Starker Anstieg der Corona-Infektionen in Deutschland

Seit etwa sechs Wochen steigt die Zahl der Corona-Fälle in Deutschland kontinuierlich an. Für die letzte Woche gab das RKI 4000 Corona-Infektionen an. Das sind doppelt so viele wie noch vor einem Monat.

Während die Zahl ein Indiz für die starke Zunahme des Infektionsgeschehens ist, gibt sie jedoch keineswegs das Ausmaß der tatsächlichen Situation wieder. In die 4000 gemeldeten Fälle fließen lediglich Labor-bestätigte Fälle. Da sämtliche Corona-Teststationen geschlossen wurden, der Großteil der Menschen sich selbst zu Hause testet und auch sonst keinerlei ernsthafte Überwachung des Pandemiegeschehens stattfindet, ist völlig klar, dass die wirkliche Pandemielage nur erahnt werden kann.

„Wir müssen davon ausgehen, dass sich viele Menschen gerade mit Corona infiziert haben und glauben, nur an einer Erkältung erkrankt zu sein“, warnt etwa der Epidemiologe Hajo Zeeb. „Die Dunkelziffer“ sei „sehr hoch“ und man „kenne die genaue Zahl der Fälle einfach nicht“.

Und auch Nicola Buhlinger-Göpfahrt, Vizechefin des Hausärzteverbands, erklärt: „Aktuell nehmen wieder vermehrt Praxen Corona-Fälle wahr. Patientinnen und Patienten raten wir daher, bei einem Infekt auch an eine mögliche Covid-19-Infektion zu denken.“

Tatsächlich belegen verschiedene Faktoren den derzeitigen Anstieg von Corona-Infektionen. Nach dem Corona-Pandemieradar der Bundesregierung meldeten zuletzt 70 Prozent der Standorte eine steigende Viruslast im Abwasser. Die Zahl der Arztbesuche aufgrund einer Corona-Erkrankung nahm zur Vorwoche um 76 Prozent zu, und die Zahl an Hospitalisierungen aufgrund einer schweren Corona-Erkrankung stieg um 48 Prozent. Der deutlichste Hinweis ist jedoch, dass der Anstieg ein weltweites Phänomen ist.

Experten gehen davon aus, dass in den derzeitigen Infektionsanstieg auch der doppelte Kinostart der Kassenschlager „Barbie“ und „Oppenheimer“ einfließt. „Ich will ja nicht schwarzmalen, aber macht sich jemand Sorgen über eine Post-Barbie- oder Post-Oppie-Covid-Welle?“, gab der Impfstoffforscher Peter Hotez vom Baylor College of Medicine im texanischen Houston auf Twitter zu bedenken. Er rief dazu auf, bei Kinobesuchen eine Maske zu tragen.

Für den kommenden Herbst und Winter warnen Experten vor einer noch stärkeren Ausbreitung des Virus. Diese würde dann zusammenfallen mit der Ausbreitung anderer Atemwegsinfektionen und könnte so Krankenhäuser, Hausärzte und Pflegeeinrichtungen stark belasten. So prognostiziert der Präsident des Kinder- und Jugendärzteverbands, Thomas Fischbach, eine schwere Grippewelle in Deutschland. Als Indiz dafür verwies er auf den rasanten Anstieg der Fallzahlen in Australien.

Besonders bedeutend beim derzeitigen Infektionsgeschehen ist die Ausbreitung von zwei Subvarianten: EG.5, auch „Eris“ genannt, und BA.2.86., Spitzname „Pirola“. Eris ist eine Omikron-Subvariante, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „Variant of interest“ eingestuft wird, der direkten Vorstufe einer „Variant of concern“. Den letzten Daten zufolge macht sie rund ein Viertel des Infektionsgeschehens in Deutschland aus.

„Wir werden in Deutschland sicher vermehrt Krankheitsfälle sehen, die es ohne die Variante nicht gegeben hätte“, sagte der Frankfurter Virologe Martin Stürmer dem Spiegel. Auch die WHO erklärt, dass EG.5 durch seinen Wachstumsvorteil und seine Immunflucht-Eigenschaften wieder für mehr Fälle sorgen dürfte und in einigen Ländern oder sogar dominant werden könnte.

Pirola ist noch deutlich stärker mutiert als Eris. Im Vergleich zu den nächsten Verwandten weist sie knapp 30 Veränderungen im Spike-Protein auf. Damit unterscheidet sie sich genetisch von Omikron ungefähr so stark, wie Omikron von den vorherigen Varianten. Zwar wurde laut RKI bisher noch kein Fall in Deutschland nachgewiesen, dass jedoch bereits Sequenzen aus verschiedenen Ländern vorliegen, wiest auf eine weltweite Verbreitung hin.

Es wird vermutet, dass Pirola eine deutlich höhere Immunflucht aufweist als frühere Varianten. Isabella Eckerle, Professorin am Zentrum für neuartige Viruserkrankungen an den Universitätskliniken Genf, das auch WHO-Kollaborationszentrum für epidemische und pandemische Krankheiten ist, erklärt im Interview mit dem Spiegel: „Meine Einschätzung ist: Ja, wir werden bald eine Zunahme sehen.“

Sie warnt: „[J]etzt passiert wieder etwas, wir sehen mehr Fälle in der Notaufnahme, mehr Krankenhausaufnahmen. Nur was genau, ist noch nicht klar – die Sequenzierung zeigt einen bunten Mix aus verschiedenen Varianten, darunter auch EG.5, aber prozentual noch nicht so stark verbreitet. … Weder Long Covid noch die von Corona verursachten Gefäß- und die neurologischen Erkrankungen sind bisher ausreichend verstanden. Und einen stabilen Zustand kann ich bislang nicht erkennen. Ich glaube, das Virus ist noch nicht fertig mit uns.“

Zwar würde man ihrer Einschätzung nach „nicht mehr diese ganz schweren Infektionen sehen wie am Anfang, aber dafür eben sehr viele Infektionen, in allen Bevölkerungsgruppen“. Die „Mischung aus Sars-CoV-2, Influenza, RSV und den saisonalen respiratorischen Viren“ könne dabei „sehr wohl das Gesundheitssystem belasten“. Dies werde „zu Personalausfällen führen, zu Engpässen in der Klinik, in den Praxen, in der Notaufnahme. Und zu Menschen, die Long Covid bekommen.“

Tatsächlich kommen immer mehr Fakten über die Folgen von Long Covid ans Licht. So zeigt eine jüngst erschienene Studie, dass auch zwei Jahre nach der eigentlichen Infektion mit dem Virus gesundheitliche Beschwerden immer noch erhöht sind, selbst nach „leichteren“ Verläufen.

Die Studie, über die ein Forschungsteam im Fachblatt „Nature Medicine“ berichtet, hat die Daten von etwa 140.000 US-Veteranen ausgewertet, die 2020 positiv auf Corona getestet worden waren. Diese Daten wurden mit fast sechs Millionen Veteranen verglichen, die keine bekannte Corona-Infektion hatten.

Zusätzlich zu den typischerweise auftretenden Long Covid-Symptomen, wie Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit, wurden die Teilnehmer der Studie noch auf weitere 80 Folgeerkrankungen untersucht. Das Ergebnis: Corona-Patienten, die im Krankenhaus behandelt werden mussten, hatten auch zwei Jahre nach der Infektion ein erhöhtes Risiko für etwa zwei Drittel der untersuchten Beschwerden.

Im Vergleich zu Menschen ohne bekannte Infektion hatten sie ein 50 Prozent höheres Risiko für Herzversagen und ein doppelt so hohes Risiko für Alzheimer. Und auch bei Menschen mit milderen Verläufen traten etwa ein Drittel der 80 untersuchten Beschwerden häufiger auf. Darunter ein 13 Prozent höheres Risiko für Diabetes.

Die Wissenschaftler stellen die folgende schockierende Rechnung auf: Bei den schwer Erkrankten seien pro Tausend Menschen etwa 640 gesunde Lebensjahre verloren gegangen. Die weniger schwer Erkrankten hätten 80 gesunde Lebensjahre verloren. Auch dies sei noch „eine astronomisch hohe Zahl“, erklärte der Leiter der Studie Ziyad Al-Aly. Bei Krebs- und Herzerkrankungen liege der DALY (disease-adjusted life years)-Wert bei etwa 50.

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