Die Entscheidung der Jury, dem Dokumentarfilm „Dahomey“ der französisch-senegalesischen Regisseurin Mati Diop („Atlantique“, 2019) den Goldenen Bären zuzuerkennen, ist vielleicht ein Anzeichen, dass der bestimmende Einfluss der Identiätspolitik im Kulturbereich bröckelt. Die Diskussionen über strukturellen Rassismus und Geschlechterpolitik gehen an den realen Problemen vorbei und sind darauf angelegt, keine Lösung und damit kein Ende zu finden.
Der kaum 60-minütige Film befasst sich mit dem Erbe des Kolonialismus. Im Zusammenhang mit den Benin-Bronzen ist in den letzten Jahren verstärkt über die Rückgabe von Raubkultur aus den Kolonialkriegen an die Herkunftsländer diskutiert worden. Länder, wie Frankreich und Deutschland haben Abkommen unterzeichnet und einiges medienwirksam zurückgegeben.
Im November 2021 treten 26 Statuen die Reise von Paris nach Benin an, wo sie Ende des 19. Jahrhunderts von der Kolonialmacht Frankreich geraubt wurden. Ein Filmteam ist dabei. Die Regisseurin hat die Skulptur Nr. 26 zum Leben erweckt. Mit dunkler, geisterhafter Stimme teilt sie uns ihre gemischten Gefühle mit, nach 130 Jahren Gefangenschaft in die Heimat zurückzukehren. Sie schwanken zwischen der „Angst, nicht erkannt zu werden, und der Angst, nichts zu erkennen“.
Der Empfang der Statuen ist ein Staatsakt. Böller knallen. Aber Nr. 26 ist alles fremd. Da ist der moderne, für die Verhältnisse des alten Königreichs Dahomey gigantische Regierungspalast, wo eine riesig-heroische Figur den Kampf für die Unabhängigkeit symbolisiert. Autos und moderne Straßen kennt Nr. 26 noch nicht. Die heutigen Herrscher schreiten in moderner Kleidung die Treppe herab. Aber der schwere Goldschmuck mit traditionellen Mustern lässt etwas vom Glanz der alten Zeit erahnen. Ein junger, behelmter Bauarbeiter nähert sich neugierig dem kostbaren Frachtgut aus Paris.
Die Ankunft der Statuen löst keine allgemeine Euphorie aus. Studenten diskutieren. Er habe keine Beziehung zu dem „Zeug“, von dem er in der Schule noch nie etwas erfahren habe, erklärt einer. Einen anderen erfüllen die historischen Artefakte mit patriotischem Stolz. Es sei nur eine politische Kampagne, mit der der französische Präsident Macron und der Präsident von Benin Patrice Talon ihr schlechtes Image in der Bevölkerung aufpolieren wollen, meint verächtlich ein Dritter.
Auch andere sind misstrauisch. Eine Studentin fordert die Förderung von einheimischen Sprachen. Sie spräche nur Französisch, sei aber keine Französin. Und eine andere Stimme: Wenn es wirklich um die Förderung der Kultur ginge, müssten auch alle Zugang zu den Skulpturen haben. Für arme Leute aus entlegenen Dörfern ist es von den Kosten her unmöglich.
Warum werden nach 130 Jahren erst 26 der insgesamt über 7000 geraubten Kulturzeugnisse zurückgegeben? Wie lange soll es insgesamt dauern? Ein Student ist überzeugt, dass nur eine gesamtafrikanische Revolution zu wirklicher Selbstbestimmung führen kann. Aber wem ist dafür zu trauen? Das fragt sich auch Nr. 26.
Der Film hat keine Antworten, aber man merkt, wie sehr die Regisseurin Mati Diop dies alles selbst bewegt, und die Fragen ihrer Protagonisten sind ernsthaft. Die Größe der Unabhängigkeitsstatue, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die erkämpfte formale Unabhängigkeit weder die Auswirkungen kolonialer Unterdrückung überwunden noch die eigene Kultur zum Blühen gebracht hat.
Die Diskussion der Studenten ist zweifellos auch von Vorstellungen über schwarze Identität und einen afrikanischen Weg beeinflusst. Aber neben dem Mistrauen in die ehemaligen Kolonialmächte und ihre neokolonialistischen Bestrebungen existiert ein gesundes Misstrauen gegenüber den Eliten des eigenen Landes, die eindeutig keinerlei Interesse zeigen, dass die breite Masse der Bevölkerung die eigene Geschichte und Kultur wiederentdeckt.
Wie andere internationale Filmkünstler solidarisierte sich auch Mati Diop mit den Palästinensern in Gaza, forderte einen Waffenstillstand und erklärte bei der Preisverleihung: „Wir können die Vergangenheit als Bürde auffassen oder als Basis, um weiterzukommen. Wir lehnen es ab, Geschichtsvergessenheit zu akzeptieren.“
À quand l´Afrique? – Which Way Africa?
Die zweistündige Dokumentation des französisch-kongolesischen Filmemachers David-Pierre Fila erinnert an die Kongokonferenz von 1884 und ihre Folgen für Afrika, insbesondere des Kongo. Unter Führung von Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Portugal waren 14 Länder zusammengekommen, um den afrikanischen Kontinent unter sich aufzuteilen und seine Reichtümer und Rohstoffe auf Kosten der afrikanischen Bevölkerung für sich auszubeuten. Kein einziger afrikanischer Vertreter war eingeladen.
Der Film zeigt anhand alter Fotos die extremen Formen der Ausbeutung, die die Kolonialmächte (im Falle des Kongo, der belgische Imperialismus) beim Aufbau der Infrastruktur anwandte, um Afrika seiner wertvollen Ressourcen zu berauben. Diese Fotos werden mit Aufnahmen kontrastiert, wie Afrikaner heute Bauten errichten, mit einem offensichtlich neuen Selbstbewusstsein und neuer Unabhängigkeit aber immer noch recht einfachen Mitteln.
Wie in Dahomey hat auch die Unabhängigkeit des Kongo nicht das Problem der Armut gelöst, und der Film weist darauf hin, dass viele der nationalistischen Führer, die in der Nachkriegszeit in ganz Afrika auftauchten, ihre Versprechen nicht einhalten konnten. Zwischen politischen Kommentaren finden sich im Film poetische Betrachtungen über die landschaftliche Schönheit Afrikas.
Wie die Einwohner von Benin im Film „Dahomey“ kämpfen auch die Menschen im Kongo darum, ihre Geschichte zu erfahren und zu verstehen. Wie kann die Zukunft gestaltet werden? Beide Filme enthalten sich einer offenen Befürwortung für eine schwarze oder panafrikanische Nation. Gleichzeitig ist eine genaue Betrachtung notwendig, um die innenpolitischen Kräfte und ihre fortbestehenden Beziehungen zu den imperialistischen Mächten, die eine wirkliche Unabhängigkeit Afrikas verhindert haben, in den Griff zu bekommen.
Die formale Unabhängigkeit zu Beginn der 1960er Jahre konnte die Aufgaben der Demokratie und der nationalen Befreiung nicht lösen, weil die neuen Herrscher den alten Kolonialmächten viel näher standen als den Arbeiter- und Bauernmassen im eigenen Land, deren sozialen Forderungen sie fürchteten. Der Kalte Krieg ermöglichte es ihnen zwar, zwischen den imperialistischen Mächten und der Sowjetunion zu lavieren und sich – wie in Benin – ein „sozialistisches“ Mäntelchen umzuhängen. Doch die Privilegien der einheimischen Eliten und das kapitalistische Privateigentum tasteten sie nicht an.
Inzwischen haben sich die vorkolonialen Stammesgesellschaften in kapitalistische Klassengesellschaften mit einer mächtigen Arbeiterklasse verwandelt. Das ist der Grund, weshalb sich Skulptur Nr. 26 nicht mehr zurechtfindet. In Benin leben knapp 14 Millionen Menschen, 2050 werden es nach UN-Berechnungen 24 Millionen sein. Das benachbarte Nigeria zählt 220 Millionen Einwohner, in der größten Stadt Lagos allein leben 16 Millionen.
Die Überwindung von Armut, Rückständigkeit und Neokolonialismus erfordert die Mobilisierung dieser gewaltigen gesellschaftlichen Kraft als Teil der internationalen Arbeiterklasse. Sie ist untrennbar mit dem Sturz des Kapitalismus und dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft im Weltmaßstab verbunden.