Gabor Steingart zählt zu den bestvernetzten Journalisten in der deutschen Hauptstadt. Der frühere Chefredakteur und Herausgeber des Handelsblatts hat das Online-Medium The Pioneer aufgebaut, in dem regelmäßig führende Vertreter von Politik und Wirtschaft zu Wort kommen. Er gibt sich gern als politischer Freigeist und spricht oft als Erster und am unverblümtesten aus, was andere aus seinem Milieu denken.
Steingarts jüngster Newsletter, The Pioneer Briefing vom 19. Oktober, gibt einen Einblick in den Geisteszustand, der in den tonangebenden Kreisen Deutschlands nach dem Wiederaufflammen des Nahostkonflikts herrscht. Er macht deutlich, weshalb die politischen Parteien und Medien den völkermörderischen Krieg des Netanjahu-Regimes im Gaza-Streifen geschlossen unterstützen und jeden als „Terroristen“ und „Antisemiten“ verfolgen, der die geringste Empathie für die Palästinenser zeigt.
Um den Schutz von Juden – ob in Israel oder in Deutschland – geht es ihnen dabei nicht. Das wäre auch erstaunlich bei einer herrschenden Klasse, die nach der Ermordung von sechs Millionen Juden die Verantwortlichen in höchsten Ämtern beließ, keinen einzigen Profiteur von Arisierung und Zwangsarbeit enteignete, Jahrzehnte brauchte, bis sie schließlich einige wenige Massenmörder vor Gericht stellte, und heute die faschistische AfD, in der es von Antisemiten wimmelt, einen prominenten Platz in der Politik einräumt.
Steingart und die herrschende Klasse, für die er spricht, betrachten den Widerstand der Palästinenser und die Unterstützung, auf die er im Nahen Osten und weltweit unter den unterdrückten Massen stößt, als Angriff auf ihre imperialistischen Interessen, als Bedrohung ihres „Rechts“, die ganze Welt auszuplündern. Deshalb unterstützen sie den Terror der israelischen Armee im Gazastreifen und unterdrücken jede Opposition dagegen.
Steingart stellt in seinem Briefing eine direkte Verbindung zwischen islamistischen Organisationen im Nahen Osten und Deutschlands wichtigsten geopolitischen Rivalen her. Die Akteure hinter Hamas, Hisbollah und Islamischem Dschihad, behauptet er, seien „keine in Wut geratenen Terroristen, sondern kühl kalkulierende Staaten“. Zu diesen Staaten zählt er – neben Iran, Kuwait und Jemen – die Russische Föderation und die Volksrepublik China.
Beweise dafür nennt er nicht, weil es keine gibt. Sowohl Russland wie China haben sich im Gaza-Konflikt bisher zurückgehalten und zur Deeskalation aufgerufen. Russland pflegte sogar lange gute Beziehungen zu Israel. Netanjahu warb noch bei der Wahl vor einem Jahr mit Plakaten, die ihn beim Handschlag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zeigen.
Doch das kümmert Steingart nicht. Er spricht für eine herrschende Klasse, die sich von zwei Seiten bedroht fühlt – von der internationalen Arbeiterklasse, die gegen Ausbeutung und Unterdrückung rebelliert, und von ihren globalen Rivalen im Kampf um Rohstoffe, Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte.
Steingart wirft seinen Gegnern vor, sie vereine ein Ziel: „Sie wollen den Westen erst destabilisieren, ihn dann in seiner weltpolitischen Bedeutung relativieren, schließlich minimieren, um ihn dann womöglich liquidieren zu können.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Um „den Westen“ zu verteidigen, setzt er auf hemmungslose Gewalt. Er schreibt wörtlich: „Flugzeugträger, Panzerdivisionen und der Iron Dome sind derzeit nicht die letzte, sondern die erste Hoffnung für Millionen Menschen im Westen. Das Militär und seine Kunstfertigkeit im Erkennen, Beschützen und dem möglichst präzisen Aufspüren und dann auch Vernichten von Gegnern ist die Kernkompetenz dieser Zeit.“
Flugzeugträger und Panzerdivisionen als „Hoffnung für Millionen Menschen“ und das Vernichten von Gegnern als „Kernkompetenz dieser Zeit“ – Adolf Hitler hätte es nicht besser sagen können. So schreibt jemand, der jede moralische Hemmung verloren hat. Steingart spricht für eine herrschende Klasse, die mit dem Rücken zur Wand steht, gewaltsam um sich schlägt und wieder zu jedem Verbrechen fähig ist.
Sein Briefing endet mit dem Satz: „So viel sei gesagt: Womöglich verspürt das 21. Jahrhundert eine frivole Lust, das 20. Jahrhundert mit seinen zwei Weltkriegen nachzuspielen.“
Es mag sein, dass Steingart und seine Freunde in Berlin und Washington diese „frivole Lust“ verspüren. Doch die Arbeiterklasse und die Jugend sind nicht bereit, sich ein weiteres Mal als Kanonenfutter in einem imperialistischen Krieg verheizen zu lassen, der das Überleben der Menschheit in Frage stellt.