Am Montag verurteilte ein russisches Gericht den führenden Pro-Nato-Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa wegen seiner öffentlichen Kritik am russischen Überfall auf die Ukraine zu 25 Jahren Haft.
Der 41-Jährige unterhält seit langem Beziehungen zur amerikanischen herrschenden Klasse und war eine treibende Kraft hinter der Verabschiedung des Magnitsky Acts – des Gesetzes, mit dem wichtige Vertreter des Putin-Regimes mit Sanktionen belegt wurden. Seit dem 27. Februar 2022 ist Kara-Mursa Mitglied des „Russischen Antikriegskomitees“. Weitere Mitglieder sind Nato-Befürworter wie Michail Chodorkowski, einer der größten Oligarchen der 1990er; der langjährige Führer der pro-amerikanischen Opposition Garri Kasparow und der Unternehmer Boris Simin, der auch die Aktivitäten des ebenfalls inhaftierten, von den USA unterstützten Putin-Kritikers Alexei Nawalny finanziert.
Das „Antikriegskomitee“ besteht keineswegs aus Kriegsgegnern, sondern spricht für Teile der russischen Oligarchie und des Staatsapparats, die für eine Umorientierung der russischen Außenpolitik hin zu einer engeren Zusammenarbeit mit der Nato eintreten und den von den USA angestrebten Regimewechsel in Russland befürworten.
Die Verurteilung Kara-Mursas beruht auf seinen öffentlichen Auftritten in den USA und anderen Ländern in den Jahren 2021 und 2022. Am 15. März sprach sich Kara-Mursa vor Abgeordneten in Arizona gegen den Überfall auf die Ukraine aus, der in Russland nur als „militärische Spezialoperation“ bezeichnet werden darf. Wegen dieses Auftritts wurde er wegen „öffentlicher Verbreitung von Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte“ bzw. Diffamierung der Streitkräfte angeklagt, was mit einer Höchststrafe von 15 Jahren geahndet werden kann. Kurze Zeit später wurde er verhaftet.
Im Sommer 2022 wurde er außerdem wegen seiner Aktivitäten für die „Open Russia“-Stiftung angeklagt, die von dem Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski gegründet wurde. Im Oktober wurde ihm wegen seiner öffentlichen Auftritte bei Nato-Veranstaltungen und im US-Kongress außerdem „Landesverrat“ zur Last gelegt, wofür eine Haftstrafe von zwanzig Jahren verhängt werden kann.
Ein Großteil des Prozesses fand hinter verschlossenen Türen statt, und Kara-Mursas Anwälte forderten wiederholt die Ablösung von Richter Sergei Podopgrigorow, da dieser auf der Sanktionsliste des Magnitsky Act steht, die mit Kara-Mursas Unterstützung zusammengestellt wurde. Bei der Urteilsverkündung waren Diplomaten aus 24 Staaten anwesend, darunter aller Nato-Mitgliedsstaaten, und der amerikanische Botschafter in Russland.
Mit dem Urteil wurde erstmals die erweiterte Auslegung des Vorwurfs des Landesverrats von einem russischen Strafgericht angewandt. Kara-Mursas Urteil war auch deutlich strenger als das gegen andere Oppositionelle, einschließlich des bekannteren Alexei Nawalny.
Arbeiter müssen zwei Schlüsse aus dem Urteil gegen Kara-Mursa ziehen:
Erstens verdeutlicht es, dass die Fraktionskämpfe innerhalb der russischen Oligarchie und des Staatsapparats mehr als ein Jahr nach Beginn des Konflikts mit der Nato in der Ukraine schärfer werden. Kara-Mursa ist der russischen und westlichen Öffentlichkeit zwar wenig bekannt, er gehört jedoch zu den russischen Oppositionellen mit den besten Beziehungen zu den Eliten in Russland und der Welt. Kara-Mursa entstammt einer Familie von bekannten Politikjournalisten. Sein Vater, Wladimir Kara-Mursa Senior, war ein wichtiger Unterstützer von Boris Jelzins „Schocktherapie“, mit der die Wiedereinführung des Kapitalismus nach der Zerstörung der Sowjetunion durch die Stalinisten 1991 abgeschlossen wurde. Später schloss auch er sich der pro-amerikanischen „liberalen“ Opposition gegen das Putin-Regime an.
Kara-Mursa Junior war ein guter Freund des mittlerweile verstorbenen republikanischen Senators und Kriegstreibers John McCain und veröffentlichte häufig Kolumnen in der Washington Post, die sich im Besitz von Amazon-Chef Jeff Bezos befindet und enge Beziehungen zu den US-Geheimdiensten und dem Staatsapparat unterhält. Durch sein offenes und strenges Vorgehen gegen Kara-Mursa will der Kreml zweifellos eine Warnung an andere abweichlerische Oligarchen und aktuelle oder ehemalige Vertreter des Staatsapparats aussenden, die die Absetzung Putins durch ein Regime, das direkt auf der Linie der imperialistischen Mächte steht, offen oder verdeckt befürworten.
Putin ist zwar die dominante Figur des Kreml-Regimes, dieses jedoch ist alles andere als homogen und stabil. Während des letzten Jahres schwankte der Kreml trotz des Kriegs mit der Nato in der Ukraine ständig zwischen Eskalationsdrohungen inklusive der Stationierung von Atomwaffen und Kompromissaufrufen an die imperialistischen Mächte. Der Überfall selbst basierte auf der katastrophalen Fehleinschätzung, der Krieg könne Russlands Position am Verhandlungstisch mit den imperialistischen Mächten stärken. Selbst heute verfolgt das Regime im Grunde das Ziel einer Verhandlungslösung mit dem Imperialismus, bei der die russischen Oligarchen nicht allzu viele Ansprüche auf die direkte Ausbeutung der Rohstoffe und der Arbeiterklasse des Landes aufgeben müssen.
Die unablässigen Bestrebungen der imperialistischen Mächte, den Krieg zu eskalieren und auszuweiten, schüren immense Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse Russlands. Das Urteil gegen Kara-Mursa war zweifellos Teil der erbitterten Fraktionskämpfe und Ausdruck der zunehmenden Instabilität des Putin-Regimes.
Zweitens müssen die Arbeiter das Urteil gegen Kara-Mursa als Warnung sehen: Der Kreml verschärft die Unterdrückung im Inland. Das Gerichtsverfahren war zwar Teil der Fraktionskämpfe innerhalb der herrschenden Oligarchie, doch die Anklagepunkte – wie die Diffamierung und Verbreitung von Falschinformationen über die Streitkräfte – könnte das Putin-Regime auch zur Verfolgung linker Kritiker seines Krieges benutzen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass bereits eine breitere Unterdrückungswelle anrollt. Nach der Explosion in einem Café in St. Petersburg Anfang des Monats, bei der einer der bekanntesten kremlfreundlichen Kriegsblogger getötet wurde, erklärte der russische Inlandsgeheimdienst FSB, das ukrainische Regime wolle in der russischen Jugend aktiv „Terroristen“ rekrutieren.
Letzte Woche gab der FSB bekannt, er habe 118 „Verbrechen terroristischen Charakters“ von Jugendlichen verhindert, die angeblich im Auftrag des ukrainischen Geheimdiensts agierten. Der Pressedienst des FSB erklärte, er kämpfe gegen eine „aggressive ideologische Rekrutierungskampagne“ der ukrainischen und westlichen Geheimdienste, die sich „gegen unsere Bürger, vor allem gegen die junge Generation richtet, um sie für terroristische und extremistische Aktivitäten zu gewinnen“. Strafverfahren wegen „Verbrechen terroristischen Charakters“ können bereits wegen Social Media-Posts eingeleitet werden.
Es steht außer Frage, dass der ukrainische Staat – mit voller Unterstützung durch die Nato und besonders die USA – einen Aufstand in den von Russland beanspruchten Territorien der Ukraine und zunehmend auch innerhalb der Russischen Föderation organisieren möchte. Doch der Kreml nutzt dies als Vorwand, um die Unterdrückung im Inland zu eskalieren, weil besonders unter jungen Menschen der linke Widerstand gegen den Krieg und das ganze kapitalistische System rapide zunimmt.
Die Ursprünge des Putin-Regimes liegen in der nationalistischen Reaktion gegen die sozialistische Oktoberrevolution und in der jahrzehntelangen politischen Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die stalinistische Bürokratie, deren Höhepunkt die Auflösung der Sowjetunion 1991 und die Wiedereinführung des Kapitalismus war. Deshalb reagiert es äußerst nervös auf die zunehmende Antikriegsstimmung in der Arbeiterklasse und das weltweite Wiederaufleben des Klassenkampfs.
So erbittert die Fraktionskämpfe innerhalb der herrschenden Klasse und der Konflikt mit der Nato auch sein mögen, die größte Angst des Putin-Regimes ist nicht die Machtübernahme der Pro-Nato-Fraktion der Oligarchie oder eine offene Konfrontation mit den imperialistischen Mächten, sondern eine Bewegung der Arbeiterklasse in Russland und auf der ganzen Welt gegen den Krieg und das kapitalistische System.
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