Am Montagabend nahm die französische Polizei 20 Studenten fest, die friedlich ein Gebäude auf dem Campus Condorcet in Aubervilliers vor den Toren von Paris besetzt hatten. Sie hatten damit gegen Macrons Rentenkürzungen und den Rückgang des Lebensstandards in ganz Frankreich protestiert. Am Dienstagabend befanden sich alle zwanzig noch in Gewahrsam in vier Polizeiwachen im Raum Aubervilliers.
Vor den Razzien am Montag war am 19. Januar bereits eine Versammlung von Studenten der Universität Straßburg von schwer bewaffneter Bereitschaftspolizei gestürmt und aufgelöst worden. Die Studentenaktionen waren Teil der Demonstrationen gegen Kürzungen, an denen landesweit zwei Millionen Menschen teilnahmen. Auch während der Demonstration in Paris am 19. Januar waren Demonstranten und auch ein Journalist von der Polizei misshandelt worden.
Eine wachsende Zahl von Studenten identifiziert ihre Kämpfe zu Recht mit denen der Arbeiterklasse. Letzten Endes aber erfordert der Kampf gegen den „Präsidenten der Reichen“, gegen die Inflation und die Gefahr einer atomaren Eskalation des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine eine massive Mobilisierung der Arbeiterklasse.
Doch wie die WSWS bereits erklärt hat, muss dieser Kampf den französischen Gewerkschaftsbürokratien aus der Hand genommen werden, die die streikenden Arbeiter spalten und Illusionen in eben die bankrotten Gewerkschaftsbürokraten verbreiten, die die „Rentenreform“ mit Macron ausgehandelt haben. Stattdessen müssen in allen Betrieben, Schulen und Universitäten unabhängige Aktionskomitees aufgebaut werden.
Die Studenten, die am Montag verhaftet wurden, gehören der Studentenvereinigung Solidaires an, scheinen die Besetzung aber in Eigenregie begonnen zu haben. Dass sich Solidaires bisher noch nicht zur Verhaftung oder anhaltenden Inhaftierung ihrer Mitglieder geäußert, geschweige denn dagegen protestiert hat, verdeutlicht einmal mehr, dass ihre Führung sich dem Staat unterordnet. Dabei hatten die Studenten ihre eigene Universität gewaltlos besetzt.
Verantwortlich für das Vorgehen der Polizei gegen die im Entstehen begriffene Bewegung ist die Macron-Regierung, die eine massive Rebellion der Arbeiter und Jugendlichen gegen die reaktionären Rahmenbedingungen des „Sozialdialogs“ zwischen den Gewerkschaften und Macron befürchtet. Der Präsident geht davon aus, dass durch schnelle Unterdrückungsmaßnamen die Studenten eingeschüchtert werden und eine breitere Mobilisierung zur Unterstützung der Streikenden außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratien und pseudolinken Parteien zu verhindern ist.
Am Dienstagnachmittag fand am Campus Condorcet eine Vollversammlung der Studierenden statt, auf der die Freilassung der Verhafteten gefordert wurde, an der auch Journalisten der WSWS teilnahmen. Etwa 300 bis 400 Studenten versammelten sich auf dem l’Espace Françoise Héritier und zogen zu dem Gebäude, in dem sich das Büro des Universitätspräsidenten befindet. Die friedliche Protestveranstaltung wurde begleitet von Dutzenden schwer bewaffneter Polizisten und in den Straßen um den Campus herum waren mehrere Busse mit Bereitschaftspolizei stationiert.
Bei der Veranstaltung sprachen wir mit einem Condorcet-Studenten namens Léo, der die WSWS bereits kannte. Er erklärte, bei der Protestveranstaltung am Montag gehe es „hauptsächlich um die Rentenreform, aber die Studenten mobilisieren auch wegen des Zustands des höheren Bildungswesens in Frankreich überhaupt, der ganz miserabel ist. Einige Forderungen beziehen sich speziell auf diesen Campus, darunter die nach einem gemeinsamen Raum, in dem sich Studenten treffen und diskutieren können.“
Léo erklärte, die Versammlung am Dienstag habe „die gleichen Forderungen wie gestern erhoben, aber außerdem wurden die Verhaftungen thematisiert... und allgemein die Frage aufgeworfen, warum die Polizei ständig auf dem Gelände ist, und warum sie uns immer unterdrückt, sobald eine Bewegung entsteht.“
Auf die Frage nach der Polizeigewalt gegen Proteste erklärte Léo: „Das ist die einzige Antwort, die sie [die Macron-Regierung] hat, weil sie nicht von ihrer Politik abgerückt ist. Sie schickt die Polizei gegen die kleinsten Proteste los. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, gegen Jugendliche vorzugehen. Das haben wir erlebt, als sie während der Gelbwestenbewegung die Polizei in die Schulen geschickt haben. Sie sind zu allem fähig.“
Léo kritisierte die Rolle der Studentenvereinigungen: „Wir brauchen Organisationen, die nicht versuchen, mit den Universitätsleitungen zu verhandeln... Das Problem ist eigentlich nicht der Präsident der Universität, sondern die ganze Situation.“
„Im studentischen Umfeld sehen wir, dass die meisten Gewerkschaften bereits vor Ort sind. Sie sitzen in den Universitätsräten, also können sie das Gesetz direkt mit denjenigen erörtern, die es durchsetzen. Dazu argumentieren sie: ,Zumindest wissen wir, was in diesen Räten vor sich geht‘, als wenn es nur darum ginge, dem [Universitäts]präsidenten Garantien zu geben.“ Léo erklärte, viele Studenten hegten den Verdacht, dass der Universitätspräsident mit der Polizei zusammengearbeitet hat, um die Proteste zu unterdrücken.
Die Reporter der WSWS erklärten, die Studentenvereinigungen an den Universitäten spielten eine ähnliche Rolle wie die nationalen Gewerkschaftsbürokratien im allgemeinen Klassenkampf. Léo erklärte dann: „Ich stimme euch zu, dass es in Frankreich so ist... die Gewerkschaften machen ihre Arbeit nicht. Wobei, vielleicht machen sie sie in gewisser Weise sehr gut, indem sie mit der Regierung verhandeln, sich beraten, usw., aber das war’s auch. Es ist immer das Gleiche. Dann kann die Regierung sagen: Ja, ihr wart aber dabei vertreten, eure Gewerkschaft war da, und das Gesetz wurde ausgehandelt.“
Léo wies auch auf die Rolle hin, die die Gewerkschaften bei der Aufsplitterung des Klassenkampfs spielen: „Die Streikbewegungen finden nie gleichzeitig an allen Universitäten statt. Wenn es Streiks gibt, dann nur in einzelnen Branchen, Unternehmen oder lokalen Bereichen. Einen Tag, oder höchstens eine Woche lang.
Bei diesen Regierungsoffensiven ist immer polizeiliche Unterdrückung im Spiel, und dahinter steht die Frage des Klassenkampfs und der Reaktion von Organisationen, die historisch gesehen Arbeiter- oder Studentenorganisationen waren. Nun, sie sind der Aufgabe einfach nicht gewachsen, weil es sich auch um ein ganzes System der Klassenkollaboration handelt. Das ist meine Meinung.'
Die WSWS fragte Léo, ob er einen Zusammenhang zwischen dem Krieg in der Ukraine und Macrons Rentenreform sieht. Darauf antwortete er: „Ja, weil für den Krieg sehr viel Geld benötigt wird. Für die Panzer, die teilweise Angriffswaffen sind. Es ist die Frage des Imperialismus. Die Regierung der Bourgeoisie wird das Geld nicht in so etwas wie soziale Reformen stecken, sondern ihre Interessen verteidigen. Und deshalb ist es notwendig, wegen des Ukrainekriegs auf die Straße zu gehen, weil es um den US-Imperialismus und seine Beziehungen im Rahmen seiner Bündnisse in Europa geht.“
Dass die französischen Studenten eigenständig aktiv werden, um den Kampf gegen Macrons Rentenreform zu unterstützen, ist eine äußerst bedeutsame Entwicklung. Doch die brutale Reaktion der Polizei zeigt, dass demokratische Organisationen geschaffen werden müssen, um diesen Kampf unabhängig von der regierungsfreundlichen Gewerkschaftsbürokratie zu koordinieren. Auch muss er sich auf eine breitere Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die Sparpolitik und gegen imperialistischen Krieg orientieren.