Öffentliche Untersuchung zur Feuerkatastrophe im Londoner Grenfell Tower: Finale Schönfärberei

Sieben Jahre, zwei Monate und 21 Tage nach dem Grenfell-Turm-Inferno in London, bei dem 72 Männer, Frauen und Kinder ums Leben kamen, hat die öffentliche Untersuchung dieser Gräueltat ihren Abschlussbericht vorgelegt. Sie war vor mehr als sechs Jahre eingerichtet worden, um die Brandkatastrophe aufzuarbeiten.

Wie von einer staatlich eingesetzten Untersuchung nicht anders zu erwarten, ist das 1.700 Seiten starke Dokument eine Schönfärberei. Den beteiligten Unternehmen wird eine schallende Ohrfeige verpasst, und verschiedene Regierungen, die seit dem Jahr 1991 an der Macht waren, werden ermahnt, weil sie nicht die Lehren aus früheren Bränden gezogen und „jahrzehntelang versagt“ haben, was die Verkleidung von Gebäuden mit brennbarem Material angeht.

Die erste Phase des Untersuchungsverfahrens, deren Ergebnisse im Oktober 2019 vorgelegt wurden, hatte den Auftrag, die Brandursache zu erhellen. Hier lautete die Schlussfolgerung - die jeder bereits in den Stunden, in denen das Feuer noch schwelte, ziehen konnte – dass brennbare Verkleidungen die Hauptursache für die Heftigkeit und schnelle Ausdehnung des Brandes waren.

So wie es nicht zwei Jahre gebraucht hätte, um dies festzustellen, waren auch keine weiteren vier Jahre nötig, um die „Brandursachen“ zu ermitteln oder um herauszufinden, wie und warum sich der Grenfell Tower am 14. Juni 2017 von einem sicheren Wohnhochhaus aus den 1970er Jahren in eine Todesfalle verwandelt hat.

Die Opfer des Grenfell Tower-Brandes starben infolge sozialpolitischer Entscheidungen. Verantwortung tragen die Unternehmen, die bei der Renovierung des 24-stöckigen Gebäudes Kosten sparen wollten. Mitverantwortlich waren aufeinanderfolgende Regierungen von Konservative und Labour, die das Baugewerbe im Namen der Kapitalistenklasse deregulierten und ein laxes Umfeld schufen, das private Profiteure ausnutzen konnten.

Infolgedessen breitete sich ein kleines Feuer, das hinter einem Kühlschrank in einer Wohnung im vierten Stock ausbrach, innerhalb von 30 Minuten durch das hoch brennbare Verkleidungssystem bis in den 24. Stock aus.

Brand im Grenfell Tower [Photo by Natalie Oxford/@nat_vampicca / CC BY-SA 4.0]

Sir Martin Moore-Bick, der Vorsitzende der Untersuchungskommission und eine Säule des britischen Establishments - ein ehemaliger Lord Justice of Appeal und Mitglied des Privy Council - sagte bei der Vorstellung des Berichts in den höflichsten Worten: „Die einfache Wahrheit ist, dass die Todesfälle alle vermeidbar waren und dass denjenigen, die in dem Hochhaus lebten, arg enttäuscht wurden.“

Im Gegensatz zu den zahmen Schlussfolgerungen des Berichts sind viele der zusammengetragenen Beweise äußerst belastend.

Die Sanierungs- und Verkleidungsfirmen verfolgten „vorsätzliche und nachhaltige Strategien, um die Testverfahren zu manipulieren, Testdaten falsch darzustellen und den Markt in die Irre zu führen“. Die Unternehmen waren „systematisch unehrlich“, was dazu führte, dass gefährliche Materialien an dem Gebäude aufgebracht wurden.

Rydon, der für die Renovierung verantwortliche Hauptauftragnehmer, hat „unzureichende Überlegungen zum Brandschutz angestellt und eine sorglose Haltung an den Tag gelegt“. Rydon hat „keine angemessenen Schritte unternommen, um die Kompetenz von [Bauunternehmen] Harley zu untersuchen ... man war selbstgefällig, was die Notwendigkeit einer brandtechnischen Beratung angeht“.

Arconic, die Firma, die die Verkleidung des Grenfell Towers herstellte, hat die Gefährlichkeit der am Turm verwendeten Paneele „absichtlich verschwiegen“. Celotex, das den größten Teil der Isolierung lieferte, „verfolgte einen unehrlichen Plan, um die Kunden in die Irre zu führen“. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass Kingspan wusste, dass sein Isolierprodukt bei Brandschutztests „katastrophal“ versagt hatte, es aber weiterhin für den Einsatz in Hochhäusern verkaufte.

Die Tatsache, dass im Untersuchungsbericht neben diesen Schwerverbrechern auch die Londoner Feuerwehr als Schuldige genannt wird, ist ein Skandal. Die Untersuchung hat von Anfang an versucht, auf diese Weise zumindest einen Teil der Schuld von den Unternehmen wegzuschieben.

Dem Bericht zufolge hat die Londoner Feuerwehr keine Lehren aus dem Lakanal-Hochhausbrand von 2009 gezogen, was bedeutet, dass es „Mängel in ihrer Fähigkeit zur Bekämpfung von Bränden in Hochhäusern“ gab. Aber wie die World Socialist Web Site in Reaktion auf die erste Phase der Untersuchung bereits feststellte, wurden die Fehlentscheidungen der Feuerwehr in dieser Nacht letztlich verursacht durch jahrelange Kürzungen bei der Feuerwehr und die katastrophale Situation, die durch die privaten Auftragnehmer in Grenfell geschaffen wurde.

Im November 2016 - acht Monate vor dem Brand - veröffentlichte eine Selbstorganisation der Bewohner des Wohnblocks, die Grenfell Action Group, bei der Edward Daffarn und Francis O'Connor eine führende Rolle spielten, einen Blogbeitrag, in dem sie Alarm schlugen: „Es ist ein wirklich erschreckender Gedanke, aber die Grenfell Action Group ist fest davon überzeugt, dass nur ein katastrophales Ereignis die Unfähigkeit und Inkompetenz unseres Vermieters aufdecken wird, der KCTMO [Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation], und den gefährlichen Lebensbedingungen und der Vernachlässigung von Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften, die sie ihren Mietern zumuten, ein Ende setzen wird.“

Sie sagten voraus: „Leider ist die Grenfell Action Group zu dem Schluss gekommen, dass nur ein Vorfall, bei dem Bewohner von KCTMO ernsthaft ums Leben kommen, eine externe Untersuchung ermöglichen wird, die ein Licht auf die Praktiken wirft, welche die bösartige Führung dieses nicht funktionierenden Unternehmens kennzeichnen...“

Moore-Bicks Antwort auf diese tragisch prophetische Warnung sagt alles über die grausamen Instinkte der britischen herrschenden Klasse, welche die Untersuchung verbergen soll. Er schreibt: „Die TMO betrachtete einige der Bewohner als militante Unruhestifter, die von einer Handvoll lautstarker Aktivisten angeführt wurden, vor allem von Edward Daffarn, dessen Stil sie als beleidigend empfanden.“ Und weiter heißt es in dem Bericht: „Das Ergebnis war eine vergiftete Atmosphäre, die durch Misstrauen auf beiden Seiten genährt wurde.“

Was für eine schmutzige Verleumdung. Es gibt keinerlei Gleichwertigkeit zwischen einer organisierten Beschwerde der Bewohner, die fordern, dass die grundlegende Sicherheit und das Wohlergehen der Mieter respektiert werden, und einer Verwaltungsorganisation, die diesem Anliegen gegenüber gleichgültig ist.

Der pensionierte Richter Sir Martin Moore-Bick verlässt die St. Clement's Church in der Nähe des Grenfell Towers in London, 29. Juni 2017. [AP Photo/Philip Toscano/PA via AP]

Moore-Bick benennt zwar vage „die Regierung“ als eine Institution, welche die Grenfell-Opfer, -Überlebenden und -Hinterbliebenen „im Stich gelassen“ habe, bemüht sich aber, die Namen von Verantwortlichen zu vermeiden. In dem Bericht heißt es: „In den Jahren zwischen dem Brand in Knowsley Heights im Jahr 1991 und dem Brand im Grenfell Tower im Jahr 2017 gab es für die Regierung viele Gelegenheiten, die Risiken zu erkennen, die mit der Verwendung von brennbaren Verkleidungsplatten und Isolierungen, insbesondere bei Hochhäusern, verbunden sind, und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.“

Der Bericht weist auf Fälle hin, in denen die Labour-Regierung von Blair (1999) und spätere Tory-Regierungen Maßnahmen ergriffen haben, die ein Umfeld schufen, in dem ein Ereignis vom Typ Grenfell so gut wie unvermeidlich war. Doch die Hauptakteure in diesen Regierungen, darunter Blair, Theresa May und David „Ich werde die Sicherheitskultur abschaffen“ Cameron, werden in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen.

Einer der politischen Pyromanen, die für Grenfell verantwortlich sind, ist Boris Johnson, der ehemalige Tory-Bürgermeister von London (2008-2016) und spätere Premierminister. Im Jahr 2013 richtete ein Mitglied des Londoner Stadtrats zu Kürzungen bei der Feuerwehr direkt an Boris Johnson folgende Frage: „Werden Sie vor einem Strafgericht die Verantwortung übernehmen, wenn Menschen infolge Ihrer Kürzungen sterben?“ Und Johnsons berüchtigte Antwort lautete: „Verpiss dich!“ Im Publikum saßen damals protestierende Feuerwehrleute. Im folgenden Jahr wurden in der Hauptstadt 10 Feuerwachen geschlossen und fast 600 Feuerwehrleute entlassen.

Johnson konnte auch als Premierminister seine Verachtung für die Sicherheit und das Leben von Millionen von Menschen während des Höhepunkts der Covid-Pandemie nicht unterdrücken. Unvergessen ist seine Absage an den Schutz der Bevölkerung vor Covid: „Lasst die Leichen sich zu Tausenden stapeln.“ In dem gesamten Bericht aus der zweiten Untersuchungsphase zur Grenfell-Katastrophe taucht der Name des ehemaligen Londoner Bürgermeisters Johnson nicht auf.

Die ehemalige Bewohnerin Natasha Elcock, die ihren Onkel bei dem Feuer verloren hat, verlas eine Erklärung im Namen der Organisation Grenfell United, die einige der betroffenen Familien vertritt. Sie seien „durch kalkulierte Unehrlichkeit und Gier im Stich gelassen worden“, sagte sie. „Der Richter stellt vor allem fest, was wir bereits wussten. Jeder einzelne Verlust von Menschenleben in dieser Nacht war vermeidbar. Menschenleben hatten nie Vorrang, und wir haben Freunde, Nachbarn und geliebte Menschen auf die schrecklichste Weise verloren - durch Gier, Korruption, Inkompetenz und Fahrlässigkeit.“

In der Erklärung heißt es weiter: „Aber Gerechtigkeit wurde nicht hergestellt... Das System ist nicht kaputt, es wurde so gebaut.“

Die Gruppe forderte die Labour-Regierung von Sir Keir Starmer auf, die Empfehlungen umzusetzen, die „bereits drei Jahrzehnte zu spät“ kämen. Am Ende heißt es: „Wir erwarten, dass die Met Police und die Staatsanwaltschaft sicherstellen, dass die wirklich Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gestellt werden.“

Die Brandruine des Grenfell Tower neun Tage nach dem Feuer, 14. Juni 2017 [AP Photo/Frank Augstein]

Im Parlament sprach Starmer händeringend eine Entschuldigung im Namen des britischen Staates“ aus und sagte: „Das hätte nie passieren dürfen.“ Er versprach jedoch lediglich, die 58 Sicherheitsempfehlungen des Berichts zu berücksichtigen und die beteiligten Unternehmen, die Grenfell unsicher gemacht hatten, von weiteren öffentlichen Aufträge auszuschließen.

Die Tatsache, dass sie seit dem Brand weiterhin solche Aufträge erhalten haben und damit ihre Gewinne weiter in die Höhe treiben, ist widerwärtig. Insgesamt umfassten diese Aufträge, einschließlich der Arbeiten für Wohnungsbaugesellschaften, in den letzten fünf Jahren einen Wert von 250 Millionen Pfund.

Im ganzen Land wurden nur 1.088 von 4.374 Gebäuden mit gefährlichen Verkleidungen saniert, so dass Tausende von Menschen weiterhin in Todesfallen leben.

Maria Jafari von der Gruppe Grenfell Next of Kin, die ihren Vater Ali Yawar Jafari bei dem Feuer verloren hat, war in Tränen aufgelöst, als sie den Untersuchungsbericht anprangerte. „Sieben Jahre sind vergangen, und wir haben immer noch keine Gerechtigkeit erfahren, und wir müssen wieder kämpfen. Ich weiß nicht, wie viele Jahre es noch dauern wird, und niemand weiß, ob wir Gerechtigkeit noch erleben werden.“

Hisam Choucair, der sechs Familienmitglieder bei dem Brand verloren hat, sagte: „Diese Untersuchung wurde uns aufgezwungen ... Für mich als direktem Verwandten hat diese Untersuchung nichts gebracht. Im Gegenteil, sie hat die Gerechtigkeit verzögert, die meine Familie verdient.“

Shah Aghlani, der seine Mutter und Tante in Grenfell verloren hat, sagte über die Untersuchung: „Wenn jemand ein System schaffen wollte, das Gerechtigkeit verhindert, hätte man kein besseres System schaffen können als das, was jetzt in Kraft ist.“

Es zeigen sich Gefühle des Widerstands gegen das gesamte offizielle System als Teil einer sorgfältig orchestrierten Reaktion der herrschenden Elite, um die Verantwortlichen für den Brand zu schützen. Diese Opposition wird weiter wachsen.

Die Grenfell-Untersuchung wurde von der Tory-Regierung unter Theresa May einberufen und stützte sich auf das von der Blair-Regierung erlassene Untersuchungsgesetz von 2005, hatte aber „keine Befugnis, die zivil- oder strafrechtliche Haftung einer Person zu bestimmen“. Bis heute wurde keine einzige Person zur Rechenschaft gezogen oder verhaftet, obwohl jeder weiß, wer die Schuldigen sind. Nachdem die Untersuchung ihren Bericht vorgelegt hatte, wiederholte die Metropolitan Police, was sie schon vor Monaten gesagt hatte: dass sie sich nun weitere 12 bis 18 Monate Zeit nehmen müsse, um ihre eigene Untersuchung abzuschließen, und dass sie die Ergebnisse von Moore-Bick „Zeile für Zeile“ prüfen müsse.

Die Socialist Equality Party hat die Familien und Anwohner dazu aufgerufen, nicht an Moore-Bicks Vertuschungsuntersuchung mitzuwirken, und stattdessen gefordert, dass diese langwierige Rechtsverweigerung beendet wird und die Verantwortlichen in Unternehmen und Politik verhaftet, angeklagt und für eines der größten Verbrechen in der modernen britischen Geschichte zur Rechenschaft gezogen werden.

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