Perspektive

Seymour Hershs jüngste Enthüllung: Warum vertuscht Scholz die Zerstörung von Nord Stream durch die USA?

Die World Socialist Web Site hat das Vieraugengespräch zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und US-Präsident Joe Biden Anfang März als Kriegsgipfel bezeichnet. „Man kann sich der Schlussfolgerung nicht entziehen, dass der Zweck des Gipfels darin bestand, ... eine massive Eskalation des Krieges zu besprechen, den die USA und Nato gegen Russland führen“, schrieben wir in einem Kommentar. Diese Einschätzung war zweifellos korrekt. Seit dem Treffen treiben die Nato-Mächte die Kriegsoffensive immer aggressiver voran.

Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Treffen im Oval Office des Weißen Hauses. Washington, 3. März 2023 [AP Photo/Susan Walsh]

Doch das Treffen hatte eine weitere, düstere Komponente. Am Mittwoch berichtete der US-amerikanische Investigativjournalist Seymour Hersh, dass es zwischen Scholz und Biden auch um die Vertuschung der Hintergründe des Anschlags auf die Nord-Stream-Pipelines am 26. September 2022 gegangen sei.

Zum Kontext: Hersh hatte bereits im Februar in einem explosiven Bericht enthüllt, dass die US-Regierung für die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines verantwortlich sei und diese systematisch geplant und durchgeführt habe. Wenige Tage nach dem Biden-Scholz-Gipfel berichteten dann führende deutsche und amerikanische Medien unter Berufung auf Geheimdienstinformationen, eine „pro-ukrainische Gruppe“ habe die Pipelines zerstört. Der Anschlag sei von sechs Personen von einer Jacht aus verübt worden, die von einer Firma im Besitz ukrainischer Geschäftsleute gechartert worden sei.

Das kolportierte Narrativ, die Operation sei unabhängig von den USA und anderen Mächten durchgeführt worden, war von Anfang an unglaubwürdig. „Es ist lächerlich, wenn man meint, dass Ukrainer, die von Deutschland aus operierten, einen massiven, hochkomplexen und internationalen Unterwasser-Terroranschlag verüben konnten, bei dem gleichzeitig vier verschiedene Pipelines zerstört wurden, ohne dass die ukrainische Regierung, Deutschland oder die Vereinigten Staaten davon wussten“, schrieb die WSWS.

Nun erklärt Hersh in einem Beitrag mit dem Titel „Die Vertuschung“, amerikanische und deutsche Geheimdienste hätten die Story lanciert, um seinen eigenen detaillierten Bericht zu widerlegen, der Biden und die amerikanische Regierung für die Nordstream-Anschläge verantwortlich macht. Genau darum sei es u.a. auch beim Treffen zwischen Biden und Scholz gegangen, das unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Hersh schreibt:

Mir wurde von jemandem mit Zugang zu diplomatischen Geheimdienstinformationen gesagt, dass es eine Diskussion über das Pipeline-Exposé gab und dass infolgedessen bestimmte Elemente in der Central Intelligence Agency gebeten wurden, in Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst eine Titelgeschichte vorzubereiten, die die amerikanische und deutsche Presse mit einer alternativen Version für die Zerstörung von Nord Stream 2 versorgen würde. In den Worten des Geheimdienstes sollte die Agentur „das System füttern“, um die Behauptung zu widerlegen, Biden habe die Zerstörung der Pipelines angeordnet.

Zwar gibt Hersh seine Quelle nicht preis, und ist es nicht möglich, seinen Bericht unabhängig zu überprüfen. Aber Hersh ist ein renommierter Investigativjournalist und Pulitzer-Preis-Gewinner und seine früheren Enthüllungen und Berichte – darunter die Aufdeckung das Massakers von My Lai während des Vietnamkriegs – wurden im Nachhinein immer bestätigt.

Sollte Hershs Bericht zutreffen, weiß die Bundesregierung nicht nur, dass die USA den Anschlag verübt haben, sie beteiligt sich auch aktiv an seiner Vertuschung. Und das, obwohl die Zerstörung der Pipelines de facto ein Terrorakt gegen die deutsch-europäische Infrastruktur war und einen massiven wirtschaftlichen Schaden bedeutet. Nordstream hätte Deutschland und Westeuropa langfristig mit verhältnismäßig günstigem russischem Gas versorgen können. Allein die Baukosten der Pipelines beliefen sich auf rund 20 Milliarden Euro.

Es ist offensichtlich, dass die USA mit dem Angriff das Ziel verfolgten, Europa stärker von amerikanischen Erdgasimporten abhängig zu machen und stärker unter US-Kontrolle zu bringen. In seinem jüngsten Artikel geht Hersh darauf ein, dass die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines zu einem massiven Anstieg der Erdgaspreise geführt hat. Sie seien zwar aufgrund des milden Winters wieder etwas zurückgegangen, lägen „aber immer noch zwei- bis dreimal so hoch wie vor der Krise“ und „mehr als dreimal so hoch wie die aktuellen US-Preise“.

Wie ist es zu erklären, dass Scholz, die deutschen Geheimdienste und ein großer Teil der Medien dennoch fieberhaft daran arbeiten, die Hintergründe des Anschlags zu vertuschen? Warum ignorieren sie den jüngsten Bericht von Hersh und führen eine Rufmordkampagne gegen den berühmten Journalisten, wenn sie über ihn schreiben? Dahinter stehen zutiefst reaktionäre politische Ziele und Interessen.

Zum einen spielt Deutschland mittlerweile eine führende Rolle beim Kriegskurs der Nato. Nach anfänglichem Zögern gehört die Bundesregierung zu den größten Waffenlieferanten der Ukraine und bereitet die Lieferung hunderter Schützen- und Kampfpanzer vom Typ Marder und Leopard 1 und 2 vor. Man liefere mehr „als jedes andere Land in Kontinentaleuropa“, prahlte Scholz jüngst in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Dabei unterstützt Berlin das Kriegsziel Washingtons, Russland militärisch zu besiegen und in Moskau ein prowestliches Marionettenregime zu installieren. Nachdem der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag vergangene Woche einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten erlassen hat, verkündete die Bundesregierung umgehend ihre Bereitschaft, diesen umzusetzen. Man sei „verpflichtet, Präsident Putin, wenn er deutsches Territorium betritt, zu inhaftieren und an den IStGH zu übergeben“, erklärte Bundesjustizminister Marco Buschmann.

Es ist klar, dass ein Zerwürfnis mit Washington die Nato-Kriegsoffensive empfindlich schwächen würde. Hinter den Kulissen werden aber längst die Messer gewetzt und die Spannungen zwischen den imperialistischen Mächten explodieren. Die deutschen Kriegsziele gehen weit über die Ukraine und Russland hinaus. Die herrschende Klasse nutzt den Ukrainekrieg, um sich nach zwei verlorenen Weltkriegen erneut zur führenden europäischen Militärmacht hochzurüsten und aggressiv in den Kampf um die Neuaufteilung der Welt einzusteigen. Das läuft unweigerlich auf einen offenen Konflikt mit den USA hinaus – auf den der deutsche Imperialismus im Moment noch nicht vorbereitet ist.

Ein weiterer, nicht minder explosiver Grund für die Vertuschung, ist die wachsende Opposition der Bevölkerung gegen die imperialistische Kriegspolitik. Der Anschlag auf die Pipelines durch die USA entlarvt die offizielle Propaganda, die Nato sei eine Allianz demokratischer Staaten, die in der Ukraine und auf der ganzen Welt für Freiheit und Menschenrechte kämpfe. In Wirklichkeit geht es um räuberische imperialistische Interessen, die mit Methoden des Terrors und der Zerstörung verfolgt werden.

Bereits in den vergangenen drei Jahrzehnten haben die imperialistischen Mächte unter Führung der USA im Nahen und Mittleren Osten (Irak, Syrien), Zentralasien (Afghanistan), Nordafrika (Libyen) und auch in Europa (Serbien) ganze Länder zerstört und dabei Millionen Menschen getötet. Nun führen sie Krieg gegen die Atommacht Russland, bereiten sich auf einen Krieg gegen China vor und bekämpfen sich zunehmend auch untereinander – notfalls mit den gleichen kriegerischen Mitteln.

„Die Sprengung der Nord Stream-Pipelines bestätigt, dass die USA bei der Verfolgung ihrer imperialistischen Ziele vor nichts zurückschrecken“, warnte die WSWS. „Doch ihre Partner und Rivalen in Deutschland stehen ihnen darin in nichts nach. Mit der Wiederbelebung des deutschen Militarismus treten sie immer offener in die Fußstapfen der Wehrmacht und der Nazis, die die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen haben.“

Hershs Enthüllungen sind vor diesem Hintergrund auch eine Warnung. Wie in der Vergangenheit führt die imperialistische Kriegstreiberei auf beiden Seiten des Atlantiks in die Katastrophe. Gestoppt werden kann sie nur durch den Aufbau einer mächtigen Antikriegsbewegung der internationalen Arbeiterklasse, die den Kampf gegen Krieg mit dem Kampf gegen seine Wurzel, den Kapitalismus, verbindet. Dafür kämpfen die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Schwesterparteien der Vierten Internationale in den USA und weltweit.

Loading