Seit Sonntag, 16. April um 6 Uhr früh werden in Norwegen große Teile der Wirtschaft bestreikt. Unter anderem sind die Öl- und Gasindustrie, die Auto- und Passagierfähren, große Teile der Industrie, der Handel, die Brauereien, die Lebensmittelproduktion und die Werften betroffen. Betriebe werden bestreikt, in denen es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keinen Streik mehr gab.
Am letzten Wochenende sollte eine Schlichtung den Ausgleich bei den Lohnverhandlungen bringen, in denen der Gewerkschaftsdachverband Landesorganisasjonen (LO) und der norwegische Unternehmerverband NHO federführend sind. Es geht um die Halbzeitabschlüsse für die jeweils über zwei Jahre laufenden Tarifverträge, die vor einem Jahr abgeschlossen worden waren. Verhandelt wird ausschließlich über die Anpassung der Löhne an das Preisgeschehen, und das Ergebnis setzt den Rahmen für alle anderen Abschlüsse in diesem Frühjahr.
Nie zuvor war es bei Halbzeitverhandlungen zu Streiks gekommen. Und seit 23 Jahren, seit dem Lohnstreik vom Mai 2000 mit 86.000 Streikenden, hat es in Norwegen keinen vergleichbar großen Streik mehr gegeben.
In früheren Jahren konnte die norwegische Regierung von der eigenen Öl- und Gasförderung profitieren, die die Staatkasse füllte, um mit Hilfe der Gewerkschaften und eines stark regulierten Tarifsystems einen Arbeitsfrieden auf europaweit relativ hohem Niveau aufrechtzuerhalten. Als es vor knapp einem Jahr, im Juli 2022, zum Streik der Öl- und Gasarbeiter kommen sollte, unterband die Regierung dies mit Hilfe der Gerichte und mit aktiver Unterstützung der Gewerkschaften.
Die Jahre der Corona-Pandemie und die hohe Inflation haben auch in Norwegen starke Auswirkungen. Wäre das Angebot des Unternehmerverbandes angenommen worden, hätte dies für das dritte Jahr in Folge eine Reallohnsenkung bedeutet.
Im letzten Jahr stiegen die Löhne um 4,1 Prozent, doch die offizielle Teuerung betrug im Durchschnitt 5,8 Prozent. Das entspricht allein für das letzte Jahr einem Reallohnrückgang von 1,7 Prozent. Gleichzeitig schüren hohe Gehaltserhöhungen für Manager und Direktoren die Wut: 3100 Top-Manager in der Industrie haben Gehaltserhöhungen von 9,6 Prozent bekommen, Direktoren in der Öl-Industrie sogar 21,3 Prozent.
Die Kommentare im Internet sind eindeutig: Viele fordern eine Lohnerhöhung von mindestens 9,6 Prozent – ebenso viel, wie die Manager im letzten Jahr erhalten haben. Einer schreibt: „Die Arbeiterbewegung wird jedes Jahr betrogen, weil die Gewerkschaften viel zu geringe Lohnerhöhungen fordern.“
Die Streiks in Norwegen reihen sich in eine Arbeitskampfbewegung in ganz Europa ein. Im Nachbarland Schweden streiken die Lokführer spontan gegen die Streichung der Schaffnerposition in den Pendlerzügen in Stockholm. In Deutschland finden am Freitag erneut Streiks bei der Bahn und an den Flughäfen statt. In Frankreich streikt und protestiert die Arbeiterklasse seit drei Monaten gegen die Rentenkürzungen der verhassten Macron-Regierung.
In Norwegen hat der Gewerkschaftsdachverband LO bisher 23.000 Mitglieder zum Streik aufgerufen, und der kleinere Verband YS knapp 1500. Die LO hat etwa eine Million Mitglieder – bei einer Gesamtbevölkerung von knapp über fünf Millionen und einer Erwerbsbevölkerung von etwa 3,5 Millionen Menschen. Für den Freitag werden weitere 17.000 Beschäftigte in den Streik gerufen.
Die Gewerkschaftsdachverbände und die einzelnen Branchengewerkschaften unterstützen in Norwegen die sozialdemokratische Arbeiderpartiet, die Partei von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, sowie die Senterpartiet, die sich auf die Bauern stützt. Sie stehen auch hinter dem Kriegskurs der Nato gegen Russland und der Lieferungen von Waffen und Ausrüstung an die Ukraine.
Um ihre Lebensinteressen zu verteidigen, müssen auch die Arbeiter in Norwegen sich unabhängig von den Gewerkschaften in Aktionskomitees organisieren und mit der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees Kontakt aufnehmen.