„Die Todeszahlen sind absolut fürchterlich“

Ein Gespräch mit der Soziologin Doris Bühler-Niederberger über die dramatische Situation der Kinder in Gaza

Anfang Juli sprach die WSWS mit der international renommierten Soziologin und Expertin für die Soziologie der Kindheit Frau Prof. Dr. Doris Bühler-Niederberger. Bühler-Niederberger ist seit 2019 zunächst Seniorprofessorin und dann emeritierte Professorin für Soziologie der Familie, der Jugend und der Erziehung an der Bergischen Universität Wuppertal und Past President des Research Committee 53 der Sociology of Childhood in the International Sociological Association (ISA).

Prof. Doris Bühler-Niederberger

Bühler-Niederberger äußert sich immer wieder mutig zum Leid der Palästinenser und gegen Israels Genozid in Gaza. Rechte Medien wie Bild und die Jüdische Allgemeine Zeitung führen deshalb eine üble Hetzkampagne gegen sie, die nicht nur auf Unwahrheiten basiert, sondern ihr auch „Terror-Propaganda“ unterstellt. Im Interview spricht Bühler-Niederberger über die Angriffe auf sie, die Hintergründe ihres Engagements und die verheerende Situation, der gerade auch die Kinder im Gazastreifen ausgesetzt sind.

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WSWS: Vielleicht wollen Sie zu Beginn ein paar Dinge über sich und die Hintergründe Ihrer Opposition gegen den Genozid und die damit verbundenen Attacken gegen Sie sagen?

Bühler-Niederberger: Ich war bei den Grünen und fand Habecks Rede [die der grüne Vizekanzler Ende 2023 auf X veröffentlichte] insofern ganz ungünstig, da sie zunächst einmal die Zugewanderten an den Pranger stellte. Ich fand das sehr ungünstig. Ich fand, die Situation war eigentlich eine, wo man eher um Einheit ringen, allen seine Betroffenheit ausdrücken und nicht jemanden vorschieben sollte.

Die Reaktion darauf fand ich dann noch problematischer, dass alle die Rede so toll fanden. Ich sagte zu den Grünen im Chat, dass ich das sehr problematisch fände, aber die anderen fanden das alle ganz toll. Ich sagte, dass es nicht gut sei, wenn man jetzt irgendeinen Schuldigen hier im Land suche, eine Gruppe, die ohnehin schon unter Verdacht stehe. Dann bin ich ausgetreten aus diesem Grunde, weil ich auf ganz scharfen Gegenwind gestoßen bin.

Dass ich gewissermaßen zur Aktivistin wurde, liegt an meinem Forschungsgebiet. Ich bin Kindheitsforscherin. Mich interessiert die Kindheit nicht im Sinne von, wie entwickelt sich das einzelne Kind, sondern was ist die gesellschaftliche Stellung von Kindern in Gesellschaften? Wie werden sie zur Kenntnis genommen? Wie blicken sie selber auf die Gesellschaft usw.? Und dann geht es natürlich immer darum, zu zeigen, dass das immer ein Stück weit anders aussieht.

Jeder Konflikt hat zum Beispiel noch einmal eine neue Konnotation, wenn man ihn unter dem Aspekt der Kinder betrachtet. Was bedeutet er für die Kinder? Und das sind ja in dieser Gesellschaft 40 Prozent oder noch mehr der Bevölkerung, und für die bedeutet er sicher nochmal etwas anderes. Das habe ich versucht geltend zu machen, indem ich Berichte gepostet habe. Zum Teil von Save the Children oder UNICEF, die ja schon lange vorliegen. Die Situation der Kinder ist ja nicht erst prekär seit dem 7. Oktober, sondern seit sehr langer Zeit.

WSWS: Wollen Sie dazu vielleicht noch etwas mehr sagen, weil das ja auch Ihr Forschungsschwerpunkt ist? Wie ist die konkrete Situation? Aktuell, aber auch schon über einen längeren Zeitraum? Wie dramatisch ist die Situation der Kinder?

Bühler-Niederberger: Es gibt dieses sehr gute Buch [Incarcerated Childhood and the Politics of Unchilding] von Nadera Shalhoub-Kevorkian. Das kann man empfehlen, weil sie einfach sehr vieles zusammenträgt, was mit den Kindern passiert ist und wie die Kinder zum Teil auch zur Zielscheibe wurden in diesem Konflikt. Sie waren sicher auch involviert über eigene Widerstandsformen. Steinewerfen auf Panzer ist im Grunde genommen harmlos, aber hat natürlich zu drastischen Konsequenzen geführt. Das trägt sie zusammen. Man erkennt einfach nochmal, dass dieser Konflikt eine andere Dimension hat, wenn man ihn aus dem Gesichtspunkt dessen, was mit den Kindern passiert, betrachtet.

Ich habe jetzt auch angefangen, Interviews zu machen mit palästinensischen Menschen, lebensgeschichtliche Interviews über ihre Kindheit und Jugend. Die sind ja gar nicht alle in Palästina aufgewachsen, sondern zum Teil auch in anderen Ländern des Nahen Ostens. Aber es zeigt sich halt immer dieser ganz, ganz tiefe Schatten schon über der Kindheit, der durch die Situation verursacht wird.

Das hat etwas Erschütterndes. Ich forsche ja schon längere Zeit in asiatischen Gesellschaften zur Kindheit. Für die Kinder ist es zunächst normal. „Normal“ heißt, zu erleben, dass sie Menschen zweiter Klasse sind, dass sie in mancher Hinsicht rechtlos sind. Das ist für sie zunächst normal. Und die Eltern versuchen auch ein Stück weit, so wie ich das erfahren habe, die Kinder davor zu bewahren, das zu realisieren, weil sie natürlich Angst haben, die Kinder könnten Schwierigkeiten bekommen, die ganze Familie könnte Schwierigkeiten bekommen.

Und irgendwann im Laufe der Jugendzeit bricht es dann zusammen und führt dann auch manchmal zu Spaltungen mit den Vätern, die einem das Wissen vorenthalten haben. Oder die – da sie das ja selber als Kind auch schon erlebt haben, es geht ja über mehrere Generationen – zum Teil auch gebrochen sind oder unsicherer sind.

Das will ich einfach einem breiteren Publikum mitteilen. Ich habe eigentlich eine sehr nette und kommunikative Universitätsleitung, da habe ich Glück. Das hat nicht jeder. Sie stellt sich aber auf den Standpunkt, wir sollten als Wissenschaftler nicht aktivistisch werden. Aber mein Standpunkt ist schon, dass ich als Kindheitsforscherin solche Sachen mitteilen muss.

WSWS: Ja, Sie haben in einem Tweet geschrieben, dass man gerade wenn man Wissenschaftler ist und auch eine gewisse Öffentlichkeit hat und auch ein gewisses Privileg, denken zu dürfen, dass man eigentlich verpflichtet ist zu sprechen, wenn solche Verbrechen passieren.

Bühler-Niederberger: Das denke ich schon und vor allem in meiner Situation. Ich habe meine wissenschaftliche Karriere gemacht, soweit sie sich machen ließ. Ich bin also in dieser Hinsicht nicht existentiell gefährdet.

WSWS: Ich teile das und das war ja eigentlich immer der Anspruch, gerade auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Man hat immer gesagt, man muss, wenn Verbrechen passieren, eben nicht schweigen und das geschehen lassen, sondern dagegen aufstehen. Sie haben gerade über die Situation der Kinder gesprochen. Haben Sie da noch konkretere Informationen, auch jetzt in Gaza? Die Todeszahlen sind absolut fürchterlich und die Mehrheit sind Frauen und Kinder.

Bühler-Niederberger: Die Todeszahlen sind absolut fürchterlich. Die Vermisstenzahlen sind natürlich auch fürchterlich. Kindergärten und Schulen wurden zerstört. Ein Jahr nicht mehr zur Schule gehen ist gerade in dieser Region dramatisch. Das zeigen alle Interviews, und das weiß ich überhaupt auch aus der Forschung aus armen Ländern. Bildung ist für die Kinder in armen Ländern nochmal eine ganz andere Angelegenheit als für unsere Kinder, sie ist sehr wichtig.

Ich mache ja auch Forschung hier in Schulen. Hier sagen die Kinder, wenn man sie fragt, wozu sie zur Schule gehen: lesen und schreiben lernen. Und wenn man fragt, was willst du denn mal werden? Ja, weiß ich nicht. Vielleicht ein Pferdehof, weil sie gerne reiten. Das hat nicht diese Dringlichkeit, wie wenn man das in armen Ländern fragt. Dort haben sie sehr ambitionierte Pläne.

Ich war jetzt z.B. gerade in Schulklassen in Indien, habe das aber auch in Zentralasien erlebt und es jetzt wieder in den Interviews mit den Palästinensern gemerkt: Bildung ist die Möglichkeit, aus der Sache herauszukommen. Bildung ist die Möglichkeit, für die Familie etwas zu erreichen. Sie wollen es ja nicht nur für sich erreichen. Sie haben ja eine ausgesprochene starke Verpflichtung gegenüber der Familie, für diese etwas zu erreichen. Und wenn man ihnen das jetzt vorenthält, hat das enorme Konsequenzen.

Wenn ich in armen Ländern die Kinder frage, was sie werden wollen, sagen mir 80 Prozent in einer Grundschulklasse, dass sie Arzt werden wollen, um dem Dorf zu helfen, um der Familie zu helfen.

Das sind Hoffnungsträger. Und das ist etwas, was ich immer gemerkt habe bei den Kindern. Sie sehen sich in der Verantwortung. Das ist manchmal geradezu tragisch. Es kann einem das Herz brechen. In der schwierigsten Situation sehen sie sich irgendwie verpflichtet, etwas Gutes beizutragen, für die anderen irgendwie zu sorgen, auf die anderen irgendwie aufzupassen. Und diese Diskrepanz dann zwischen dem, was sie möchten, und dem, was sie können. Das ist ein Leiden, diese Diskrepanz zu erleben.

Und das erleben diese Kinder ja jetzt die ganze Zeit, seit einem Jahr. Und sie erleben auch, dass sie das, was ihr Beitrag war, nämlich Schulleistung, nicht mehr erbringen können. Das wird ja auch nachher noch lange dauern, bis Schulen wieder normal funktionieren können. Die Voraussagen, wie lange es braucht, um dieses Gebiet zu räumen, um es gefahrlos wieder betreten zu können, die betragen Jahre. Es gibt also nicht nur die verstümmelten Kinder und die verwaisten Kinder und die verbrannten Kinder und die traumatisierten Kinder, sondern es gibt auch noch diese in Anführungszeichen „banale“ Beschädigung des Aufwachsens, die nicht banal ist.

WSWS: Das alles hat Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung, auf das ganze Leben der Kinder – wenn sie überleben. Das ist ja überhaupt jetzt fraglich, da der Völkermord eskaliert wird und immer weitergeht.

Bühler-Niederberger: Ja, wenn sie überleben und nicht von Mangelernährung Schädigungen davontragen. Das ist übrigens auch so etwas. Ich habe schon gesagt, die Kinder sind ja manchmal auch nicht nur Kollateralschaden, was schon schlimm genug ist, sondern stehen im Fokus. Und wenn man eine Mangelsituation in der Ernährung herbeiführt, dann schädigt man gezielt die Kinder. Das tut man vielleicht unbewusst, aber ich glaube nicht, dass in dieser Region irgendetwas, was an Kriegsführung gemacht wird, noch unbewusst geschieht. Da hat man viel zu viel Erfahrung damit.

WSWS: Es gibt ja auch die dokumentierten Aussagen von führenden israelischen Militärs und Politikern, in denen klar formuliert wird, es handle sich um menschliche Tiere, die man ausmerzen müsse.

Bühler-Niederberger: Ja, das sind die Aussagen. Und selbst wenn man nur Mangelernährung machen würde, würde man vielleicht die Bevölkerung zum Abnehmen bringen, aber die Kinder schädigt man irreparabel. Und arme Leute haben ja eigentlich auch nur ihre Kinder.

WSWS: Und all das hat Sie motiviert, zu sprechen.

Bühler-Niederberger: Das hat mich nicht nur motiviert, es hat mich gezwungen. Ich habe Sachen abgesagt, die ich hätte machen sollen. Ich hätte z.B. irgendeinen Artikel schreiben sollen über Kindesmissbrauch in kirchlichen Institutionen. Und ich sagte, das ist alles schwerwiegend und ich habe mich bisher mit solchen Dingen beschäftigt. Aber das tritt jetzt in den Hintergrund. Wenn es um die Verletzlichkeit von Kindern geht, dann hat das jetzt Vorrang, und dann muss ich dazu sprechen.

Und ich muss dazu eben auch forschen. Ich kann das im Moment nicht vor Ort tun. Wenn die Situation sicherer ist, möchte ich das auch vor Ort tun, denn es ist immer nochmal etwas anderes, wenn der Erwachsene rückblickend darüber berichtet, als wenn man mit den Kindern selber spricht. Und ich glaube auch, es ist etwas, was eigentlich die Menschen bei all dem Hass, den sie haben, verstehen müssten. Das ist für mich etwas Eindrückliches und da habe ich Respekt davor. Ich bin jetzt nicht die, die immer gleich und nur auf Kinderrechte Bezug nimmt und immer als Advokat der Kinder auftritt. Aber es gibt einen Punkt, ab dem ich das tun muss.

Die UN-Kinderrechte, wie wir sie heute kennen, wurden ja vor rund 100 Jahren zum ersten Mal ins Spiel gebracht, und zwar wegen der Kinder des Feindes. Die Frau, die englische Philanthropin, die das ins Spiel brachte, Eglantyne Jebb, reiste in das Gebiet des heutigen ehemaligen Jugoslawiens und sah die elende Situation der Kinder, die die Kinder derer waren, die die Feinde gewesen waren von England, in diesem Krieg. Und darum hat sie diesen Vorschlag gemacht für eine Kinderrechtskonvention, damals beim Völkerbund, also wegen der Kinder des Feindes.

Ich finde, das ist ganz wichtig. Das ist nicht zustande gekommen, um unsere Kinder zu schützen, sondern um alle Kinder zu schützen und gerade auch die Kinder des Feindes zu schützen. Und zu dieser Tradition, denke ich, muss man sprechen. Die Frau bekam damals übrigens unzählige Morddrohungen. Also da geht es mir noch gut. Ich werde nur von der Jüdischen Allgemeinen und der Bild angeschossen. Und in gewisser Weise betrachte ich das als einen alternativen Verdienstorden für meinen Einsatz.

WSWS: Ja, das ist es. Man darf sich nicht einschüchtern lassen von diesen rechten Medien. Aber es ist übel, was passiert. Wir haben z.B. auch zu den Räumungen an der Humboldt- Universität und an der Freien Universität geschrieben. Die Polizei ist extrem brutal gegen Studierende vorgegangen und selbst Journalisten und Anwälte sind angegriffen worden. Es gab aber auch einen Brief der Professoren gegen die Polizeigewalt, den zum Beispiel auch Michael Barenboim unterzeichnet hat. Ich weiß gar nicht, ob Sie den auch unterzeichnet haben [Prof. Doris Bühler-Niederberger nickt]. In der Folge gab es eine weitere Hetzkampagne gegen jene, die sich gegen die Polizeigewalt aussprechen, die ihre eigenen Studierenden schützen. Also die Kampagne ist schon extrem aggressiv, aber ich glaube, sie ist so aggressiv, weil sie natürlich wissen, dass sie eigentlich gegen eine Mehrheit vorgehen.

Bühler-Niederberger: Wir stehen ja auf der Seite dessen, was alle UN-Beschlüsse sagen, wieder neuerdings gleich mehrere. Wir stehen auf der Seite dessen, was Guterres sagt. Wir stehen auf der Seite dessen, was die WHO sagt, stehen auf der Seite dessen, was ICC und IGH sagen. Wir stehen auf der Seite des Rechts. Und dass die Studenten demonstrieren dürfen, das ist vom Grundgesetz geschützt. Also kann man uns eigentlich nur noch aggressiv bekämpfen. Man kann ja nicht sagen, Entschuldigung, wir haben Paragraph so und so übertreten. Man kann ja nur noch ganz grundsätzlich sagen, das hat mir heute wieder jemand gesagt, ihr seid Terroristenfreunde.

Ich bin ja emeritierte Professorin und habe gestern dann doch alle meine Kollegen angeschrieben, weil dafür geworben wurde, diesen neu zirkulierenden Brief zu unterzeichnen und sich vor jüdische Studierende zu stellen. Ich wollte darauf aufmerksam machen, dass das nicht ganz unproblematisch ist, dass der Verfasser dieses Briefes die Flagge von Großisrael gepostet hat. Sie haben das wahrscheinlich mitbekommen, dass er auch schon Sachen repostet hat, die infrage stellen, dass es eine Ernährungskrise gibt, und dass er auch Posts von rechtsextremen Leuten teilt.

Ich bin beschimpft worden, meine Timeline ist durchsucht worden. Es gab unwahre Behauptungen über irgendwelche Likes, die ich gemacht hätte, die man allerdings zu jenem Zeitpunkt schon gar nicht mehr sah und die ich auch nicht gemacht habe. Also, man wird sofort persönlich attackiert, in einem Ton, der unter Kollegen überhaupt nicht angebracht ist, der respektlos ist, der überhaupt gegenüber niemandem angebracht ist. Also das ist sehr aggressiv.

WSWS: Wir haben jetzt die Situation, nur um das vielleicht auch hier zu erwähnen, dass unsere Jugendorganisation, die International Youth and Students for Social Equality, die natürlich auch an den Unis gegen den Genozid und auch gegen die Polizeigewalt auftreten, jetzt im Verfassungsschutzbericht aufgetaucht sind. Zuvor wurde bereits die Mutterpartei, die Sozialistische Gleichheitspartei, unter Beobachtung gestellt. So reagiert der Staat. Dass sie jetzt so weit gehen, dass man vom Verfassungsschutz, der ja, wie man weiß, von rechtsextremen Kräften durchsetzt ist, überwacht und verfolgt wird, ist eine ernste Frage. Aber es ist natürlich so, dass sie das aus einer Position der Schwäche machen, weil sie wissen, mit welcher Opposition sie konfrontiert sind.

Bühler-Niederberger: Und es ist ja auch so, dass mit Blick auf die Professoren, die den Brief für die Studierenden in Berlin unterzeichnet haben, sofort gesagt wurde, man müsse sie beobachten durch den Verfassungsschutz.

WSWS: Und die Fördergelder streichen.

Bühler-Niederberger: Ja, das auch. Und Beobachtung durch den Verfassungsschutz, das finde ich schon enorm. Also man vertritt eine Position, die in keiner Weise über das hinausgeht, was die internationalen Rechte besagen. Und meine Forschung jetzt zum Beispiel, diese Art von Kindheitsforschung, die wäre gar nicht denkbar gewesen vor der Deklaration von UN-Kinderrechten. Das ging einher mit dieser ganzen Perspektive, dass Kinder eben gesellschaftliche Mitglieder sind, die als solche auch betrachtet und untersucht werden müssen.

Also ich würde sagen, da entfällt dann die Möglichkeit, überhaupt noch Wissenschaft zu betreiben. Und ich bin auch ein bisschen böse, ich bin ja Ausländerin, auch für eine Ausländerin ist es da nicht mehr möglich mitzugehen. Ich bin anders sozialisiert worden. Auch dass man seine Meinung sagt, das gilt bei uns im Land, auch wenn es da auch manchmal Möglichkeiten gibt, das einzuschränken. Aber es ist doch noch weitgehend gewährleistet. Ich kenne noch keine Professoren, die da in dieser Weise für das, was ich gemacht habe, attackiert wurden.

WSWS: Sie haben diesen Brief „Kein Platz für Antisemitismus“ angesprochen. Und Sie sagten ja, Sie sind da kritisch. Und das zu Recht. Ich habe gesehen, dass zum Beispiel auch ein Mann wie Jörg Baberowski unterzeichnet hat. Vielleicht ist er Ihnen ein Begriff. Das ist ein rechtsextremer Professor an der Humboldt Universität, der gegen Flüchtlinge hetzt, der sehr bewusst daran arbeitet, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren. Er vertritt in seinen Schriften die Linie, dass der Holocaust nichts anderes gewesen sei als Erschießungen der Roten Armee im russischen Bürgerkrieg. Und er hat 2014 in einem Spiegel-Interview erklärt, Hitler sei „nicht grausam“ gewesen. Also man hat eine Situation, wo Leute, die offensichtlich Rechtsextreme sind, sich jetzt an die Spitze stellen von dieser sogenannten Kampagne gegen Antisemitismus, was selbst deutlich macht, was der Inhalt davon ist.

Bühler-Niederberger: Ja, abgesehen davon habe ich als Professorin die Verpflichtung, mich vor alle Studenten zu stellen. Ich habe öfter in Seminaren beobachtet, dass es tatsächlich so etwas wie ein rassistisches Ausschließen von Studierenden durch Kommilitonen gibt. Ich habe relativ lange gebraucht, um zu merken, was hier eigentlich abgeht, und habe dann auch mit Studierenden darüber gesprochen, und einige waren mir lange, lange Zeit dankbar. Also haben wir die Verpflichtung, auf all solche Sachen sensibel zu sein, egal was es ist. Aber dass wir für jüdische Studierende und Kollegen verantwortlich sein sollen, ist ja schon auch ein bisschen anmaßend, denn ich kenne mittlerweile viele jüdische Kolleginnen und Kollegen, die eine ganz andere Position vertreten, als sie dieser Brief vertritt.

WSWS: Und man hat viele jüdische Studierende, gerade auch in den USA, die Teil sind der Protestbewegung gegen den Genozid.

Bühler-Niederberger: Ich bin mir sicher, dass der Anteil von jüdischen Teilnehmern an diesen Protesten wesentlich höher ist als in der Gesamtbevölkerung.

WSWS: In Wirklichkeit ist es selbst antisemitisch, wenn man die gesamte jüdische Bevölkerung mit diesem Verbrechen, mit diesem Völkermord assoziiert. Viele jüdische Menschen sind gerade aufgrund ihrer eigenen Geschichte sehr schockiert, dass das jetzt wieder passiert, und entwickeln daraus die starke Position, dem entgegenzutreten.

Bühler-Niederberger: Ich will damit nicht sagen, dass alle, die diesen Brief unterzeichnet haben – darum habe ich ja auch die Mail an die Kollegen geschrieben, um sie zu warnen – mit dieser rechten Linie mitgehen. Einige vielleicht schon. Einige wollten vielleicht zeigen, wie staatstreu sie sind, das hat manchmal auch unangenehme Hintergründe. Aber es gibt sicher auch die, die tatsächlich einfach dachten: das ist ja richtig, Antisemitismus ist eine Gefahr. Und es wird eine riesige Gefahr sein, wenn das erst vorbei ist. Dem sehe ich auch mit Schrecken entgegen.

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