut deutlich, wie groß die Gefahr ist, dass sich der Konflikt zwischen Russland und der Nato ausweitet. Das Putin-Regime betrachtet die annektierten ukrainischen Gebiete nun als Staatsgebiet und wird noch aktiver um sie kämpfen. Das zeigte bereits Putins jüngste Ankündigung einer Teilmobilisierung, nach dem die russische Armee in der Region Charkiw eine Niederlage erlitten hatte.

Die Annexion der vier ukrainischen Gebiete rechtfertige Putin mit folgenden Worten: „Die Menschen haben ihre Wahl getroffen. Eine eindeutige Wahl.“ Die offiziellen Zahlen zum Ausgang der Referenden sind in der Tat erstaunlich: In allen vier Regionen stimmten 97 Prozent der Befragten oder mehr für die Annexion, die Wahlbeteiligung war sehr hoch.

Allerdings muss man sich folgende Fragen stellen: Wie war es möglich in Saporischschja ein Referendum abzuhalten, wo fast die Hälfte des Gebiets, einschließlich der Hauptstadt, von ukrainischen Streitkräften kontrolliert wird? Auf diese Frage hat das Putin-Regime keine Antwort. Es ist wahrscheinlich, dass die Zahlen einfach aus der Luft gegriffen und übertrieben sind.

Ähnliches gilt auch für die anderen Regionen, in denen Referenden abgehalten wurden. Die Hälfte der Region Donezk befindet sich unter ukrainischer Kontrolle. Einzig die Region Lugansk wird vollständig von Russland kontrolliert. Doch auch hier gilt es zu klären, ob die veröffentlichten Ergebnisse der Wahrheit entsprechen.

Weiter erklärte Putin in seiner Rede: „Wir werden unser Land mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen […] Wir werden zerstörte Orte und Städte […] wiederaufbauen. Wir werden die Industrie, die Infrastruktur […] und die Gesundheitsversorgung wiederaufbauen und weiterentwickeln.“ Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei der erste Satz, der nahe legt, dass das Putin-Regime weiter mit einem Atomkrieg droht.

Käme es zu einem Atomkrieg, wäre an eine „Weiterentwicklung“ von Unternehmen, der Infrastruktur oder dem Gesundheitssystem gar nicht zu denken. Zudem sind in Russland allein durch die reaktionären Corona-Politik fast 400.000 Menschen ums Leben gekommen. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Was hat das Putin-Regime bisher daran gehindert, das Gesundheitswesens und die soziale Infrastruktur „weiterzuentwickeln“?

Der Hauptgrund für Putins Versprechungen ist die enorme Angst der russischen Oligarchen vor der Arbeiterklasse. Inmitten der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus sind Arbeiter immer häufiger geneigt, ihre unabhängigen Interessen zu verfolgen. Angst ist das Hauptmotiv hinter all diesen Versprechungen. Für seine national-chauvinistische Antwort auf die Offensive des westlichen Imperialismus, braucht das Putin-Regime dringend Stabilität an der „Heimatfront“.

„Sie wollen uns als Kolonie“, so Putin weiter in seiner Rede. „Sie wollen keine gleichberechtigte Zusammenarbeit, sondern [sie wollen] uns ausplündern.“

Putins Äußerungen über die drohende Kolonialisierung und Aufteilung Russlands sind zweifellos richtig. Gleichzeitig verdeutlichen sie die Doppelzüngigkeit der russischen herrschenden Klasse, die einerseits auf eine „gleichberechtigte Zusammenarbeit“ mit dem westlichen Imperialismus hofft und andererseits mit einem Atomkrieg droht, um ihre Stellung in einem rohstoffreichen Land der Welt zu sichern. In seiner Rede verwies Putin außerdem auf „Gleichgesinnte“, die der Kreml in der „ganzen Welt, auch in Europa und in den USA“ habe.

Zu Unrecht versuchte Putin, seiner national-chauvinistischen Antwort auf die Bedrohung durch den Imperialismus der USA und der Nato einen progressiven Anstrich zu geben. In seiner Rede sagte er beispielsweise, er sei stolz darauf, dass Russland im 20. Jahrhundert die antikoloniale Bewegung eröffnet habe. Diese verlogene Aussage stammt von einem Mann, der am 21. Februar, bei seiner Rechtfertigung der Invasion der Ukraine, die Oktoberrevolution von 1917 und die angeblich schlechten Bolschewiki unter Lenins Führung ausdrücklich verurteilte.

Tatsächlich waren es die bolschewistische Revolution und der Kampf der Roten Armee, angeführt von Leo Trotzki, die der Zerstückelung des ehemaligen russischen Reiches durch die imperialistischen Mächte zuvorkamen und dieses Reich auf der Grundlage eines internationalistischen und sozialistischen Programms vereinten. Der Nationalismus und das reaktionäre Vorgehen des Putin-Regimes sind mit diesem Programm völlig unvereinbar.

Im Bemühen, die öffentliche Unterstützung für seine Politik auszuweiten, erklärte Putin weiter: „Die ganze unipolare Weltordnung ist antidemokratisch und nicht frei per se, sie ist heuchlerisch und bis ins Mark verlogen.“ Das trifft natürlich zu, aber Putin vergisst, dass diese Eigenschaften des westlichen Imperialismus dem russischen kapitalistischen Staat ebenso eigen sind.

Putin fuhr fort: „Die Welt erlebt einen revolutionären, grundlegenden Wandel. Es entstehen neue Wachstumszentren“ die bereit seien, „nicht nur ihre Interessen offen zu bekunden, sondern auch sich dafür einzusetzen.“ Aus Putins Mund erhalten derartige Worte einen unverhohlen demagogischen Charakter. Mit Ausnahme der imperialistischen Regierungschefs fürchtet niemand die Revolution mehr als die russische Oligarchie. Putin hofft auf eine breitere Unterstützung für den Krieg, dafür versucht er jedoch den Hass der Bevölkerung auf den Imperialismus auszunutzen, und er stellt seine Regierung dar, als ob sie die nationale Unabhängigkeit des Landes verteidige.

Putin ließ unerwähnt, dass es ihm nicht um die Unabhängigkeit des russischen Volkes geht, sondern um die Unabhängigkeit und das Recht der russischen Oligarchie, die natürlichen Ressourcen und die Arbeiterklasse Russlands ohne Rücksicht auf die Meinung ihrer „westlichen Partner“ auszubeuten.

Seine Rede beendete Putin mit einem Zitat des rechtsextremen russischen Nationalisten Iwan Iljin, der den Kampf der Weißen Armee gegen die Rote Armee der Bolschewiki während des Bürgerkriegs unterstützt hatte:

Wenn ich Russland als mein Vaterland verstehe, dann heißt es, dass ich auf Russisch liebe, dass ich auf Russisch kontempliere und denke, auf Russisch singe und spreche; dass ich an die geistige Kraft des russischen Volkes glaube. Sein Geist ist mein Geist. Sein Schicksal ist mein Schicksal. Sein Leid ist mein Leid und meine Trauer. Seine Blütezeit ist meine Freude.

Am Freitag stellte die Ukraine einen Antrag auf beschleunigte Nato-Mitgliedschaft, was den Konflikt weiter anheizen wird. Der Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der NATO in der Ukraine droht zu einem offenen Konflikt zu eskalieren, in dem auch der Einsatz von Atomwaffen möglich ist. All dies unterstreicht einmal mehr den Irrsinn der herrschenden Klassen aller kapitalistischen Länder.

Durch seine Äußerungen hat Putin klargestellt, dass er seine Antwort auf die Angriffe des Imperialismus auf einen nationalen Chauvinismus gründet. Etwas anderes wäre auch gar nicht möglich, denn Putin verkörpert jenes Regime, das seit der Restauration des Kapitalismus in Russland an der Macht ist. In seiner reaktionären Politik spiegelt sich die sozioökonomische Rolle der herrschenden russischen Oligarchie wider, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch die falsche und offenkundig konterrevolutionäre Politik des Stalinismus entstanden ist.

Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg erfordert eine revolutionäre Strategie. Diese ist nur auf der Grundlage der Prinzipien der Bolschewiki möglich, die die Oktoberrevolution 1917 ermöglichten. Ihr Kern besteht in der Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Regierungen in der ganzen Welt auf der Grundlage des Programms der sozialistischen Weltrevolution. Die Lösung aller Widersprüche und Probleme, die der Kapitalismus hervorbringt, ist nur durch die internationale Reorganisation der Gesellschaft bzw. der Wirtschaft möglich. Sie muss auf die Befriedigung sozialer Bedürfnisse ausgerichtet werden, und nicht auf den privaten Profit.

Dies führt uns unweigerlich zu der Frage, wie die Krise der revolutionären Führung in der Arbeiterklasse gelöst werden kann. Einzig die trotzkistische Bewegung ist als revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse in der Lage, echte revolutionäre Führung zu geben. Auf dieser Grundlage müssen die Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Russland, der Ukraine und auf der ganzen Welt aufgebaut werden.

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