Weit über 1.000 Menschen forderten am Sonntag auf einem Protestmarsch vor dem Thyssenkrupp-Werk im Duisburger Norden „Gerechtigkeit“ und die Aufklärung des Todes des 26-jährigen Refat Süleyman. Der bulgarische Arbeiter war Montag letzter Woche tot in einem Schlackebecken des größten deutschen Stahlkonzerns aufgefunden worden.
Refat Süleyman war erst wenige Tage als Leiharbeiter auf dem Gelände als Reinigungskraft eingesetzt, als er am Freitagmorgen, den 14. Oktober, in die Pause geschickt wurde, die er in einem Firmenfahrzeug verbrachte. Anschließend wurde er nicht mehr gesehen. Laut Thyssenkrupp und Polizei wurde er bereits am Freitagvormittag gesucht, die Werksfeuerwehr setzte dazu auch Wärmebildkameras ein. Einige Stunden später suchte die Polizei nach eigenen Angaben auf dem riesigen Stahlwerksareal zusätzlich mit Personenspürhunden, einem Helikopter und Drohnen. Refat blieb verschwunden.
Eher zufällig war er dann vier Tage später, am Montag darauf, gefunden worden. Sein Leichnam war bei einer Befüllung des Schlackebeckens nach oben gespült worden. Das Obduktionsergebnis besagt, dass der 26-Jährige bereits am Tag seines Verschwindens in dem mehrere Meter tiefen Schlackebecken erstickt war.
Das Becken befindet sich in einem überdachten Sicherheitsbereich, gesichert mit mehreren Zäunen, rund 100 Meter von den Hochöfen entfernt. Laut Duisburger Kriminalpolizei hatte Refat an diesem Tag direkt an dem Becken Reinigungsarbeiten vorgenommen, der junge Bulgare war daher dort zutrittsberechtigt.
Warum und wie Refat in das tiefe mit Schlacke, Schlamm und Abwasser gefüllte Becken geriet, ist unklar. Ein Kollege Refats berichtete der WSWS, dass sie sich als Leiharbeiter stets zu zweit auf dem Werksgelände zu bewegen haben. Ob Refat allein am Schlackebecken gearbeitet hat, und wenn ja, warum, bleibt genauso unklar.
Die Polizei beschwichtigt. Sie ermittle in alle Richtungen, es gäbe aber keine Hinweise auf ein Fremdverschulden.
Die Freunde und Angehörigen Refats lassen sich nicht hinhalten und fordern eine sofortige Aufklärung der Todesumstände. In sozialen Medien verbreiteten sich schnell die offenen drängenden Fragen und entsprechende Vermutungen, von „Mord“ und „Vertuschung“ ist die Rede.
Das bulgarische Nachrichtenportal filibeliler stellte einige der offenen Fragen zusammen:
- „Warum wird Refat bereits am zweiten Tag des Vertragsbeginns beauftragt, ein Becken mit Industrieschlacke zu reinigen – eine Tätigkeit, die mit erhöhter Gefahr verbunden ist?
- Warum hat er diese Aufgabe allein und ohne Aufsicht seines unmittelbaren Vorgesetzten ausgeführt?
- Hat Refat die notwendige Einweisung in die Arbeit in einer gefährlichen Umgebung erhalten, bevor er mit der Reinigung beauftragt wurde?
- Warum behaupteten die örtlichen Behörden und der Arbeitgeber zunächst, dass Refat für das Reinigen und Anbringen von Verkehrsschildern auf dem Werksgelände eingestellt wurde?
- Gibt es eine Diskrepanz zwischen den im Vertrag beschriebenen Aufgaben und den tatsächlichen Arbeiten, die er ausgeführt hat?”
Aufgrund dieser Ungereimtheiten gab es bereits kurz nachdem Refat am Montag letzter Woche gefunden wurde, erste spontane Proteste vor dem ThyssenKrupp-Werk von Freunden und Angehörigen, die nähere Informationen forderten. Sie wurden durch türkischsprachige Polizeibeamte aufgefordert, sich zu beruhigen und die Ermittlungen der Polizei abzuwarten.
Doch die gesamte Erfahrung der bulgarischen Arbeiterfamilien mit den Ämtern und Behörden vor Ort lässt sie zweifeln, dass die Polizei überhaupt ein Interesse daran hat, den Tod des jungen Refat aufzuklären.
Refats Angehörige und Freunde haben daher am letzten Sonntag zur Demonstration aufgerufen. Mehr als 1000 Menschen aus Duisburg und der Umgebung waren gekommen, um die Familie Refats in ihrer Trauer zu unterstützen und gleichzeitig Aufklärung zu verlangen. Auch in seiner bulgarischen Heimatstadt Plowdiw versammelten sich hunderte Menschen, um des Verstorbenen zu gedenken.
In Duisburg forderten sie auf Spruchbändern und in Sprechchören die Aufklärung der Todesumstände: „Wir wollen, dass die Wahrheit voranschreitet“, hieß es auf einem Banner, „Nicht versteckt und nicht verdeckt' auf einem anderen.
Die Demonstrierenden fordern aber auch lautstark Gerechtigkeit ein, „Adalet“, wie es türkisch heißt, das die Einwohner Plowdiws fließend sprechen. Sie sind wütend über die Ungleichbehandlung und die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen, deren Opfer sie alle sind und die Refat nun getötet haben könnten.
Die Forderungen der Demonstration am Sonntag gehen daher weit über die unmittelbare Aufklärung des Todes ihres Freundes und Verwandten hinaus. Vielmehr machen sie auf die gesellschaftlichen Hintergründe aufmerksam. Sie fordern nicht nur „Sicherheit für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Thyssenkrupp und Gerechtigkeit für den toten bulgarischen Jungen”. Das gesamte Leiharbeitswesen solle aufgelöst werden. Alle Leiharbeiter und bei Subunternehmen beschäftigte Kollegen sollten von Thyssenkrupp eingestellt bzw. übernommen werden. So soll die Zwei-Klassen-Gesellschaft im Werk zwischen Stamm- und Leiharbeitern abgebaut werden.
Die Menschen liefen vom Wohnort des verstorbenen Refats im Stadtteil Bruckhausen zum nahegelegenen Werkstor Thyssenkrupps. Hier war der Ruf nach „Adalet“ besonders stark. Vor dem Werkstor sprachen Rednerinnen und Redner aus der bulgarischen Community sowie Angehörige von Refat. Sie kündigten an, dass dies nicht der letzte Protest gewesen sei.
Auch wenn die genauen Todesumstände noch nicht geklärt sind, steht eins fest. Das System der Leiharbeit in Deutschland ist für viele Arbeiter tödlich. Den massiven Ausbau der Leiharbeit zu einem modernen Sklavereisystem leitete 2003 der damalige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit der rot-grünen Regierung, Wolfgang Clement (SPD), ein. Im Zuge der „Agenda 2010“ strich er ersatzlos mehrere gesetzliche Rahmenbedingungen für die Zeitarbeit. Später diente Clement sich bei großen Leiharbeitsfirmen an und strich seinen Lohn dafür ein.
Seitdem hebeln die Konzerne über Subunternehmen und Sub-Subunternehmen die durch Generationen erkämpften Errungenschaften beim Arbeitsschutz sowie Löhne aus. Die Gewerkschaften und ihre Betriebsräte in den großen Konzernen spielen dabei ein doppeltes Spiel. In der Öffentlichkeit klagen sie dieses brutale Ausbeutungssystem an. Tatsächlich organisieren sie aber etwa über den Tarifvertrag Leiharbeit die miesen Löhne und Arbeitsbedingungen.
So war Refat über die Leiharbeitsfirma Eleman an die Firma Buchen Umweltservice verliehen worden. Diese führt per Werkvertrag Reinigungsarbeiten im Duisburger Thyssenkrupp-Stahlwerk durch.
Refat war einer von rund 12.000 bulgarischen Zuwanderern in Duisburg. Die meisten kommen aus ein bis zwei Regionen, in denen auch türkisch gesprochen wird. Im Duisburger Norden können sie sich somit auch ohne deutsche Sprachkenntnisse verständigen. Doch gleichzeitig sind sie so auch skrupellosen Geschäftemachern ausgeliefert, die ihnen von der Wohnung, über den Job bis hin zu Sozialleistungen alles „vermitteln“ und sich dementsprechend bezahlen lassen. Die ohnehin geringen Löhne der bulgarischen Arbeiter landen so zu einem großen Teil in den Taschen windiger Geschäftemacher.
Auf dem Arbeitsmarkt werden gerade die bulgarischen Arbeiter in den großen Industriebetrieben über das Leiharbeitssystem in die gefährlichsten und körperlich belastendsten Jobs gebracht. Sie werden wie moderne Sklaven an die Konzerne verkauft. Die Arbeiter werden meist mit dem Mindestlohn abgefertigt – im besten Fall, die Regel ist das nicht. Oft werden die Arbeiter aufgrund ihrer fehlenden Kenntnisse der Sprache und des Arbeitsrechts um ihren Lohn gebracht. Die Leiharbeitsfirmen hingegen kassieren ein Vielfaches. So verdienen die Firmen und Konzerne auf Kosten der Leiharbeitenden. Schwere Verletzungen und Todesfälle werden in Kauf genommen.
Jedes Jahr sterben 400 bis 500 Menschen bei Arbeitsunfällen. Letztes Jahr waren es 510, in Nordrhein-Westfalen und Bayern mit jeweils rund 100 Toten die meisten. Diese Toten an der Arbeitsfront sind die Opfer der Bereicherung der Konzern-Aktionäre und die Teilhaber in der Leiharbeitsbranche.
Aufklärung ist daher nicht vom Konzern selbst, von den Leiharbeitsfirmen oder den Gewerkschaften zu erwarten. Ein unabhängiges Aktionskomitee aus Kolleginnen und Kollegen sowie Freundinnen und Freunden muss den Todestag Refats rekonstruieren und die rechtlichen/vertraglichen Abmachungen zwischen den Konzernen beleuchten. Die Offenlegung aller Verträge des Arbeitseinsatzes von Refat Süleyman ist eine der zentralen Forderungen, um die Verantwortlichen für seinen Tod zu identifizieren und den Anfang des Endes der modernen Sklaverei mit Namen „Arbeitnehmerüberlassung“ einzuleiten.