Perspektive

Zeitgleich zum US-Votum gegen Waffenstillstand

UN-Gerichtsverfahren enthüllt langjährige israelische Pläne zur Besetzung und Annexion palästinensischer Gebiete

Riyad Al-Maliki, Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde (Mitte), gibt eine Erklärung vor dem Friedenspalast ab, nachdem das höchste Gericht der Vereinten Nationen am 19. Februar 2024 in Den Haag (Niederlande) eine historische Anhörung eröffnet hat [AP Photo/Peter Dejong]

Die Regierung der Vereinigten Staaten hat gestern erneut ein Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats eingelegt, in der Israel zu einem Waffenstillstand im Gazastreifen aufgefordert wird. Es ist das dritte Mal, dass die Biden-Regierung ihr einseitiges Vetorecht ausübt, um Israels Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung in Gaza zu unterstützen.

Der Sicherheitsrat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet, um die UN-Charta durchzusetzen, militärische Einsätze zu regeln und Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten zu verhängen. Er besteht aus 15 Mitgliedern, von denen fünf „ständige“ Mitglieder sind und ein einseitiges Vetorecht gegen jede Resolution ausüben können: China, Frankreich, Russland, Großbritannien und die USA.

Seit Oktober wurden bei dem israelischen Massaker in Gaza fast 30.000 Palästinenser getötet, 8.000 werden vermisst und 70.000 wurden verwundet, viele von ihnen schwerwiegend. Diese Zahlen sind wahrscheinlich zu niedrig angesetzt. Bis zu 1,9 Millionen Menschen – vier von fünf Personen im gesamten Gazastreifen – sind obdachlos geworden, da die israelischen Streitkräfte systematisch ganze Stadtgebiete in Schutt und Asche legen. Die Überlebenden sind gezwungen, in immer kleinere Gebiete zu flüchten, wo sie von israelischen Kampfflugzeugen und Scharfschützen gnadenlos beschossen und terrorisiert werden. Gleichzeitig gehen die Vorräte an Lebensmitteln und Medikamenten zur Neige.

Der vorsätzliche Massenmord an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen wird fortgesetzt – gegen den breiten Widerstand weltweit und gegen eine Waffenstillstandsresolution, die im Dezember von der UN-Vollversammlung mit einer Dreiviertelmehrheit verabschiedet wurde.

Israel, die USA und ihre Nato-Verbündeten ließen sich auch nicht vom Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Januar abschrecken. Das höchste Gericht unter der UN-Charta hatte die Vorwürfe, Israels Operationen im Gazastreifen seien nach der Völkermordkonvention von 1948 strafbar, als „plausibel“ eingestuft.

Um einen Vorwand zu schaffen, gegen die jüngste Waffenstillstandsresolution zu stimmen, legte die Biden-Administration einen alternativen Resolutionsvorschlag vor, der so vage formuliert war, dass er unverständlich ist. Darin fordern die USA einen „vorübergehenden Waffenstillstand im Gazastreifen, sobald dies möglich ist“, und missbilligen „unter den derzeitigen Umständen“ die Pläne Israels zur Stürmung der Stadt Rafah, wo eine Million Menschen Zuflucht gesucht haben.

Während die USA ihr Veto im Sicherheitsrat einlegten, liefen zeitgleich vor dem IGH Gerichtsanhörungen, die das Ausmaß der jahrzehntelangen Missachtung des Völkerrechts durch Israel und seiner Politik der illegalen Besetzung und Annexion palästinensischer Gebiete belegen.

Im Gegensatz zu dem anhängigen Verfahren vor dem IGH, das im vergangenen Monat weltweit Aufmerksamkeit erregte und in dem Israel wegen des Verstoßes gegen die Völkermordkonvention angeklagt wird, waren die Anhörungen in dieser Woche Teil eines separaten früheren „Beratungsverfahrens“, das auf eine Ende Dezember 2022 verabschiedete Resolution der UN-Generalversammlung zurückgeht.

In dieser Resolution wurde der IGH in Den Haag aufgefordert, über folgende Frage zu beraten: „Welche rechtlichen Konsequenzen ergeben sich aus der fortdauernden Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der palästinensischen Bevölkerung durch Israel, aus der anhaltenden Besetzung, Besiedlung und Annexion der seit 1967 okkupierten palästinensischen Gebiete, einschließlich der Versuche, die demografische Zusammensetzung, den Charakter und den Status der Heiligen Stadt Jerusalem zu verändern, sowie aus der Verabschiedung damit zusammenhängender diskriminierender Rechtsvorschriften und Maßnahmen?“

In dem Gerichtsprozess hat die palästinensische Seite in dieser Woche die historischen Fakten detailliert dargelegt. Laut ihren Präsentationen wurde die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung „in der Nakba von 1948 massakriert oder vertrieben“. Danach wurde ihr Land „aufgeteilt und die Hälfte davon einem neuen Staat zugewiesen, der es umgehend mit brutaler Gewalt auf 78 Prozent ausdehnte. Im Jahr 1967 ... begann Israel mit der bis heute andauernden Besetzung des gesamten verbleibenden palästinensischen Gebiets.“

Diese schrittweise ethnische Säuberung wird bis heute fortgesetzt, was sich „nirgendwo deutlicher zeigt, als in der Zahl der illegalen Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten, die von etwa 424.000 im Jahr 2004 auf heute etwa 700.000 Siedler angewachsen ist“. Diese faschistischen bewaffneten Siedlergruppen verüben ungestraft Gewalt gegen Palästinenser und genießen den Schutz des israelischen Militärs und die Billigung seitens des Staats.

Ihr Verhalten ist nach denselben völkerrechtlichen Grundsätzen, auf die sich beispielsweise die USA gegenüber Russland berufen, eindeutig rechtswidrig. Denn es werden Gebiete durch einseitige Gewalt besetzt und annektiert, was gegen die UN-Charta sowie gegen die sogenannten Grundsätze der Selbstbestimmung und der nationalen Souveränität verstößt.

Die Geschichte des Völkerrechtsbruchs durch Israel ist so bekannt, dass sie sowohl in der zugrundeliegenden UN-Resolution als auch während des gesamten IGH-Verfahrens im Wesentlichen als selbstverständlich angesehen wurde. Im Jahr 2022 hatten die Vereinten Nationen mehr Resolutionen gegen Israel verabschiedet, in denen seine Verstöße gegen das Völkerrecht verurteilt wurden, als gegen alle anderen Länder zusammen.

Die Präsentationen vor Gericht belegen ausführlich, dass Israels Ziel, seine Vorherrschaft über das gesamte Gebiet „vom Jordan bis zum Mittelmeer“ auszudehnen, nie ein Geheimnis war – ungeachtet der symbolischen Forderungen der US-Regierungen nach einer vermeintlichen „Zwei-Staaten-Lösung“.

Israels Kabinettssekretär Yossi Fuchs schrieb im Juni letzten Jahres mit Bezug auf die biblischen Bezeichnungen der besetzten Gebiete in Jerusalem und dem Westjordanland: „Judäa und Samaria wurden nicht von einem souveränen, völkerrechtlich anerkannten Staat eingenommen, und der Staat Israel hat das Recht, seine Souveränität über diese Gebiete durchzusetzen, da sie die Wiege der Geschichte des jüdischen Volkes darstellen und ein untrennbarer Teil des Landes Israel sind.“

Im August letzten Jahres erklärte der israelische Minister für Kulturerbe im israelischen Armeeradio: „Die Souveränität muss innerhalb der Grenzen des Westjordanlandes ausgeweitet werden, ... um die internationale Anerkennung zu schaffen, dass dieser Ort uns gehört.“

Der rechtsextreme israelische Finanzminister Bezalel Smotrich, selbst ein illegaler Siedler, ging im März letzten Jahres sogar so weit zu erklären, dass es „so etwas wie ein palästinensisches Volk nicht gibt“. Bereits vorher hatte er gesagt: „Wir sind hier, um zu bleiben. Wir werden deutlich machen, dass unser nationales Streben nach einem jüdischen Staat vom Fluss bis zum Meer eine vollendete Tatsache ist, eine Tatsache, die nicht diskutiert oder verhandelt werden kann.“

Die vor dem IGH vorgetragenen historischen Fakten widerlegen vollständig die Behauptung, die jetzige israelische Operation im Gazastreifen sei eine Reaktion auf die Ereignisse des 7. Oktober. In Wirklichkeit hat die israelische Regierung mit ihren ständigen Provokationen über Jahre hinweg alles darangesetzt, die Palästinenser zu dem verzweifelten Aufstand vom 7. Oktober anzustacheln. Gleichzeitig zog sie ihre eigenen Truppen zurück, um den Angriff zu ermöglichen, den sie als Vorwand für die lang geplante Durchsetzung der israelischen Herrschaft über den gesamten Gazastreifen brauchte.

Die juristischen Präsentationen vor dem IGH zeigen auch, dass die Verleumdung des palästinensischen Slogans „From the River to the Sea“ als antisemitisch die Realität auf den Kopf stellt.

Im Gegensatz zum IGH-Verfahren im vergangenen Monat, in dem fast nur taktvolle Anspielungen auf die US-Regierung gemacht wurden, musste sich die Biden-Regierung diese Woche vor dem IGH demütigende Vorwürfe gefallen lassen. „Immer wenn Israel gegen das Völkerrecht verstößt, kommen die Vereinigten Staaten und schützen Israel davor, zur Rechenschaft gezogen zu werden“, erklärte Paul Reichler, ein amerikanischer Anwalt und Mitglied der Anwaltskammer des Obersten Gerichtshofs der USA, der die palästinensische Seite vertritt.

In seinen schriftlichen Eingaben an den IGH, so Reichler, habe sich Israel nicht einmal die Mühe gemacht, für die Rechtmäßigkeit seines eigenen Verhaltens zu argumentieren, und stattdessen alle seine Kritiker der antisemitischen Voreingenommenheit beschuldigt. Selbst die US-Regierung konnte sich nicht dazu durchringen, für die Rechtmäßigkeit der israelischen Besetzung und Annexion palästinensischer Gebiete zu plädieren, sondern beharrt auf der Formulierung, diese seien „weder rechtmäßig noch rechtswidrig“. Neben Israel und den USA war der Inselstaat Fidschi im Südpazifik das einzige andere Land, das einen Schriftsatz zur Unterstützung Israels einreichte.

Reichler machte die Position der Biden-Regierung lächerlich, die darauf hinausläuft, zu leugnen, dass es überhaupt so etwas wie internationales Recht gibt. „Nur in einer Welt ohne Recht und ohne die Charta der Vereinten Nationen“ könne die israelische Besatzung als „nicht rechtswidrig“ bezeichnet werden, so Reichler.

Reichlers scharfe Erwiderung erinnern an die berühmten Worte des Richters des Obersten Gerichtshofs der USA, Robert Jackson, dem Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen. Mit Blick auf die hochrangigen Nazi-Kriegsverbrecher, die ihm gegenüber saßen, erklärte Jackson: „Ich kann natürlich nicht bestreiten, dass diese Männer überrascht sind, zu sehen, dies solle jetzt Gesetz sein; tatsächlich sind sie ja überrascht, dass es überhaupt so etwas wie ein Gesetz gibt. Die Angeklagten stützen sich ja überhaupt nicht auf ein Gesetz. Ihr Programm missachtete jedes Gesetz und widersetzte sich ihm... Völkerrecht, natürliches Recht, deutsches Recht, jedes Recht überhaupt war diesen Männern nur eine Propagandaformel; sie bedienten sich seiner, wenn es ihnen helfen konnte, und sie verzichteten darauf, wenn es das, was sie tun wollten, verdammte.“

Dieselben Worte gelten mit ihrer ganzen Kraft auch für die Verbrecher des Völkermords im 21. Jahrhundert, zu denen nicht nur Netanjahu und sein gesamtes Regime gehören, sondern auch ihre Komplizen in Washington, London, Paris und Berlin, die Blut an den Händen haben.

Die Verfahren vor dem IGH in den vergangenen zwei Monaten haben das US-geführte Nato-Bündnis vollständig entlarvt, das im Namen der Aufrechterhaltung einer so genannten „regelbasierten Ordnung“ andere Länder rund um den Globus bedroht, bombardiert und mit Sanktionen belegt, um seine globale Vorherrschaft zu sichern. Wenn dieselbe „regelbasierte Ordnung“ gegen einen US-Verbündeten ins Feld geführt wird, der am helllichten Tag einen Völkermord begeht, kneifen die Nato-Diplomaten die Augen zusammen: „Regelbasierte Ordnung, sagen Sie? Nie davon gehört.“

Amerikas Veto gegen die Waffenstillstandsresolution und seine Verteidigung des israelischen Genozids vor dem IGH werden weltweit und insbesondere in den USA selbst auf große Ablehnung stoßen. Laut einer aktuellen Economist/YouGov-Umfrage stimmten 49 Prozent der 18- bis 29-Jährigen in den USA der Aussage zu, dass Israel in Gaza einen Genozid begeht, nur 24 Prozent antworteten mit „Nein“. 50 Prozent der Befragten aller Altersgruppen, die 2020 für Biden stimmten, sagten „Ja“, nur 20 Prozent verneinten.

Die US-Medien, die die Verfahren in der UN herunterspielen, wenn nicht sogar ganz ausblenden, führen ihrerseits eine koordinierte Propagandakampagne, um Abneigung gegenüber der „undemokratischen“ russischen Regierung zu schüren. Aber wenn es eine Regierung in der Welt gibt, die völlig unempfänglich für die Stimmung ihrer eigenen Bevölkerung ist, dann sicherlich das Regime Bidens, nicht Putins.

Man kann den UN-Institutionen nicht zutrauen, die Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, die Täter zu entwaffnen und die Opfer zu entschädigen. Das IGH-Verfahren in dieser Woche ist Teil eines langwierigen Prozesses, der nur „beratenden“ Charakter hat und möglicherweise erst in einigen Monaten zu einem Urteil führt.

Bezeichnenderweise lehnte der IGH im Völkermord-Verfahren gegen Israel am vergangenen Freitag einen Antrag Südafrikas ab, das dringende Maßnahmen forderte, um die Vorbereitungen der israelischen Armee auf die Stürmung von Rafah zu stoppen. Stattdessen verwies das Gericht lediglich auf die bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen Israels – wohl wissend, dass Israel diese Ermahnungen ignorieren wird, wie es das schon seit Jahrzehnten tut.

Wie Netanjahu selbst letzten Monat in einer Fernsehansprache sagte, werden die Angriffe weitergehen, unabhängig davon, welche Entscheidungen der IGH letztendlich treffen wird. „Niemand wird uns aufhalten – nicht Den Haag, nicht die Achse des Bösen und niemand sonst. Es ist möglich und notwendig, bis zum Sieg zu gehen, und wir werden es tun.“

Der weltweite Widerstand gegen den Genozid in Gaza – in den USA, Israel, Europa, dem Nahen Osten und anderen Regionen – muss mit allen Parteien, Institutionen und Personen brechen, die diskreditiert sind, weil sie sich mitschuldig gemacht haben oder untätig geblieben sind. Stattdessen muss sich die Opposition auf die gemeinsamen objektiven Interessen und die wachsende Massenbewegung der internationalen Arbeiterklasse für den Sozialismus stützen.

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