Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gewann am Sonntag die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen mit fast vier Punkten Vorsprung vor seinem Rivalen Kemal Kılıçdaroğlu. Er hat damit eine weitere fünfjährige Amtszeit gewonnen.
Erdoğan, der Kandidat der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), erhielt 52,14 Prozent der Stimmen, während der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), Kılıçdaroğlu, 47,86 Prozent auf sich vereinigte. Der Unterschied zwischen den beiden Kandidaten betrug fast 2,3 Millionen Stimmen. Kılıçdaroğlu und seine Nationalallianz räumten am Sonntagabend ihre Niederlage gegenüber Erdoğan ein.
Erdoğan konnte seine Stimmenzahl im Vergleich zur ersten Runde um etwa 600.000 erhöhen, während Kılıçdaroğlu etwa 830.000 Stimmen hinzugewann. In 80 der 81 Provinzen ging die Wahlbeteiligung zurück. Doch die stärksten Stimmverluste verzeichnete Kılıçdaroğlu in den kurdischen Provinzen, wo die kurdisch-nationalistische Demokratische Partei der Völker (HDP), die ihn in beiden Wahlgängen unterstützt hatte, stärkste Kraft ist.
Erdoğan lag in 52 Provinzen vorne. Kılıçdaroğlu schaffte es in 29 Provinzen, konnte aber seine Ergebnisse in den drei größten Städten der Türkei, Istanbul, Ankara und İzmir, verbessern. Wie im ersten Wahlgang lag Kılıçdaroğlu an der Ägäis- und Mittelmeerküste und in den meisten Provinzen mit kurdischer Mehrheit im Osten und Südosten vorn. Erdoğan setzte sich außerhalb dieser Gebiete und in allen Provinzen außer in Ankara, Eskişehir und Tunceli durch.
Wie die World Socialist Web Site und die Sosyalist Eşitlik Grubu erklärten, gab es nur die Wahl zwischen zwei proimperialistischen rechten Kandidaten. Erdoğans Wiederwahl bedeutet nicht, dass er populär ist oder dass seine Politik in der Bevölkerung auf Zustimmung stößt. Tatsächlich hat Erdoğan, der verfassungswidrig zum dritten Mal als Präsident angetreten ist, erstmals in seiner Laufbahn nicht im ersten Wahlgang gewonnen, sondern erst mit knappem Vorsprung in der Stichwahl.
Erdoğan hat aufgrund der Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen gegen seine tödliche Reaktion auf die Corona-Pandemie und die Erdbebenkatastrophe am 6. Februar, sowie die ausufernde Krise der Lebenshaltungskosten inmitten des Nato-Kriegs gegen Russland deutliche Verluste erlitten. Um diesen Niedergang zu stoppen, griff er auf einen vorgetäuschten „Antiimperialismus“ und Populismus zurück. Dabei kam ihm die Tatsache zunutze, dass sich sein Rivale offen auf die weithin verhassten imperialistischen Mächte orientiert. Kılıçdaroğlu hatte zugesagt, die Türkei noch tiefer in den Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine hineinzuziehen.
Das Wahlergebnis verweist eher auf den politischen Bankrott von Kılıçdaroğlus Wahlkampf und seines Bündnisses als auf Erdoğans knappen Sieg. Der Ukrainekrieg der Nato gegen Russland, der eine atomare Katastrophe für die Welt immer wahrscheinlicher macht, spielte in den Wahlen eine zentrale Rolle. Kılıçdaroğlu machte kein Geheimnis daraus, dass er sich auf die US-geführten Nato-Mächte ausrichtet. Er warf der russischen Regierung bereits im ersten Wahlgang Einmischung in die Wahlen vor, ohne dafür Beweise vorzulegen.
Kılıçdaroğlu übernahm das Wirtschaftsprogramm des Unternehmerverbandes TÜSİAD und kündigte an, die Beziehungen zu den Finanzkreisen in London und New York auszubauen. Um die Wirtschaftskrise zu bewältigen, kündigte er ein Sparprogramm zu Lasten der Arbeiter an.
Nach der ersten Runde am 14. Mai unterzeichnete Kılıçdaroğlu ein Wahlprotokoll mit der rechtsextremen Partei des Sieges. In seinem Wahlkampf konzentrierte er sich vor allem auf Forderungen nach der Abschiebung von Millionen unschuldiger Flüchtlinge und nach einem gegen Kurden gerichteten „Krieg gegen den Terror“.
Die kurdisch-nationalistische Demokratische Partei der Völker (HDP) und zahlreiche pseudolinke Parteien, wie die stalinistische Arbeiterpartei der Türkei (TİP), feierten Kılıçdaroğlu als „demokratische“ Alternative zum „autoritären“ Erdoğan. Doch in Wirklichkeit führte Kılıçdaroğlu eine faschistoide Kampagne gegen Flüchtlinge, die er für alle gesellschaftlichen Probleme verantwortlich machte, die sich aus der Krise des Kapitalismus ergeben. Die Wahlergebnisse von Sonntag zeigen, dass dieser reaktionäre Appell an Fremdenfeindlichkeit und Chauvinismus in breiten Teilen der Bevölkerung keinen Rückhalt fand.
Erdoğan hielt um Mitternacht eine Siegesrede im Präsidentenpalast in Ankara, bei der er die populistische Rhetorik seines Wahlkampfs fortsetzte: „Nicht nur wir haben gewonnen, sondern die Türkei... Wir haben gesagt, wenn wir gewinnen, werden die einzigen Verlierer diejenigen sein, die schmutzige Szenarien für unser Land vorsehen, und ihre Apparate, Terrororganisationen und Kredithaie.“
Erdoğan verurteilte seine Nato-Verbündeten, die keinen Hehl daraus gemacht hatten, dass sie einen Sieg Kılıçdaroğlus bevorzugt hätten. „Haben deutsche, französische und britische Zeitschriften nicht Titelseiten veröffentlicht, um Erdoğan zu schlagen? Sie haben ebenfalls verloren. Ihr habt gesehen, welche Bündnisse monatelang gegen uns geschmiedet wurden. Ihr habt gesehen, wer mit wem zusammensteht. Sie sind gescheitert, und werden ab jetzt keinen Erfolg mehr haben.“
Kılıçdaroğlu schloss in seiner Rede seinen Rücktritt als Parteichef der CHP aus und kündigte an, seinen bankrotten und reaktionären politischen Kurs beizubehalten. Er attackierte erneut die schwächsten Teile der Bevölkerung und erklärte, er sei gegen Flüchtlinge, weil sie auf „die Rechte“ türkischer Staatsbürger „übergriffen“. Die große Mehrheit von ihnen lebt in tiefer Armut ohne Grundrechte.
Kılıçdaroğlu behauptete: „Wir haben den unfairsten Wahlprozess der letzten Jahre erlebt. Alle Ressourcen des Staats wurden für eine Partei und einen Mann mobilisiert... Die CHP und das Bündnis der Nation kämpfen an allen Fronten mit allen ihren Möglichkeiten. Wir werden weiterhin an vorderster Front in diesem Kampf stehen, bis es echte Demokratie in unserem Land gibt. Unser Marsch geht weiter, und wir sind hier.“
Die ersten Reaktionen der Nato-Großmächte spiegelten ihre Pläne wider, die Türkei – einen strategisch wichtigen Verbündeten am Schwarzen Meer – in ihre aggressive Politik gegen den Kreml einzubeziehen, um den Krieg gegen Russland auszuweiten. Demensprechend schickten die Regierungschefs von Frankreich, Deutschland und den USA Botschaften, in denen sie Erdoğan gratulierten.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron twitterte auf Türkisch und Französisch: „Frankreich und die Türkei stehen vor gewaltigen Herausforderungen, die wir gemeinsam bewältigen müssen. Lassen Sie uns zu Frieden in Europa, der Zukunft unseres europäisch-atlantischen Bündnisses und dem Mittelmeer zurückkehren. Mit Präsident Erdoğan, dem ich zu seiner Wiederwahl gratuliere, werden wir weiter vorwärtsgehen.“
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz betonte seine Bereitschaft, mit Erdoğan zusammenzuarbeiten und erklärte: „Deutschland und die Türkei sind enge Partner und Alliierte – auch gesellschaftlich und wirtschaftlich sind wir stark miteinander verbunden. Gratulation an Präsident Erdoğan zur Wiederwahl. Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben.“
US-Präsident Joseph Biden äußerte sich ähnlich: „Glückwunsch an den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu seiner Wiederwahl. Ich freue mich darauf, weiterhin als Nato-Verbündete in bilateralen Fragen und bei gemeinsamen globalen Herausforderungen zusammenzuarbeiten.“
Russlands Präsident Wladimir Putin, der Erdoğan noch vor den Nato-Verbündeten gratulierte, äußerte die Hoffnung, dass Ankara seinen derzeitigen außenpolitischen Kurs fortsetzen werde: „Wir wissen Ihren persönlichen Beitrag zur Stärkung der freundschaftlichen russisch-türkischen Beziehungen und der für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen zu schätzen. Ich möchte unsere Bereitschaft bekräftigen, unseren konstruktiven Dialog in aktuellen Fragen bilateraler, regionaler und internationaler Natur fortzusetzen.“
Putin ist vermutlich erleichtert, dass dieses Wahlergebnis die Amtsübernahme von Kılıçdaroğlu, einem noch feindseligeren Kandidaten, verhindert hat. Doch unter Erdoğan hat die türkische Regierung die Nato und die Ukraine politisch und militärisch uneingeschränkt unterstützt, auch wenn sie sich nicht an den Sanktionen der Nato-Mächte gegen Russland beteiligt. Tatsächlich hatte Erdoğans Unterstützung eine wichtige Rolle dabei gespielt, Finnland den gegen Russland gerichteten Beitritt zur Nato zu ermöglichen.
Die Bestrebungen der Nato-Mächte, die Ukraine mit F-16-Kampfflugzeugen und anderen hochmodernen Waffen für den Einsatz gegen Russland auszurüsten, erhöhen zunehmend die Gefahr einer Ausweitung des Kriegs und einer direkten Nato-Intervention. Letzte Woche wurde ein russisches Schiff, das die russisch-türkischen Pipelines Turk Stream und Blue Stream bewacht, 140 Kilometer nordöstlich des Bosporus von ukrainischen Marinedrohnen angegriffen.
Der Wahlausgang in der Türkei wird keins der Probleme der arbeitenden Bevölkerung in der Türkei lösen. Er wird weder den Ukrainekrieg der Nato gegen Russland beenden, der nur wenige hundert Kilometer nördlich tobt, noch die Krise der Lebenshaltungskosten lösen, die auf einen globalen Anstieg der Inflation zurückgeht. Angesichts einer um sich greifenden Wirtschaftskrise plant die Erdoğan-Regierung die Verschärfung ihrer Sozialangriffe auf die Arbeiterklasse, die unweigerlich zu erbitterten Klassenkämpfen führen werden.
Der Weg vorwärts im Kampf gegen Erdoğans reaktionäre kapitalistische Regierung führt über die Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms, unabhängig von der bankrotten bürgerlichen Opposition und den pseudolinken Gruppen, die sie unterstützen.