Perspektive

Proteste und Generalstreik in Israel zeigen Notwendigkeit eines Bruchs mit dem Zionismus

Eine Kundgebung für ein Waffenstillstandsabkommen und die sofortige Freilassung der von der Hamas im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln, Jerusalem, 2. September 2024 [AP Photo/Leo Correa]

Die Massenproteste der vergangenen Tage haben den breiten Widerstand der israelischen Bevölkerung gegen die rechtsextreme Netanjahu-Regierung deutlich gemacht. Sie haben aber auch gezeigt, dass jede oppositionelle Bewegung, die in einer zionistischen Perspektive befangen bleibt, in einer politischen Sackgasse endet.

Am Sonntag gingen Hunderttausende auf die Straße, darunter auch große Teile der Arbeiterschaft. Es war der größte Protesttag seit Beginn des völkermörderischen Kriegs, den Israels seit Oktober 2023 im Gazastreifen führt. Die Proteste entzündeten sich daran, dass die Regierung keinen Geiselaustausch ausgehandelt hatte. Auslöser war die Bergung von sechs toten Israelis aus dem Gazastreifen am Vortag. Der Gewerkschaftsverband Histadrut hatte daraufhin für Montag zu einem Generalstreik aufgerufen.

Besonders aufgebracht waren die Menschen darüber, dass Premierminister Benjamin Netanjahu und sein Kabinett nur wenige Tage zuvor, am Donnerstag, einen Geiselaustausch torpediert hatten, indem sie auf der weiteren Kontrolle Israels über den Philadelphi-Korridor bestanden – den Grenzstreifen zwischen Gaza und Ägypten. Eine Obduktion des israelischen Gesundheitsministeriums hatte ergeben, dass die sechs Geiseln erst am Donnerstag oder Freitag bei Kämpfen zwischen den israelischen Verteidigungskräften und palästinensischen Kämpfern getötet wurden.

Diese Ereignisse haben deutlich gemacht, dass der israelischen Regierung das Leben nicht nur der Palästinenser, sondern auch der Geiseln gleichgültig ist. Die Geiseln wurden in zynischer Weise als Vorwand für einen Vernichtungskrieg benutzt, der darauf abzielt, so viele Palästinenser wie möglich zu ermorden und sie aus Gaza und zunehmend auch aus dem Westjordanland zu vertreiben. Mit den verstärkten israelischen Militärschlägen gegen die Hisbollah im Libanon sowie gegen Syrien und den Iran droht eine Eskalation des Konflikts in der gesamten Region.

Es gab bisher nur einen einzigen Austausch von israelischen Geiseln gegen in Israel inhaftierte Palästinenser, und zwar im November-Dezember 2023. Seither hat die Regierung Netanjahu jedes Mal, wenn eine Einigung in greifbarer Nähe schien, jede Lösung sabotiert. Das israelische Regime versucht nicht, Leben zu retten, sondern massakriert die Palästinenser und droht Araber und Israelis in der gesamten Region in ein Blutbad zu stürzen.

Der Tod der sechs Geiseln hat einem breiten Teil der israelischen Gesellschaft diese Realität vor Augen geführt. Aber sie lässt sich nicht ändern, indem man – und das ist bislang die Perspektive der Proteste – Druck auf Netanjahu ausübt oder ihn durch andere Kriegsverbrecher ersetzt.

Man kann keinen fortschrittlichen Kampf gegen die israelische Regierung führen, ohne sich dem Völkermord zu widersetzen, der unter den Palästinensern mindestens 40.000, wahrscheinlich aber gegen 200.000 Menschenleben gefordert hat.

Das Versprechen des Vorsitzenden des israelischen Gewerkschaftsverbands Histadrut, Arnon Bar-David, „wir werden nicht zulassen, dass das Leben von Menschen aufgegeben werden“, ist wertlos. Denn genau das hat die nationalistische Histadrut-Bürokratie in den letzten 11 Monaten getan. Sie ignorierte den Aufruf des Palästinensischen Allgemeinen Gewerkschaftsbunds in Gaza zu internationalen Solidaritätsaktionen, um den Völkermord zu stoppen, und trug damit dazu bei, jüdische und arabische Arbeiter zu trennen und das fortgesetzte Massaker an unschuldigen Männern, Frauen und Kindern zu ermöglichen.

Die Fragen, die bereits von der Massenprotestbewegung in Israel Anfang 2023 aufgeworfen wurden, stellen sich durch den jetzigen Krieg wieder in aller Schärfe. In der damaligen Bewegung, in der ein erheblicher Teil der israelischen Gesellschaft gegen Netanjahus diktatorische Justizreform protestierte, traten der damalige Verteidigungsminister Yoav Gallant, der ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz und der ehemalige Premierminister Yair Lapid als Oppositionsführer auf. Die Organisatoren der Proteste unterstützten das zionistische Projekt voll und ganz. Die demokratischen Rechte der unterdrückten palästinensischen Bevölkerung kümmerten sie nicht.

Diese Herangehensweise ist zu einem großen Teil für die Katastrophe verantwortlich, die sich seitdem entwickelt hat. Wie die World Socialist Web Site damals schrieb:

Trotz ihres enormen Ausmaßes hat diese Massenbewegung jedoch eine Schwäche, die sich als fatal erweist, wenn sie nicht behoben wird: Die Bewegung hat sich bisher in keiner Weise die Anliegen und Kämpfe der palästinensischen Bevölkerung zu eigen gemacht…

Um eine Chance auf Erfolg zu haben, müssen jüdische Arbeiter und Jugendliche die Scheuklappen der zionistischen Ideologie ablegen. Sie müssen eine sozialistische Strategie einschlagen…

Es ist für jüdische Arbeiter und Jugendliche unmöglich, ihre demokratischen Rechte zu verteidigen, wenn die palästinensische Bevölkerung in Israel und den besetzten Gebieten weiterhin unter brutaler militärischer Unterdrückung und immer dreisterer Selbstjustiz und Siedlergewalt steht. Es kann nicht gleichzeitig Militärdiktatur im Westjordanland und im Gazastreifen und Demokratie in Israel herrschen.

Die Proteste wurden eingestellt, obwohl die Misshandlungen der Palästinenser unter der rechtsextremen Regierung weitergingen.

Nach dem 7. Oktober traten Gallant und Gantz in Netanjahus Kriegskabinett ein und beteiligten sich an dessen Verbrechen, während Lapid die Rolle einer loyalen „Opposition“ übernahm. Jetzt werden dieselben Politiker erneut als Lösung präsentiert, während die Krise allein Netanjahu, Smotrich und Ben Gvir angelastet wird. Nach wie vor wird ausschließlich auf den Schaden abgehoben, der den Israelis zugefügt wird.

Gallant wird gerühmt, weil er in der Kabinettssitzung am vergangenen Donnerstag als einziger dagegen gestimmt hat, dass die Kontrolle über den Philadelphi-Korridor, wie von Netanjahu gefordert, eine Bedingung für eine Verhandlungslösung sein muss. Gantz hat die Regierung im Juni verlassen.

Aber das ist ein Gerangel unter Kriegsverbrechern. Sowohl Gallant als auch Gantz haben sich auf höchster Ebene an Israels Völkermord beteiligt – gegen Gallant liegt ebenso wie gegen Netanjahu ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vor. Es handelt sich um eine rein taktische Meinungsverschiedenheit, die auf ein und derselben zionistischen Perspektive beruht. Beiden Seiten geht es um die Förderung der israelischen Kriegspläne gegen den Libanon und den Iran, die nach Ansicht von Gallant dadurch untergraben werden, dass israelische Soldaten unnötigerweise im Gazastreifen festsitzen.

Die Ausweglosigkeit einer Opposition, die sich auf solche Gestalten stützt, zeigte sich am Montag, als die Proteste verkleinert wurden und der Streik stark eingeschränkt wurde. Viele Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen hatten mehr den Charakter eines Trauertages für die getöteten Geiseln als eines Kampfes gegen Netanjahu. Die Histadrut war sehr darauf bedacht, die Bewegung zu kontrollieren, und befolgte prompt eine gerichtliche Anordnung, den Streik um 14.30 Uhr statt wie geplant um 18.00 Uhr zu beenden.

Wenn die israelische Arbeiterklasse keinen politischen Kampf mit einer neuen Ausrichtung aufnimmt, die auf den Zusammenschluss mit den palästinensischen Massen und ihrer Befreiung von der zionistischen Unterdrückung abzielt, wird das israelische Regime seine Politik des Völkermords, der ethnischen Säuberung und der Apartheid fortsetzen, sei es unter Netanjahu, Gallant oder einer anderen Figur.

Netanjahu reagierte auf die Bedrohung seiner Stellung so, wie er es immer getan hat: mit der Eskalation der israelischen Aggression, um ein möglichst rechtslastiges Klima zu schaffen und seine faschistischen Anhänger zu ermutigen. Auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz erklärte er: „Wir werden uns dem Druck nicht beugen.“

Netanjahu weiß, dass er sich ungestraft so verhalten kann, weil er die volle militärische und diplomatische Rückendeckung der imperialistischen Nato-Mächte hat. Die Nato unterstützt den Völkermord in Gaza als Teil eines eskalierenden globalen Krieges, zu dem auch der Krieg der USA und der Nato gegen Russland in der Ukraine gehört.

Die Arbeiter in Israel stehen vor großen politischen Fragen, auf die sie nur durch den Bruch mit dem Zionismus eine Antwort finden können. Um sich gegen ihre herrschende Klasse zu stellen, müssen sie den Widerstand gegen den Völkermord in Gaza und die ethnisch-religiöse Ausgrenzung, die die Grundlage des israelischen Staates bildet, in den Mittelpunkt stellen.

Der einzige Ausweg aus der gegenwärtigen Katastrophe ist ein gemeinsamer Kampf der internationalen Arbeiterklasse, darunter der jüdischen und arabischen Arbeiter, für einen Vereinigten Sozialistischen Staat des Nahen Ostens. Es geht darum, der historischen Verfolgung und Enteignung der Palästinenser ein Ende zu setzen, mit der die zunehmend mörderische und diktatorische Politik Israels untrennbar verwoben ist.

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